Nach der Dumawahl am Sonntag sind – wie schon seit 2011 – vier Parteien im russischen Parlament vertreten: die Kremlpartei Einiges Russland, die Kommunistische Partei (KPRF), die nationalkonservative Liberaldemokratische Partei (LDPR) und die linke Partei Gerechtes Russland. Mit insgesamt 343 von 450 Mandaten erhält Einiges Russland die meisten Sitze im Parlament. Dieses Ergebnis galt als erwart- und vorhersehbar. Präsident Wladimir Putin ließ nach Bekanntgabe der Stimmanteile verlautbaren, die Menschen hätten gespürt, dass gesellschaftliche und politische Stabilität gebraucht würde.
Nach der Wahl ist vor der Wahl? An der politischen Kräfteverteilung hat sich nichts Wesentliches geändert, mit dem Unterschied, dass Einiges Russland nun sogar eine Zweidrittelmehrheit innehat. Die Systemopposition teilt sich untereinander ihre Plätze lediglich etwas anders auf. In der Presse wurde daher vor allem diskutiert, welche Signalwirkung davon ausgeht – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Fälschungsvorwürfe laut wurden und die Wahlbeteiligung nach aktuellem Stand bei nur 47,81 Prozent lag.
Komsomolskaja Prawda: Kein Anlass zur Euphorie
Der Chefredakteur der regierungsnahen Komsomolskaja Prawda, Wladimir Sungorkin, geht auf die sinkende Wahlbeteiligung ein und führt sie darauf zurück, dass es kein Vertrauen in den Wahlmechanismus gebe.
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Mich beunruhigt diese Euphorie von Einiges Russland. Ihr glaubt doch nicht etwa wirklich an das, was ihr sagt? [...] Ihr sagt, das Volk habe für Einiges Russland gestimmt. Nun mal langsam. Ein gewisser Teil hat für Einiges Russland gestimmt. Kein großer. Das kann man leicht nachrechnen. Ungefähr 20 Millionen von 145 Millionen haben Einiges Russland gewählt. Über die Hälfte der Wahlberechtigten sind nicht zur Wahl gegangen. Wir verlegen uns auf Schamanismus: In Frankreich sind sie weggeblieben, in Deutschland sind sie weggeblieben. Hört mal, aber wir sind hier nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Meine Bewertung fällt so aus: Ein riesiger Teil der Bevölkerung ist nicht hingegangen, weil er keinerlei Vertrauen in die Wahlen hat. Er geht nicht hin, weil er nicht daran glaubt. Ich denke, es gibt keinen Grund zur Euphorie.
Меня тревожит такая эйфория «Единой России». Неужели вы действительно верите в то, что вы говорите? [...] Вы говорите, что народ проголосовал за «Единую Россию». Давайте как-то осторожнее. Некая часть народа проголосовала за «Единую Россию». Она небольшая. Это же в пределах арифметики. Примерно 20 миллионов из 145 миллионов населения России проголосовало за «Единую Россию». Больше половины избирателей не пришли. Мы начинаем шаманствовать: во Франции тоже не пришли, и в Германии не пришли. Слушайте, у нас далеко не Франция и не Германия. Мое оценочное суждение: огромная часть населения не пришла, потому что абсолютно не доверяет выборному механизму. Она не идет, потому что не верит. Я считаю, что поводов для эйфории нет.
Slon: „Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten“
Andrej Archangelski findet, es habe bei der Dumawahl lediglich eine „Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten“ bestanden. Auf dem unabhängigen Magazin Slon fragt er sich, wie sich das auf die Psyche der Wähler auswirkt.
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Das Besondere an dem aktuellen Wahlkampf bestand darin, dass
formal die Wahlmöglichkeiten zugenommen hatten (bei den vorigen Wahlen war die Einstiegshürde für die Parteien höher und es gab keine Einerwahlkreise). Doch sowohl bei den vergangenen als auch bei diesen Wahlen hat im Endeffekt das grundlegende Prinzip gesiegt, das wir als „Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten“ bezeichnen – wenn jedwede Verhaltensstrategie des Wählers das Ergebnis nicht grundlegend beeinflussen kann. Das versetzt jedes Mal insbesondere dem moralischen Zustand der Gesellschaft einen derben Schlag und erzeugt weiteren Unglauben und Apathie.
Специфика нынешней выборной кампании в том, что формально возможности выбора стали шире (на прошлых выборах был выше проходной барьер для партий и не было одномандатников). Но и на прошлых, и на этих выборах побеждает в итоге все тот же базовый принцип, который мы назовем «ситуацией плохого выбора», когда любая альтернативная стратегия поведения избирателя на выборах не может принципиально повлиять на конечный результат. Это всякий раз сильно бьет именно по моральному состоянию общества и порождает еще большее неверие и апатию.
Izvestia: Wie es in einem demokratischen Land sein soll
In der kremlnahen Zeitung Izvestia sieht der Politikwissenschaftler Alexej Martynow Russland dagegen im Kreis lupenreiner Demokratien angekommen. In denen das Volk naturgemäß der Souverän sei.
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Trotz trüber Prognosen einiger unzufriedener Polittechnologen waren diese Wahlen geprägt von spannenden Kämpfen, dramatischen Situationen und scharfer Konkurrenz. Außerdem bemerkten alle Beobachter und Experten eine völlig neue Qualität des Wahlprozesses und des Wahlkampfs selbst. [...] Insgesamt ist die Demokratie in Russland herangereift. Zu einer anerkannten Notwendigkeit. Wahrscheinlich ist bei den jetzigen Parlamentswahlen der Wähler zu einem der wichtigsten Teilnehmer geworden. So, wie sich das in einem demokratischen europäischen Land gehört.
Вопреки унылым прогнозам некоторых неудовлетворенных политтехнологов эти выборы оказались отмечены высоким накалом борьбы, драматичными ситуациями и острой конкуренцией. Кроме того, все наблюдатели и эксперты отмечают совершенно новое качество выборного процесса и самой предвыборной кампании. [....] В целом демократия в России повзрослела. Стала осознанной необходимостью. Наверное, одним из главных участников прошедших парламентских выборов стал избиратель. Как и должно быть в демократической европейской стране.
Nesawissimaja Gaseta: Bodensatz bleibt haften
Alexej Gorbatschow, Beobachter der Nesawissimaja Gaseta, hat beim Verfolgen der medialen Berichterstattung zwei völlig verschiedene Wahltage erlebt.
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Wie zu erwarten, entfernten sich Regierungsvertreter und Opposition im Laufe des Wahltages immer weiter voneinander in ihrer Bewertung über den Verlauf der Abstimmung. Auch in den Medien wurden unterschiedliche Bilder gezeichnet. Während die staatlichen Sender Berichte über einen ruhigen, ja geradezu feierlichen Tag brachten, wimmelte es im Internet und in den sozialen Netzwerken von Meldungen über Verstöße. Insgesamt gab es nur geringfügig weniger Informationen über den massiven zusätzlichen Stimmeinwurf oder die berühmten
Wähler-Karussels als im Jahr 2011. [...]
Как и полагается, представители власти и оппозиции в течение дня существенно расходились в оценках хода голосования. Разные картинки предоставила и медиасфера. Если на госканалах звучали рапорты о спокойном и даже праздничном дне, то Интернет и соцсети были забиты сообщениями о нарушениях. Судя по всему, информации о пресловутых вбросах и «каруселях» окажется лишь немногим меньше, чем в 2011-м. [...] В общем, уже можно сделать предварительный вывод о том, что идеальной кампании, конечно, не получилось. Указания Кремля о конкурентных, открытых и легитимных выборах, как и предполагалось, хроника 18 сентября сильно портит. И хотя большая часть сообщений о нарушениях или не подтвердится, или будет проигнорирована, а то и просто замолчена, но осадок, как говорится, все равно останется.
Lilia Shevtsova (facebook): Fake-Vertretung
Die renommierte Politikwissenschaftlerin Lilia Shevtsova schreibt auf ihrer facebook-Seite, die Verbindung zwischen Volk und Volksvertretung sei seit langem abgerissen. Der Graben vertiefe sich nach dieser Wahl.
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Einen RISS. Genau den wird die Siebente Duma demonstrieren. Den Riss zwischen der neuen Realität des Landes, das immer tiefer in die Krise gleitet, und den Versuchen des Kreml, Stabilität zu wahren. Die verrostete parlamentarische Konstruktion entspricht schon seit langem nicht mehr den gesellschaftlichen Anforderungen. Sie könnte noch eine Zeit lang weiterrosten. Doch wird die Duma heute potenziell zu einem revolutionären Faktor – weil sie eine Fake-Vertretung darstellt. Die Gesellschaft wird in dieser Situation wachsender Unzufriedenheit dazu gezwungen sein, ihre Interessen auf der Straße zu formulieren – weil sie legaler Kanäle zur Durchsetzung ihrer Interessen beraubt ist. Und die Regierung weiß das sehr wohl. Warum sonst sollte sie schon im Vorwege ein repressives Verteidigungssystem geschaffen haben? [...] Also haben wir es gerade mit dem letzten Atemzug der „parlamentarischen Stabilität” zu tun. Und er wird in die Geschichte eingehen als Beispiel für die Diskreditierung des Parlamentarismus.
РАЗРЫВ. Именно это будет демонстрировать седьмая Дума. Разрыв между новой реальностью страны, все глубже вползающей в кризис, и попытками Кремля сохранить стабильность. Заржавевшая «парламентская» конструкция давно уже не отвечает запросам общества. Она могла бы еще какое-то время ржаветь и дальше. Но сегодня Дума потенциально становится революционным фактором – в силу своей функции фейкового представительства. Общество в ситуации нарастающего недовольства и не имея легальных каналов защиты своих интересов, будет вынужденно выражать свои интересы через улицу. Впрочем, власть это понимает. Иначе зачем заранее создавать репрессивную систему обороны? [...] Так, что мы имеем дело с последним вздохом «парламента стабильности». И он останется в истории, как пример дискредитации парламентаризма.
Rossijskaja Gaseta: Die Gesellschaft akzeptiert das System
Leonid Radsichowski, Kolumnist der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta, meint, dass das System die heutige Duma reproduziert habe und die Gesellschaft damit einverstanden sei:
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Man kann durchaus sagen, dass die Duma die Hürde des Wahlkampfs überwunden hat und dabei nicht mit dem Fuß hängengeblieben ist: Das System hat sich selbst reproduziert, hat die heutige Duma reproduziert. [...] Die Gesellschaft, die in Russland existiert (die Mehrheit), akzeptiert das Parteiensystem (und auch das politische System insgesamt), das wir haben. Genau wie auch die Gesellschaften in den anderen Ländern des Westens und Ostens mit ihrem politischen und ihrem Parteiensystem faktisch einverstanden sind. Die Systeme unterscheiden sich, die Gesellschaften unterscheiden sich, die Vorstellungen von Wettbewerb unterscheiden sich, das Zusammenspiel zwischen Verwaltungssystem, politischem System und Gesellschaft ist ein jeweils anderes, aber in jedem existierenden stabilen Staat gibt es ganz offensichtlich eine ENTSPRECHUNG zwischen der Gesellschaft und dem System. Und die heißt Gesellschaftsvertrag – entweder ist er schriftlich niedergelegt in Gesetzen oder er existiert als stillschweigende Übereinkunft.
Можно сказать, что Дума перепрыгнула через веревочку выборов, и ножкой не зацепив, Система воспроизвела себя, воспроизвела сегодняшнюю Думу. [...] Общество, существующее в России (большинство), принимает ту партийную Систему (как и в целом политическую Систему), которая есть. Так же как общества в других странах Запада и Востока по факту устраивает их партийно-политическая Система. Системы - разные, общества - разные, представления о конкуренции - разные, соотношение "Административная Система - Политическая Система - Общество" - в каждом случае разное, но в каждом стабильно существующем государстве, есть, видимо, СООТВЕТСТВИЕ между Обществом и Системой. Вот такой Общественный Договор - или записанный в законах, или "по умолчанию".
dekoder-Redaktion