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Was bekommt der Wähler?

Am 18. September 2016 sind Duma-Wahlen: sowohl für die Opposition als auch für die Regierungspartei Einiges Russland eine wichtige Wegmarke im aktuellen politischen Geschehen.

Während die untereinander recht zerstrittene liberale Opposition eine Chance aufgreifen möchte, im Parlament vertreten zu sein, geht es für die Regierung darum, ihren Stand zu wahren. Zwar hat sie spätestens seit der Eingliederung der Krim einen sicheren Rückhalt in der Bevölkerung. Dennoch ist ihre Legitimität nach den umfassenden Wahlfälschungen 2011 und den massenhaften Protesten 2011/12 zumindest angekratzt. Dazu kommt die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die sich mittlerweile auch auf die Sozialleistungen und die Renten auswirkt.

Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung am Zentrum für Politische Technologien, analysiert auf Slon.ru das politische Programm der Regierungspartei – und sieht vor allem einen großen Fehler.

Source slon

 „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS

Bald sind Wahlen. Doch die Regierung lässt sich sichtlich Zeit damit, nach der Krim ein neues Programm auszuarbeiten – ein Programm mit einem zukunftsweisenden politischen Vorschlag.

Der Kreml ist mit Außenpolitik beschäftigt, die Wirtschaft überlässt man Theoretikern, die offenbar unfähig sind, sich zu einigen, und in der Innenpolitik herrscht ein Kampf unter Gleichen: um die Rangordnung, nicht um Ideen.

Die Wahlen scheinen zum planmäßigen Routineakt zu werden, und wer immer auch gewinnt, es wird jemand aus dem Putin-Lager sein. Sich in dieser Situation etwas Neues auszudenken, grandiose Pläne und Projekte zu ersinnen, dazu fehlt es an Geld genauso wie an Lust. Es ist nicht nur eine programmatische Krise, es ist ein programmatisches Vakuum.

Man kann natürlich sagen, formal führe die Regierung ihr traditionelles Programm fort: Patriotismus, Souveränität, Erfüllung sozialer Verpflichtungen, Mai-Dekrete (an die man sich plötzlich erinnert), behutsamer Kampf gegen Korruption und sogar eine Entwicklungsstrategie für die nächsten 20 Jahre. Das ist es, was die politische Elite schon die ganzen vergangenen vier Jahre bei Wahlen vorgeschlagen hat. Packen wir noch – beide recht frisch – Krim nasch und die Importsubstitutionen dazu. Dem Volk gefällt’s. Und formal ist das natürlich ein Programm. Aber faktisch nicht.

Die Ideologie der „belagerten Festung“, Isolationstendenzen, Abstriche in der Ukraine, die schwache Verhandlungsposition gegenüber dem Westen bei zunehmender hurra-patriotischer Rhetorik – all das ist eine Art Anpassung der Elite an die neue Wirklichkeit, in der für das einfache Volk praktisch kein Platz bleibt.  

Buchstäblich das gesamte Programm von heute betrifft den staatlichen, nicht den privaten Bereich. Was hat die Regierung bei den Wahlen heute der Großmutter und dem Großvater, dem Arbeiter und Bauern, dem Angestellten und Unternehmer de-facto denn anzubieten?

Das aktuelle politische Programm, mit dem die Staatsmacht zur Wahl antritt, ist diktiert von den Umständen und der objektiven Realität, in der zu leben die Regierungselite gezwungen ist. Die Schlüsselpunkte dieses Programms bedeuten, dass der Vertrag zwischen Gesellschaft und Staatsmacht neu geschrieben werden muss.

Soziale Askese

Punkt eins dieses Vertrags ist die soziale Askese. „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, so lautet eine absolut nicht zufällige rhetorische Entgleisung  Dimitri Medwedews, die umgehend Wladimir Putins Unterstützung fand. Die Rentenerhöhung erfolgt nach dem Prinzip „was übrig bleibt“, die Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst kommt irgendwann später.

Am Essen zu sparen ist gesund, echt russisch und richtig patriotisch. Der TV-Sender Erster Kanal berichtet dann, wie die westliche Konsumgesellschaft mit ihrer zu 70 % übergewichtigen Bevölkerung vor sich hin fault. „Friss Ananas, Bourgeois, und Haselhuhn, wirst bald deinen letzten Seufzer tun“ – das ist im heutigen Russland durchaus aktuell.

Geld haben wir keins, und das wird sich auch nicht ändern: Diese Botschaft sendet die Regierung dem Volk, ohne sich dafür zu genieren oder sie wenigstens schön zu verpacken. Und noch ist das Volk bereit mitzumachen.

„Putinisierung” der Elite

Punkt zwei ist die Putinisierung der Elite. Bis 2014 sah die Machtkonstruktion des Regimes so aus: Auf der einen Seite stand Putin als alleiniger Herrscher, der das gesamte System legitimierte, auf der anderen Seite das Volk, das damit einverstanden war. Nach 2014, als gegen Russland Sanktionen verhängt wurden, wandelte sich „Putin“ von einem Personen- zu einem System-Phänomen. Zum nationalen Leader gesellt sich die „politisch verantwortliche Elite“, Putins Patrioten.

Immer bemüht, seine Mitstreiter vor Sanktionen zu bewahren, muss Putin seine Legitimität nun mit einer beachtlichen Anzahl von Personen in seinem Umfeld teilen: mit den Rotenbergs, den Kowaltschuks, mit Timtschenko und Roldugin. Gern und freimütig teilt Putin seine Legitimität mit Leuten, die sehr bald zu renommierten Plünderern der Erfolge seiner Ära werden könnten.

Für den einfachen Menschen hat diese einseitige Abänderung des Gesellschaftsvertrags auch eine ganz praktische Bedeutung. Die zeigt sich  etwa am Phänomen des Systems Platon, das öffentlich und unmissverständlich vom Präsidenten unterstützt wird.             

Der Krieg

Punkt drei ist der Krieg: Ein nicht erklärter hybrider Krieg gegen Russland, angezettelt von den Ländern des Westens beziehungsweise von den USA und ihren willenlosen Bündnispartnern. Man könnte meinen, genau hier gehe es um staatliche Interessen. Aber nein, hier doch gerade nicht. Der Staat stellt sich da ganz fest hinter die Interessen des Durchschnittsrussen, um ihn vor dem zersetzenden Einfluss des Westens zu beschützen.

Beschränkungen bei Auslandsreisen, Rechenschaft über ausländische Konten bei der Steuerbehörde, verschärftes Strafmaß bei Teilnahme an Protestaktionen, strafrechtliche Verfahren wegen Weiterverbreitung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, Kündigung von Arbeitsplätzen aufgrund politischer Meinungen, das Sperren von Websites der Nicht-System-Opposition, eine kritische Einschränkung von Qualitätsjournalismus zu Politik und Wirtschaft: Der Krieg aus dem Fernsehen greift langsam aber sicher auf das Privatleben zwar nicht aller, aber vieler über.

Natürlich will heute keine Mehrheit gegen Putin protestieren. Auch vor fünf Jahren wollte sie das nicht – hätte aber protestieren können. Ja, heute verachtet die Mehrheit die Liberalen – aber vor fünf Jahren konnte man noch wählen zwischen hurra-patriotischen Medien und einer [unabhängigen – dek] Qualitätspresse. Wenn man sich heute in seiner Auswahl einschränkt, dann nicht mehr freiwillig, sondern gezwungenermaßen.

Perfektionierung des Systems

Der vierte Punkt ist, dass man das bestehende System perfektioniert, anstatt es zu verändern. Gleich wird’s mit der Wirtschaft bergauf gehen, das Schlimmste liegt hinter uns (und überhaupt war das nicht unsere Schuld), die Inflation sinkt. In der Politik läuft der demokratische Wettbewerb auf vollen Touren: zwischen der Gesamtrussischen Nationalen Front (ONF) und Einiges Russland (ER), innerhalb der Partei ER selbst, zwischen ONF und unabhängigen Kandidaten für Putin, zwischen unabhängigen Kandidaten für Putin und ER. Beinahe ein perfektes politisches System, beinahe eine effiziente Wirtschaft. „Bei uns ist alles gut“, das sagt Putin dem Volk seit drei Jahren.    

So mancher könnte glauben, auf dem Programm stünden Reformen, doch das ist ein Irrtum: die Einbeziehung Kudrins in den Wirtschaftsrat ist nicht mehr als eine Suche nach politisch schönen Ideen. Sie zeugt aber nicht von irgendeinem Willen zur Veränderung.

Objektiv gibt es kein einziges Signal, nicht den winzigsten Hinweis darauf, dass Putin zu einer tatsächlichen Transformation des Systems bereit wäre: zu Justizreformen, dem Schutz der Eigentumsrechte, zur Entwicklung von wirtschaftlichem Wettbewerb, zur Auflösung der Monopole  und realer Privatisierung (statt Minderheitsanteile an Freunde und Bündnispartner zu verkaufen).

Nicht nur, dass der konservative Trend dem reformativen nicht weicht, er gewinnt vielmehr noch an Stärke dazu. Seine relative Vervollkommnung lässt sich für den gewöhnlichen Russen leicht in eine bodenständigere und einfachere Form bringen. Das bedeutet dann ungefähr Folgendes: Radikale Veränderungen wird es in eurem Leben keine  geben, auf den Staat könnt ihr nicht zählen. Sogar die Renten sollte man besser selber ansparen – es geht also um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Szenarien von Gegenreformen des Rentensystems.  

Dummköpfe und Straßen

Schließlich Punkt fünf – der einfachste und vertrauteste: Er betrifft Dummköpfe und Straßen. Die Dummköpfe – das sind Sündenböcke, die strafrechtlich und öffentlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie helfen dem Regime dabei, Ballast abzuwerfen: verfolgte Gouverneure, verhaftete Bürgermeister, mit Geldstrafen belegte Unternehmer, die Gehälter nicht auszahlen. Hinzu kommt als Drauf- und Dreingabe auf jeden Fall die Festnahme von Ganoven, wie die des Sohns vom Lukoil-Vizepräsidenten.

Diese lokal begrenzten Einzelfälle werden künstlich hochstilisiert und dem Regime zu Gute gehalten. Doch so ist es nicht: Das Regime ist nicht nur nicht bereit, Korruption systematisch zu bekämpfen. Es hält das sogar für gefährlich.         

Abschließend die Straßen. Doch in Kombination mit den Dummköpfen will einfach kein schönes Bild entstehen: Nicht nur die Demokratie westlicher Ausprägung kann sich in Russland nicht festsetzen, auch dem Asphalt gelingt das nicht. Das hindert aber niemanden daran, die Straßensanierung zur nationalen Idee 2016 zu erklären, auch wenn die Dimensionen kleiner werden (2007 gab es die „Nationalen Projekte“, 2012 die Mai-Dekrete).

Und wenn es keine Proteste gegen Platon gegeben hätte, wäre man nicht einmal bis zu den Straßen gekommen: Erst die Reaktionen darauf erzeugten den Wirbel um die Straßen, der dann die Regionen erfasst hat. Nach dem Direkten Draht mit Putin, bei dem die Straßensanierung endgültig zur Idée fixe wurde, wurde demonstrativer Feuereifer auf diesem Gebiet zur Grundvoraussetzung für das politische Überleben regionaler und lokaler Obrigkeiten. Straßen wird es vielleicht nie geben, Baustellen dafür überall.

Das Besondere an den Wahlen 2016 wird sein, dass die Staatsmacht mit einem Programm zum Schutz staatlicher Interessen antreten wird, wodurch die Interessen der Bürger praktisch vollständig verdrängt werden. Die Wähler sind weg und ihre Probleme ebenso – sogar sich zu beklagen wird gefährlich. Ein echtes Programm wurde durch ein notdürftiges Lunchpaket ersetzt, das nur minimale politische Notwendigkeiten erfüllt.

Versprechen wird man aber wie immer viel, großzügig und vor allem abstrakt. 2016 wird das Jahr, in dem sich der Unterschied zwischen dem Fernsehrussland und dem echten Russland deutlich herausbilden wird; zwischen einem angekündigten Programm und einem, das objektiv zustande kommt. So beginnt der moralische Verschleiß des Regimes.

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Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

Gemeinhin gilt der Machtantritt Wladimir Putins zur Jahrtausendwende als historischer Wendepunkt in der jüngsten politischen Geschichte Russlands – auch bezüglich des Parteiensystems. Hatten sich in der politischen Landschaft zuvor zahlreiche Parteien, Wahlallianzen und politische One-Hit-Wonder getummelt, so schnitt Putin diesen Pluralismus auf ein Minimum konformer Scheinalternativen zurück. Seither bestimmt er ohne ernsthafte Konkurrenz die Politikgestaltung.

So viel Wahres in dieser klassischen Erzählung steckt, so lässt sie doch einiges außer Acht. Um die fundamentale Umbildung der Parteienlandschaft zu ermöglichen, brauchte es mehr als autoritäre Ambitionen – das historische Erbe der Sowjetunion, die spezielle Struktur der russischen Verfassung und nicht zuletzt ein weit verbreitetes Bedürfnis nach einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse waren wichtige Einflussgrößen auf dem Weg zum heutigen hierarchischen Parteiensystem.

Die historisch orientierte politische Soziologie erklärt die Entstehung von Parteien als Prozess jahrzehntelanger Kämpfe zwischen Gruppen mit diametral entgegengesetzten Interessen – Arbeiter und Kapitaleigner, Säkulare und Kleriker, Stadt- und Landbewohner. Wie sich diese Konflikte jeweils in Parteien übersetzen, liegt laut dieser „Cleavage-Theorie“ darin begründet, wie Gesellschaften jeweils mit zentralen historischen Momenten umgegangen sind – etwa der Reformation, der französischen Revolution und der Industrialisierung.1

Hier zeigt sich bereits, dass sich solche Theorien auf Russland nicht einfach übertragen lassen – schließlich waren hier ganz andere Umwälzungen von Bedeutung. Die zweifellos wichtigste, die Revolution von 1917, hatte allerdings weniger eine klare Konfliktlinie als vielmehr die Auslöschung des öffentlichen politischen Kampfes zur Folge.2 So ist es nicht verwunderlich, dass Parteien im heutigen Russland etwas grundlegend anderes sind als in westeuropäischen Staaten. Auch damit lässt sich erklären, wie die Parteienlandschaft im Laufe der 2000er zu dem werden konnte, was sie ist.

Parteienlandschaft der 1990er Jahre

Als während der Perestroika die politischen Gruppen aus dem Boden schossen und sich nach dem Zerfall des Staates zu Parteien vereinigten, konnte sich kaum eine auf etablierte Strukturen stützen.3 Die Kombination aus fehlender gesellschaftlicher Verwurzelung und dem zielgerichteten Einsatz von Medien für politische Grabenkämpfe führte dazu, dass viele politische Projekte hochgradig personenfixiert und außerdem oft kurzlebig waren. In den 1990er Jahren war die politische Landschaft derart wechselhaft, dass die Hälfte der Wähler ihre Partei auf dem Stimmzettel der nächsten Wahlen nicht mehr wiederfand.4

Die Verfassung von 1993 tat ihr Übriges. Sie konzentrierte die Macht in den Händen des Präsidenten und sah keine aktive Rolle für Parteien in der Regierungsbildung vor.
Auch die Wahlgesetze waren teilweise nicht förderlich für die Entwicklung von starken, unabhängigen Parteien: Die Möglichkeit der unabhängigen Kandidatur, verbunden mit schwachen nationalen Parteiorganisationen, führte dazu, dass sich viele aufstrebende Politiker an Unternehmer oder regionale Verwaltungschefs wandten, um Unterstützung für ihre Kampagnen zu erhalten. Dies schuf nicht nur entsprechende Loyalitäten und Unübersichtlichkeit im Parlament, sondern führte auch zu einer weiteren Marginalisierung von Parteien im politischen Betrieb.

Die Vielfalt der politischen Alternativen wurde nicht beschränkt; gleichwohl war dieser Pluralismus aufgrund fehlender identifikationsstarker Parteien (die KPRF ausgenommen) kein Zeichen für eine funktionierende Demokratie. Im Gegenteil: Politik galt und gilt noch immer als schmutziges Geschäft, der Machtkampf als politisches Theater ohne Bezug zur Lebensrealität der Menschen, Politiker gelten grundsätzlich als korrupt und eigennützig.

Reformen der frühen Putin-Ära

Einige Beobachter begrüßten daher die Reformen der frühen Putin-Ära als ernsthafte Bemühungen, aus den zahllosen Gruppen ein stabiles Parteiensystem nach europäischem Muster zu formen.5 Andere hingegen sahen bereits im Jahr 2001 voraus, dass sich Russland abermals in Richtung der Ein-Parteien-Herrschaft bewegen könnte6 – und sie sollten Recht behalten.

Der neue Ministerpräsident Wladimir Putin gab kurz vor den Parlamentswahlen 1999 seine Unterstützung für die Partei Einheit bekannt. Diese war wie zahlreiche andere Parteien ideologisch weitgehend unbestimmt und nicht in der Gesellschaft verwurzelt, doch Putins Popularität verhalf ihr zu einem ersten Sieg.7 Rasch wurde sie zur Basis der neuen „Partei der Macht“ – Einiges Russland.

Bei der nachfolgenden Reorganisation des Parteiensystems waren vor allem drei Faktoren ausschlaggebend:

Erstens dünnten restriktive Änderungen im Parteien- und Wahlgesetz das Feld politischer Alternativen nach und nach aus. Zwischen 2005 und 2009 reduzierte sich die Zahl der registrierten Parteien von 37 auf 6.8

Zweitens unterstützte der Kreml gezielt die Schaffung kleiner linker Parteien, die der KPRF die Wählerstimmen abspenstig machen sollten. So entstand zunächst der linksnationale Rodina-Block und später die sozialdemokratische Partei Gerechtes Russland.

Drittens schließlich wurde die Registrierung von Parteien und Kandidaten, die die hohen gesetzlichen Hürden überwunden hatten, oft vorgeblich aus formalen Gründen nicht erteilt.9

Hierarchisches Parteiensystem: Einiges Russland an der Spitze

So bildete sich bis etwa 2007 ein hierarchisches Parteiensystem heraus, in dem Einiges Russland unangefochten die Politik bestimmt. In den Parlamenten sind außerdem die KPRF, die LDPR und Gerechtes Russland vertreten, die sich in einem diffizilen Balancespiel aus rhetorischer Opposition und de-facto-Loyalität bewegen.

Dieses Dilemma wird als Preis dafür betrachtet, dass sie in den politischen Institutionen mitspielen und die Vorteile dieses privilegierten Status genießen dürfen. Sie wirken zugleich als Puffer der Regierungspartei, indem sie unzufriedene Wähler auffangen und von umstürzlerischen Alternativen fernhalten. Liberale Gruppen wie die Partei Jabloko oder PARNAS dümpeln hingegen an den Rändern des politischen Systems.

Wenn auch nach den Protesten der Jahre 2011 und 2012 die Regeln zur Registrierung von Parteien wieder etwas gelockert wurden: Im Kreml muss man sich zurzeit keine Sorgen machen, dass das etablierte Arrangement in naher Zukunft ernsthaft gestört werden könnte. Zu fest ist die Kontrolle der politischen Meinungsbildung (und Desinformation) über kremltreue Medien, zu schwach und zerstritten sind liberale und andere alternative Strömungen.

Politischer Wandel ist – wenn überhaupt – eher von innen zu erwarten, etwa durch Verlagerungen der Interessen und Loyalitäten innerhalb der Regierungspartei und dem engsten Zirkel der Macht.


1.Für die klassische „Cleavage-Theorie“ siehe: Lipset, Seymour Martin / Stein, Rokkan (1967): Party systems and voter alignments: cross-national perspectives, Free Press
2. Der politische Kampf fand innerhalb der KPdSU statt und gelangte selten an die Öffentlichkeit.
3.Eine Ausnahme bildete die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die im Jahr 1992 aus der Vereinigung reaktivierter KPdSU-Lokalgruppen entstand. Die meisten anderen Parteien mussten von vorn beginnen.
4.Rose, Richard (2001): How floating parties frustrate democratic accountability, in: Brown, Archie (Hrsg.): Contemporary Russian Politics – A Reader, Oxford, S. 215–222
5.Siehe dazu den Artikel von Vladimir Gelman, der auch insgesamt einen guten Überblick über die Wandlung des Parteiensystems gibt: Gelman, Vladimir (2006): From ‘Feckless Pluralism’ to ‘Dominant Power Politics’? The Transformation of Russia’s Party System, in: Democratization, 13(4), S. 545-561
6.McFaul, Michael (2001): Explaining Party Formation and Nonformation in Russia Actors, Institutions, and Chance, in: Comparative Political Studies, 34(10), S. 1159-1187
7. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die geschickt lancierte Diffamierungskampagne in regierungstreuen Medien gegen die Herausforderer Jewgeni Primakow und Juri Lushkow. Siehe dazu die Gnose zur Partei Einiges Russland.
8.Golosov, Grigorii (2014): Co-optation in the process of dominant party system building: the case of Russia, in: East European Politics, 30(2), S. 271-285
9.Gelman, Vladimir (2008): Party Politics in Russia: From Competition to Hierarchy, in: Europe-Asia Studies, 60(6), S. 913-930
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LDPR

Die 1991 gegründete Liberal-demokratische Partei Russlands (LDPR) besitzt trotz ihrer Bezeichnung eine nationalistisch-rechtspopulistische Ausrichtung. Ihr Gründer und Vorsitzender ist Wladimir Shirinowski, der regelmäßig mit extremen und provokativen Aussagen für Aufsehen sorgt.

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Jedinaja Rossija

Die Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit.

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KPRF

Die KPRF ist die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Sie ist die direkte Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und orientiert sich politisch an einem sozialistischen Kurs, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht jedoch auch von ihrer Vorgängerin. Bei den letzten Parlamentswahlen 2016 erreichte die KPRF 13,3 Prozent der Wählerstimmen und bleibt damit die größte Oppositionspartei im Parlament.

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Staatsduma

Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Premierminister

Der Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich.

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