Fast wäre Andrej Ischtschenko Gouverneur geworden. Gouverneur des Primorski KraiPrimorski Krai (dt. Region Primorje) ist ein Föderationssubjekt im äußersten Südosten Russlands. Die Region um das Verwaltungszentrum Wladiwostok grenzt an China und Nordkorea. Rund zwei Millionen Menschen leben dort auf einer Fläche von rund 45 Prozent des deutschen Staatsgebiets. mit der Hauptstadt WladiwostokWladiwostok ist eine Hafenstadt mit rund 600.000 Einwohnern im Fernen Osten Russlands. Unweit der Grenze zu China und Nordkorea gelegen, ist die östlichste Großstadt Russlands das Zentrum des Föderationskreises Ferner Osten. Wladiwostok ist ein wichtiger Verkehrsknoten internationaler Bedeutung: Hier befindet sich die Endstation der Transsibirischen Eisenbahn, ein Seehafen, ein internationaler Flughafen und wichtige Fernverkehrsstraßen. Laut offizieller Angabe beträgt das Fahrgastaufkommen am Wladiwostoker Bahnhof mehr als 20 Millionen Passagiere pro Jahr. im Fernen Osten Russlands. Nachdem am Einheitlichen Wahltag am 9. SeptemberWahlen und Proteste Der sogenannte Einheitliche Wahltag im September 2018 war geprägt von Wahlen und von Protesten gegen die Rentenreform. dekoder bringt kurze Analysen, Fotos von russlandweiten Protestveranstaltungen und eine Infografik, die Einblicke ins Moskauer Wählerverhalten gibt.
keiner der Kandidaten dort eine absolute Mehrheit erzielen konnte, kam es am Sonntag zur Stichwahl zwischen Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen ParteiDie KPRF ist die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Sie ist die direkte Nachfolgeorganisation derKommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und orientiert sich politisch an einem sozialistischen Kurs, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht jedoch auch von ihrer Vorgängerin. Bei den letzten Parlamentswahlen 2016 erreichte die KPRF 13,3 Prozent der Wählerstimmen und bleibt damit die größte Oppositionspartei im Parlament. Mehr dazu in unserer Gnose und dem Interims-Amtsinhaber Andrej Tarassenko von Einiges RusslandDie Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit. Mehr dazu in unserer Gnose. Während der Auszählung sah es die meiste Zeit gut aus für den Kommunisten – doch dann änderte sich das Ergebnis schlagartig.
Source
Ein Kommunist als Gouverneur – das wäre im gegenwärtigen Russland eine Sensation gewesen. Von den über 80 Föderationssubjekten werden die allermeisten von Mitgliedern der Machtpartei Einiges Russland geführt, nur zwei Gouverneure sind dagegen von der KPRF.
Nun sah es lange so aus, als würde mit Andrej Ischtschenko ein dritter dazu kommen. Als 95 Prozent aller Protokolle aus den Wahllokalen ausgewertet waren, führte Ischtschenko noch mit fast 6 Prozentpunkten Abstand gegenüber seinem Kontrahenten Tarassenko (51,6 Prozent zu 45,8 Prozent). Medienberichten zufolge gab es später über eine Stunde lang keine Aktualisierungen mehr auf der Seite der Zentralen WahlkommissionDie Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (russisch: Zentralnaja Isbiratelnaja Komissija Rossiskoi Federazii; ZIK) ist ein staatliches Verwaltungsorgan, das sich mit der Organisation und Durchführung der Wahlen befasst. Vor dem Hintergrund der Dumawahl 2011 wurde die ZIK von der Opposition mit massiven Fälschungsvorwürfen konfrontiert. Mit dem Abgang des ZIK-Leiters Wladimir Tschurow im März 2016 zeichneten sich im Vorfeld der Dumawahl 2016 Reformbestrebungen ab. Mehr dazu in unserer Gnose.
Bei einem Auszählungsstand von 99 Prozent aller Protokolle sah das Ergebnis jedoch ganz anders aus: Plötzlich lag Interims-Amtsinhaber Tarassenko vorn. Im vorläufigen Endergebnis wird dessen Stimmanteil mit 49,55 Prozent angegeben, der von Ischtschenko mit 48,06 Prozent. Das bedeutet, dass die neuen bzw. geänderten Ergebnisse aus nur einer Handvoll Wahllokalen den plötzlichen Sprung im Gesamtergebnis verursacht haben. Welche das sind, lässt sich in unserer Karte mit der entsprechen Filterauswahl nachvollziehen:
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Die Auswahl „Neue Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren Protokolle um 6:41 Uhr Moskauer Zeit erstmals in der Gesamtrechnung berücksichtigt wurden. „Geänderte Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren bereits berücksichtigte Protokolle noch nachträglich umgeschrieben wurden. Dargestellt sind 1310 von 1537 Wahllokalen – für die fehlenden lagen keine Koordinaten vor. Quelle: ZIK
Die KPRF spricht von WahlfälschungenWahlfälschungen sind Wahlmanipulationen entgegen demokratischen Prinzipien. Nachdem im Dezember 2011 zahlreiche Wahlbeobachter über massive Fälschungen bei der Dumawahl berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion und forderte eine Untersuchung der Vorwürfe. Bei der Dumawahl 2016 stellten Wahlbeobachter weniger Unregelmäßigkeiten als 2011 fest, verwiesen zugleich jedoch auf einen hohen Einfluss der Administrativen Ressource. Mehr dazu in unserer Gnose, ihr Kandidat Ischtschenko hat auf seiner Facebook-Seite zum Protest aufgerufen und einen Hungerstreik verkündet. Auch Wahlanalysten äußern Zweifel an einem regelkonformen Zustandekommen eines solch abrupten Wechsels in den Ergebnissen. So schreibt etwa Alexander Kirejew auf seinem Blog: „Genau so sieht es aus, wenn Wahlergebnisse nachträglich umgeschrieben werden.“
Der Physiker Sergej SchpilkinDer Physiker Sergej Schpilkin (geb. 1962) analysiert seit 2007 Wahlen und zeigt mit statistischen Methoden die Wahrscheinlichkeit von Wahlfälschungen auf. Für seine Berechnung von statistischen Unregelmäßigkeiten bei der Dumawahl 2011 wurde er von der Moskauer Wissenschaftsstiftung Liberale Mission mit dem PolitProswet-Preis ausgezeichnet. , der auch schon Unregelmäßigkeiten etwa bei der Dumawahl 2016Ist was faul an der Kurve? Wahlfälschungen mit statistischen Methoden enthüllen – das hat sich der Physiker Sergej Schpilkin zur Aufgabe gemacht. In einem Interview mit der Novaya Gazeta stellt er das offizielle Ergebnis der Dumawahl radikal in Frage. oder der diesjährigen PräsidentschaftswahlInfografik: Dumawahl 2016 Mit der Dumawahl 2016 hält Einiges Russland nun die Zweidrittelmehrheit. Die Neuerungen im Wahlmodus bevorteilten die Machtpartei genauso wie die niedrige Wahlbeteiligung. Diese ist zugleich auf einen Tiefstand von 48 Prozent gesunken – mögliche Wahlfälschungen nicht eingeschlossen. publik gemacht hatte, weist auf Besonderheiten in der Stimmverteilung hin. Diese werden erkenntlich, wenn man die Ergebnisse aus den Wahllokalen nach deren Wahlbeteiligung sortiert und in einem sogenannten Histogramm darstellt:
Die Glockenkurve um die Spitze bei etwa 30 Prozent Wahlbeteiligung markiert für Schpilkin den Bereich, der am ehesten einer Gaußschen Normalverteilung gleicht, was Schpilkin als Indiz für eine weitgehend ehrliche Auszählung wertet. Dort hat tatsächlich der Kandidat der KPRF mehr Stimmen geholt.
Der Kandidat von Einiges Russland dagegen hat deutlich mehr Stimmen in den Wahllokalen mit überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung geholt. Der berühmte „Zackenbart“Anspielung auf den ehemaligen Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Wladimir Tschurow (geb. 1953), der im Zuge der Dumawahl 2011 für viele zum Sinnbild für Wahlbetrug wurde. Sein Vollbart, so die scherzhafte Argumentation, erinnere an die statistischen Ausreißer, die sich in der gezackten Verteilungskurve niederschlugen, die Sergej Schpilkin damals nach der Dumawahl 2011 angefertigt hat. Diese markanten Abweichungen von der Normalverteilung und die signifikanten Häufungen von runden Ergebnissen der Regierungspartei in Höhe von 70, 75, 80 und 85 Prozent waren 2011 ein wichtiges Indiz für Wahlfälschungen., die Ausreißer bei bestimmten Wahlbeteiligungs-Werten am rechten Ende der Skala (oft bei runden Zahlen wie 80 oder 95 Prozent), die eine deutliche Abweichung von einer Normalverteilungskurve darstellen, deuten für Schpilkin auf erfundene Ergebnisse hin.
Ella PamfilowaElla Pamfilowa (geb. 1953) war zwischen 2002 und 2010 Vorsitzende der Menschenrechtskommission bzw. des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten und zwischen 2014 und 2016 Menschenrechtsbeauftragte. Seit März 2016 leitet sie die Zentrale Wahlkommission Russlands. Vor dem Hintergrund offensichtlicher Wahlfälschungen bei der Dumawahl 2016 sieht sie sich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Mehr dazu in unserer Gnose, Chefin der Zentralen Wahlkommission, erklärte, dass man erst allen Beschwerden nachgehen wolle, bevor das amtliche Ergebnis der Gouverneurswahl im Primorski Krai verkündet wird. Dabei schloss sie auch eine Annullierung der Wahl nicht aus.
Update: Am 20. September hat die Wahlkommission des Primorski Krai die Ergebnisse der Stichwahl vom 16. September für ungültig erklärt. Eine Wiederholung der Wahl fand am 16. Dezember statt. Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei blieb die Zulassung zur Wahl verwehrt. Eine Reihe von Wahlbeobachtern sprach in diesem Zusammenhang von einem Verstoß gegen das Wahlrecht. Außerdem gab es zahlreiche Hinweise auf WahlfälschungenWahlfälschungen sind Wahlmanipulationen entgegen demokratischen Prinzipien. Nachdem im Dezember 2011 zahlreiche Wahlbeobachter über massive Fälschungen bei der Dumawahl berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion und forderte eine Untersuchung der Vorwürfe. Bei der Dumawahl 2016 stellten Wahlbeobachter weniger Unregelmäßigkeiten als 2011 fest, verwiesen zugleich jedoch auf einen hohen Einfluss der Administrativen Ressource. Mehr dazu in unserer Gnose. Laut offiziellem Wahlergebnis gewann Oleg Koshemjako, der neue Kandidat von Einiges Russland, mit rund 62 Prozent der Stimmen.
Text und Datenvisualisierung: Daniel Marcus erschienen am 17.09.2018 (Aktualisierung: 17.01.2019)
Knapp die Hälfte der Bevölkerung erklärt in Meinungsumfragen, dass Russland eine eigene, spezielle Art von Demokratie brauche. Heiko Pleines über das Demokratieverständnis und die Zufriedenheit mit dem politischen System in Russland.
Russland hat gewählt, der neue Präsident ist, wie erwartet, der alte: Wladimir Putin. Was sagen die hohen Prozentwerte aus – gerade auf der Krim? Zeigt die Wahl eine große Beliebtheit Putins – oder vor allem die immer autokratischeren Züge des Systems? dekoder bringt Ausschnitte aus russischen Medien-Debatten nach der Wahl.
Die neue Duma hat ihre Arbeit aufgenommen – gut drei Viertel aller Abgeordneten kommen dabei von der Regierungspartei Einiges Russland. Eine Supermehrheit, sagt Kirill Rogow und meint auf slon.ru: Das Wahlvolk ist ganz anders.
Politik – by Elena Muchametschina , Anastasia Kornja , Dimitri Kamyschew
Gut zwei Monate liegt die Dumawahl in Russland zurück. Stark in der Kritik war die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa. Eine einseitig besetzte Duma und massive Fälschungsvorwürfe werden auch ihr angekreidet. In einem Interview mit Vedomosti verteidigt sie nun vehement ihre Arbeit.
Wahlfälschungen mit statistischen Methoden enthüllen – das hat sich der Physiker Sergej Schpilkin zur Aufgabe gemacht. In einem Interview mit der Novaya Gazeta stellt er das offizielle Ergebnis der Dumawahl radikal in Frage.
In einem Video aus Rostow am Don vom 18. September 2016 zeigt sich eine typische Szenerie einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule. In diesem Fall hat man die Abstimmung in einer kleinen Sporthalle organisiert: Wo Kinder sonst die Sprossenwand erklimmen, baumeln rote, weiße und blaue Ballons; wo sonst der Basketball gedribbelt wird, werfen Bürger ihre Wahlzettel in transparente Urnen. Doch um 12:35 Uhr sieht es aus, als würden die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission wieder zum Sport übergehen. Zwei Personen bauen sich – ähnlich der menschlichen Mauer beim Fußball – vor einer der Wahlurnen auf. Für andere Anwesende verdecken sie damit die Sicht auf eine weitere Mitarbeiterin, die in aller Seelenruhe zahlreiche Wahlzettel nacheinander in die Urne fallen lässt. Und das ist dann doch wieder ziemlich unsportlich.
Zeugen solcher Szenen stellen sich viele Fragen: Wie verbreitet sind solche Praktiken – und auf welche Weise wird noch gefälscht? Welchen Stellenwert haben Fälschungen heute in Russland? Und bedeuten sie, dass Wahlergebnisse insgesamt nicht belastbar sind? Der Reihe nach.
Einwurf, Karussell und Bächlein
Da sind zunächst allzu offensichtliche Fälschungen wie sie die Szene aus Rostow dokumentiert: Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag durch Wähler oder Organisatoren – und manchmal von beiden Hand in Hand. Neben dem Einwurf zusätzlicher Stimmzettel durch Mitarbeiter der Wahlkommission ist das sogenannte „Karussell“ die bekannteste Methode. Dabei wird dem Wähler ein materieller Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und dem Karussell-Organisator den eigenen unberührten Zettel zu übergeben. Dieser füllt den leeren Stimmzettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler. Oft wird diese Methode mehrfach wiederholt, indem Wähler mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden.1
Damit verwandt ist das Verfahren mit der harmlosen Bezeichnung „Cruise“ (Kreuzfahrt) oder „Bächlein“ (Rutschejok): Es basiert ebenfalls auf mehrfacher Abstimmung, allerdings mithilfe eines gefälschten Wahlscheins, der zur Abstimmung in einem beliebigen Wahllokal berechtigt. Beides funktioniert natürlich nur, wenn die Organisatoren eingeweiht sind und Personen in die Wahlkabinen vorlassen, die nicht im örtlichen Wählerregister eingetragen sind.
Videos wie etwa aus Rostow am Don weisen solche Praktiken nach. Allerdings fangen Kameras das nur selten so eindeutig ein. Doch durch einen Blick auf die offiziellen Daten kann Stimmeneinwurf auch nachträglich aufgespürt werden: Liegt die Wahlbeteiligung in einem Bezirk besonders hoch und zeigt sich dort zugleich eine starke Abweichung in der Stimmverteilung zugunsten einer Partei (meist: Einiges Russland), liegt die plausible Annahme nahe, dass dort tatsächlich Stimmen künstlich hinzugefügt wurden. Eine Studie zu den Parlamentswahlen 2011 zeigte zudem: Allein die Gegenwart unabhängiger Beobachter in einem Wahllokal reduzierte den Stimmanteil für Einiges RusslandDie Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit. Mehr dazu in unserer Gnose durchschnittlich um elf Prozentpunkte.2
Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie?
Vertraut man den Berichten der OSZE, haben während der 2000er Jahre diese direkten Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag zugenommen. Hatten die internationalen Beobachter in den Jahren 1999 und 2000 noch kaum etwas am Wahl- und Auszählungsprozess auszusetzen, so häuften sich in den Jahren danach Berichte zu Mehrfachabstimmung und Verletzungen der vorgeschriebenen Verfahren.3 Im Jahr 2011 waren solche Berichte besonders zahlreich, und diesmal (auch weil sie sich durch soziale Medien so schnell und weit verbreiten konnten wie nie zuvor) trieben sie zigtausende Menschen auf die StraßeBolotnaja-Bewegung ist eine oft, aber nicht immer, abwertend gebrauchte Bezeichnung für die Proteste gegen Wahlfälschung und gegen Einiges Russland in den Jahren 2011–13, insbesondere deren Hochphase von Dezember 2011 bis Mai 2012. Der Begriff leitet sich vom Bolotnaja-Platz im Moskauer Stadtzentrum ab, auf dem drei der größten Demonstrationszüge (10.12.2011, 4.2.2012, 6.5.2012) endeten. Ein verwandter Begriff ist der Bolotnaja-Prozess. Dieser bezieht sich auf die Massenverhaftungen und anschließenden Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit demMarsch der Millionen am 6.5.2012 auf dem Bolotnaja-Platz. Mehr dazu in unserer Gnose.
Doch solche Manipulationen allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum die OSZE die Wahlen von 1999 noch einen „Meilenstein in Russlands Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie“ nannte – um dann bis 2011 Wahl für Wahl kritischere Worte zu finden (die Dumawahl 2016 erhielt wieder bessere NotenDie Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (russisch: Zentralnaja Isbiratelnaja Komissija Rossiskoi Federazii; ZIK) ist ein staatliches Verwaltungsorgan, das sich mit der Organisation und Durchführung der Wahlen befasst. Vor dem Hintergrund der Dumawahl 2011 wurde die ZIK von der Opposition mit massiven Fälschungsvorwürfen konfrontiert. Mit dem Abgang des ZIK-Leiters Wladimir Tschurow im März 2016 zeichneten sich im Vorfeld der Dumawahl 2016 Reformbestrebungen ab. Mehr dazu in unserer Gnose). Hinzu kommen Verzerrungen des politischen Wettbewerbs im Vorfeld der Wahl, die im politischen System Russlands wesentlich bedeutender sind als direkte Wahlfälschungen. Sie alle haben zu tun mit der Nutzung der sogenannten administrativen RessourceAls Administrative Ressource bezeichnet man das Potential von Amtsinhabern (Präsidenten genauso wie Bürgermeistern), staatliche Ressourcen für die eigenen politischen oder wirtschaftlichen Ziele zu nutzen. Der politisierte Einsatz von Kontrollbehörden zählt genauso dazu wie Stimmenkauf oder verdeckte Parteienfinanzierung aus dem Staatshaushalt. Die Nutzung der Administrativen Ressource ist ein wichtiges Funktionselement der russischen Politik. Mehr dazu in unserer Gnose.
Verzerrungen des politischen Wettbewerbs
Erstens werden Kandidaten und Parteien bis heute zuweilen nicht zur Wahl zugelassen. Dies geschieht oft unter Berufung auf formale Fehler, zum Beispiel darauf, dass zu viele ihrer zur Registrierung eingereichten Unterstützerunterschriften ungültig seien. In einem gesetzlichen Umfeld, das ohnehin hohe Hürden für Newcomer setzt, erschwert dies die Teilnahme alternativer politischer Kräfte zusätzlich.
Zweitens springen staatliche Stellen bei der Wählermobilisierung ein: Regelmäßig erhalten Studierende, Soldaten, Staatsbedienstete und Angestellte großer Unternehmen „Wahlempfehlungen“. Außerdem nahm der Anteil der Wähler stark zu, die bis zu zwei Wochen vor der Wahl abstimmen: Mitarbeiter der Wahlkommissionen kommen in einem kaum kontrollierbaren Prozess mit mobilen Urnen zu Wählern in die Wohnung oder ins Krankenhaus. Bei der Präsidentenwahl 2008 stimmten 7,5 Prozent der Wahlberechtigten auf diese Weise ab.4
Drittens ist die Regierungspartei selbst das Produkt eines staatlichen Eingriffs in die politische Auseinandersetzung. Sie ging 1999 als hastig geschmiedete Elitenkoalition JelzinsBoris Jelzin (1931–2007) war der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands. Er regierte von 1991 bis 1999, seine Amtszeit war durch tiefgreifende politische und ökonomische Krisen geprägt. Jelzin setzte massive Reformen in Gang: unter anderem ein Programm zur Privatisierung von Staatseigentum und ein folgenschweres Programm zur Umgestaltung der politischen Kultur. Letzteres bezeichnen viele Wissenschaftler als „Entsowjetisierungs-Programm”.unter dem Namen Jedinstwo (Einheit) an den Start, sicherte Jelzins Nachfolger Putin eine parlamentarische Basis und wurde bis zur Wahl 2003 zur MachtparteiDie Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit. Mehr dazu in unserer Gnose ausgebaut - und zwar durch den gezielten Einsatz staatlicher Mittel.
Was, viertens, auch die Medienberichterstattung einschließt. War auch der Wahlkampf in den 1990ern von Fernsehsendern in der Hand kremltreuer Unternehmer geprägt (allen voran ORT des OligarchenAls Oligarchen werden Großunternehmer bezeichnet, die starken Einfluss auf die Politik nehmen. In Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Wirtschaft und Politik sehr eng verwoben sind, stellen sie ein zentrales Charakteristikum des politischen Systems dar. Mehr dazu in unserer GnoseBoris BeresowskiBoris Beresowski (1946-2013) gelangte während der Privatisierungen der 1990er Jahre durch Verbindungen in die Politik zu enormem Reichtum. Er besaß mehrere Medien – darunter große Anteile am staatlichen Ersten Kanal – die er auch zur politischen Einflussnahme nutzte. Zunächst ein enger Vertrauter Jelzins und Unterstützer Putins, kritisierte er Putin ab dem Jahr 2000 für autoritäre Tendenzen. Er entging der eingeleiteten Strafverfolgung durch politisches Asyl in Großbritannien. Von dort aus blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 2013 ein scharfer Putinkritiker.), so gab es damals noch signifikante Gegengewichte in der Medienlandschaft. Unter Putin änderte sich dies schnell: Bis 2001 waren die größten Fernsehsender mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Staates. Und dies zeigte sich deutlich: Während des Wahlkampfs im Jahr 2007 entfielen jeweils etwa 19 Prozent der Nachrichtenzeit im Ersten Kanal und bei NTW sowie 20 Prozent im Kanal Rossija auf Berichterstattung über die Regierungspartei Einiges Russland. Die noch immer wichtigste Oppositionskraft, die Kommunistische Partei, wurde dagegen nur in zwei bis drei Prozent der Zeit erwähnt.5
Ein hybrides System
Auf diese und andere Weise wird der politische Wettbewerb bereits vor der Wahl durch den Missbrauch staatlicher Ressourcen so verzerrt, dass ein unkontrollierter Machtwechsel am Wahltag nahezu ausgeschlossen ist. Direkte Eingriffe und Manipulationen im Wahlprozess sind in diesem System nur das letzte Mittel, um einen Stimmenverlust abzuwenden – wie bei der Parlamentswahl 2011. Dass dieses Ausmaß an offensichtlichen Fälschungen eine unerwünschte Ausnahme darstellte, ist auch an den Bemühungen zu erkennen, die seitdem unternommen wurden, um Vertrauen in den Wahlprozess zurückzugewinnen – etwa die teure Installation von Überwachungskameras in Wahllokalen oder die Ernennung von Ella PamfilowaElla Pamfilowa (geb. 1953) war zwischen 2002 und 2010 Vorsitzende der Menschenrechtskommission bzw. des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten und zwischen 2014 und 2016 Menschenrechtsbeauftragte. Seit März 2016 leitet sie die Zentrale Wahlkommission Russlands. Vor dem Hintergrund offensichtlicher Wahlfälschungen bei der Dumawahl 2016 sieht sie sich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Mehr dazu in unserer Gnose zur Chefin der Zentralen WahlkommissionDie Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (russisch: Zentralnaja Isbiratelnaja Komissija Rossiskoi Federazii; ZIK) ist ein staatliches Verwaltungsorgan, das sich mit der Organisation und Durchführung der Wahlen befasst. Vor dem Hintergrund der Dumawahl 2011 wurde die ZIK von der Opposition mit massiven Fälschungsvorwürfen konfrontiert. Mit dem Abgang des ZIK-Leiters Wladimir Tschurow im März 2016 zeichneten sich im Vorfeld der Dumawahl 2016 Reformbestrebungen ab. Mehr dazu in unserer Gnose.
Solche Systeme, in denen politische Eliten ihren Herrschaftsanspruch einerseits aus einem technisch einwandfreien, formal demokratischen Wahlprozess ableiten, andererseits aber zum Zweck des Machterhalts unfaire Mittel einsetzen, haben in der Politikwissenschaft einen Namen erhalten, der diese inhärente Widersprüchlichkeit betont: hybride Regime. Die Forschung zu solchen Regimen gewann in dem Maße an Plausibilität, in dem sich im Westen die Enttäuschung über die politischen Irrfahrten einiger junger Demokratien breit machte. Das „Ende der Geschichte“6 war nach 1990/91Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Mehr dazu in unserer Gnose keineswegs erreicht, und eine demokratische VerfassungGemeint ist hier die Anfang der 1990er Jahre ausgearbeitete und 1993 verabschiedete Verfassung, die von ihrer Grundanlage her an Frankreich orientiert war. Das der Verfassungsnorm zugrunde gelegte Verhältnis von Präsident, Regierung und Parlament interpretiert die Politikwissenschaft verschieden: Erstens als (semi-)präsidentielles, zweitens als superpräsidentielles Regierungssystem, drittens wird es auch als ein präsidentiell-parlamentarisches Mischsystem beschrieben. In der Verfassungspraxis ist die Typisierung seitens der Politikwissenschaft eindeutiger: Hier hat sich ein Verständnis von einem präsidentiellen bis superpräsidentiellen Regierungssystem etabliert. Lediglich die Präsidentschaft Dimitri Medwedews wird im Rahmen eines (semi-)präsidentiell-parlamentarischen Mischsystems verortet. bedeutete noch lange nicht den unabänderlichen Triumph liberaldemokratischer Prinzipien in der täglichen politischen Wirklichkeit. Und so gilt für Russland zurzeit, was Andreas Schedler den „elektoralen Autoritarismus“ nennt: es ist ein politisches System, in dem zwar Parteien regelmäßig Wahlen verlieren – aber eben nur OppositionsparteienDie Unterscheidung zwischen systemischer und nicht-systemischer Opposition soll verdeutlichen, dass manche oppositionelle Parteien den Kurs des Präsidenten tragen und somit zum „System Putin“ gehören. Dagegen ist der gemeinsame Nenner der nicht-systemischen Opposition die Ablehnung dieses Systems. Zu der Nicht-System-Opposition zählen liberale oder sozialdemokratische Parteien, die die demokratische Verfassung anerkennen, genauso wie marginalisierte rechts- oder linksradikale Gruppen. Mehr dazu in unserer Gnose.7
1.Einen Bericht über die Funktionsweise eines „Karussells“ in deutscher Sprache gibt es bei der Frankfurter Rundschau
2.Field experiment estimate of electoral fraud in Russian parliamentary elections
3.Die einzelnen Berichte können nachgelesen werden
4.White, S. (2014): The electoral process. In S. White, R. Sakwa & H.E. Hale (eds), Developments in Russian politics, pp. 60–76. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 70
Die russische Parteienlandschaft wird seit Mitte der 2000er von der Regierungspartei Einiges Russland dominiert. Dabei wurde durch restriktive Gesetze das Angebot an Parteien dezimiert, die übrigen verloren an Bedeutung. Diese autoritäre Umstrukturierung wurde allerdings dadurch erleichtert, dass die politischen Institutionen die Entwicklung starker Parteien seit den 1990ern gehemmt hatten und Parteien kaum in der Gesellschaft verankert waren.
Ella Pamfilowa sitzt seit ihrem Amtsantritt als Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Russlands im März 2016 zwischen den Stühlen. Einerseits kritisiert sie oft harsch die politische Situation in Russland. Andererseits wird ihre Zusammenarbeit mit dem Staat als liberal-demokratisches Feigenblatt kritisiert. Alexander Graef erläutert diese Zwickmühle.
Die Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit.
Die Unterscheidung zwischen systemischer und nicht-systemischer Opposition soll verdeutlichen, dass manche oppositionelle Parteien den Kurs des Präsidenten tragen und somit zum „System Putin“ gehören. Dagegen ist der gemeinsame Nenner der nicht-systemischen Opposition die Ablehnung dieses Systems. Zu der Nicht-System-Opposition zählen liberale oder sozialdemokratische Parteien, die die demokratische Verfassung anerkennen, genauso wie marginalisierte rechts- oder linksradikale Gruppen.
Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.
Der „Zauberer von ZIK“, ihr ehemaliger Vorsitzender Wladimir Tschurow, hat die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK) erst richtig bekannt gemacht. Aus einem wenig beachteten Wahlausschuss wurde 2011 eine sarkastische Metapher für Wahlfälschungen und eine Zielscheibe von massiven Protesten. Weshalb die ZIK jedoch nicht automatisch die Zauberkiste des Kreml sein muss, erläutert Anastasia Vishnevskaya.
Präsentkorb mit Nahrungsmitteln, plötzliche polizeiliche Ermittlungen oder gar Parteigründungen auf Initiative des Kreml – all dies sind verschiedene Facetten der sogenannten Administrativen Ressource in Russland. Bei dieser Art von Amtsbonus halten sich alle an die Regeln – zumindest formal.
Der Koordinationsrat der Opposition entstand im Zuge der Massenproteste 2011/2012 als gemeinsames Gremium der am Protest beteiligten politischen Akteure. Er stellte einen Versuch dar, die außerparlamentarische Opposition zu konsolidieren und institutionalisieren. Nach etwa einem Jahr gemeinsamer Arbeit wurde jedoch immer deutlicher, dass die unterschiedlichen politischen Ansichten nicht miteinander vereinbar waren, und so stellte der Koordinationsrat Ende Oktober 2013 seine Arbeit ein.
more gnoses
This site uses cookies. By continuing to browse the site, you are agreeing to our use of cookies. Find out more
DER LETZTE WINTER DER SOWJETUNION, Michael Kerstgens(All rights reserved)