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Wahlfälschung auf Rekordniveau

Knapp 78 Prozent stimmten für die Änderung der russischen Verfassung, die es Putin erlaubt bis 2036 im Amt zu bleiben – bei einer Wahlbeteiligung von über 65 Prozent. So die offiziellen Zahlen. 

Wahlanalysten wie Sergej Schpilkin halten dieses Ergebnis für grob übertrieben und sprechen von den massivsten Wahlfälschungen in der Geschichte der Russischen Föderation. Sie verweisen dabei auf Anomalien, die sich auch in unserer Karte zur Abstimmung nachvollziehen lassen.

Schpilkin, der seit vielen Jahren russische Wahlen mit statistischen Methoden untersucht, erklärt auf Projekt, wie er zu dieser Einschätzung kommt und gibt einen Überblick über die Geschichte russischer Wahl-Anomalien seit 2000.

Source Projekt

Die Zahlen der Zentralen Wahlkommission sind zu großen Teilen das Ergebnis von Manipulation und Fälschung. Die wirkliche Zustimmung zur Verfassungsänderung ist deutlich niedriger. Das zeigt eine detaillierte Analyse der Abstimmungsstatistik. Demnach lag die tatsächliche Wahlbeteiligung bei etwa 44 Prozent [offiziell: 67,97 Prozent – dek], für die Verfassungsänderung haben rund 65 Prozent gestimmt [offiziell: 77,92 Prozent – dek]. Das sind etwa 31 Millionen Menschen – oder 29 Prozent aller Wahlberechtigten in Russland. Die neue Verfassung ist keine Verfassung der Mehrheit.

Russische Wahlen von 2000 bis 2020

Um die Ergebnisse der Abstimmung von 2020 einzuordnen, ist ein Blick in die russische Wahlgeschichte hilfreich. Die Präsidentschafts- und Dumawahlen der 2000er Jahre in Russland folgen aus Sicht der Wahlstatistik einer Gesetzmäßigkeit, die von aktuellen politischen Aufgaben bestimmt ist. Die Abstimmung über die Verfassungsänderung fügt sich in diese Reihe. Die Einzigartigkeit dieser Prozedur ist auch Routine: Keine der Wahlkampagnen verlief nach ein und denselben Regeln. Die mehrtägige Abstimmung in Zelten, auf Baumstümpfen und in Kofferräumen – das ist bloß eine von vielen Regeländerungen, wie auch die Abschaffung der Mindestwahlbeteiligung, das Verbot von Wahlbündnissen und zahlreiche weitere Änderungen der Wahlgesetze, die in den vergangenen Jahren je nach politischer Konjunktur verabschiedet wurden.

Wie man die Grafiken liest

Links: Die Stimmlokale sind nach Wahlbeteiligung gruppiert (X-Achse), die Y-Achse zeigt die summierte Anzahl der Stimmen für die verschiedenen Kandidaten in Wahllokalen mit der jeweiligen Wahlbeteiligung.

Schraffierte Fläche: Unterschied zwischen der Stimmverteilung für den Kandidaten der Staatsmacht (A-Kandidat) und der Stimmverteilung für alle anderen Kandidaten (inklusive der ungültigen Stimmzettel). Ist der Unterschied ein Ergebnis von Stimmhinzufügung, so entspricht die Fläche der Anzahl der hinzugefügten Stimmen. Ist der Unterschied ein Ergebnis anderer Handlungen (Vernichtung von Stimmen für einen Konkurrenten oder Umschreibung zugunsten des A-Kandidaten etc.), so gibt die Fläche einen Hinweis über das Ausmaß der Manipulationen.

Rechts: Jeder Punkt markiert das Ergebnis für einen Kandidaten in einem bestimmten Stimmlokal – je nach Wahlbeteiligung (X-Achse) und prozentualem Ergebnis des Kandidaten (Y-Achse).

Präsidentschaftswahl 2000: Im Koordinatensystem Wahlbeteiligung/-ergebnis (rechts) verteilen sich die Ergebnisse des A-Kandidaten (Wladimir Putin) in den Wahllokalen um das offizielle Gesamtergebnis (schwarzes Kreuz) herum zu einer kompakten Wolke („Kern“). Die Stimmverteilung für den A-Kandidaten (links) entspricht in ihrer Form nahezu der Verteilung bei den anderen Kandidaten.


Dumawahl 2003: Die Wahlergebnis-Wolke (rechts) von Einiges Russland (A-Kandidat) bildet einen „Kometenschweif“ in Richtung höherer Wahlbeteiligung und -ergebnisse. Das offizielle Gesamtergebnis (schwarzes Kreuz) rutscht dabei vom Zentrum der Wolke an deren Rand. Ab einem bestimmten Prozentsatz weicht die Verteilung der Stimmen für Einiges Russland nach Wahlbeteiligung von dem Muster anderer Parteien nach oben ab. Ein solches Bild ergibt sich bei einer Hinzugabe von zusätzlichen Stimmen für den A-Kandidaten in einigen Wahlbezirken. Im Ergebnis gehen die entsprechenden Punkte des A-Kandidaten im linken Diagramm nach rechts (die Wahlbeteiligung steigt) und nach oben (Wahlergebnis des A-Kandidaten steigt). Die Anzahl der hinzugefügten Stimmen kann anhand der schraffierten Fläche geschätzt werden. Diese Differenz entspricht in etwa vier von 23 Millionen Stimmen, die offiziell für Einiges Russland abgegeben wurden.


Präsidentschaftswahl 2004: Der Kometenschweif wächst und nimmt Form an. Zu erkennen ist eine erhöhte Konzentration von „schönen“ Wahlbeteiligungen, die mehrfach runden Fünf-Prozent-Schritten folgen. In der linken Grafik sieht man das an den Zacken, die zu Ehren des damaligen Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Tschurow-Säge [oder Zacken-Bart] genannt wurden. Die Anzahl der vermutlich hinzugefügten (anormalen) Stimmen für den A-Kandidaten (Wladimir Putin) erreicht acht Millionen. Das Auftauchen der Tschurow-Säge scheint einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung des Wahlsystems zu markieren: Die Entstehung einer zentralisierten Nachfrage nach einem „schönen“ Wahlergebnis. Seither hat uns dieses Phänomen bei allen Wahlen auf Staatsebene begleitet.


Dumawahl 2007: Der Kometenschweif wächst noch mehr an; die nach derselben Methode ermittelte Anzahl der anormalen Stimmen für Einiges Russland erreicht zwölf Millionen.


Präsidentschaftswahl 2008: Die Anzahl der anormalen Stimmen übersteigt 14 Millionen, die Tschurow-Säge zeigt sich nicht nur bei der Wahlbeteiligung, sondern auch beim Wahlergebnis des A-Kandidaten (Dimitri Medwedew). Der Kometenschweif ist kariert. Bei dieser Kampagne wurden auch zum ersten Mal massiv Stimmen von Wählern in Moskau manipuliert (die Anzahl der anormalen Stimmen beträgt dort etwa eine Million).


Dumawahl 2011: Bis vor Kurzem teilte sich dieser Urnengang den Titel für die  ungewöhnlichste Wahl auf Staatsebene mit der Präsidentschaftswahl von 2008. Die Anzahl der anormalen Stimmen übersteigt erneut 14 Millionen. Nachdem die Tschurow-Säge in der Öffentlichkeit zum Thema wurde, taucht sie in der Verteilung der Wahlbeteiligung nur noch geschwächt auf. Umso mehr nimmt sie aber in der Verteilung des Wahlergebnisses von Einiges Russland zu (horizontale Linien im Kometenschweif).


Präsidentschaftswahl 2012: Nach den Massenprotesten im Herbst/Winter 2011 nimmt das Ausmaß der administrativen Manipulationen leicht ab. Die Anzahl der anormalen Stimmen geht um das Anderthalbfache zurück. Seit diesem Moment gibt es in Moskau fast keinen Wahlbetrug mehr.


Dumawahl 2016: Das Phänomen des „zweihöckrigen Russlands“ taucht auf. Die Hälfte der Stimmen für Einiges Russland wird nicht im wichtigsten Kern der Wahllokale erzielt, sondern im Kometenschweif. Infolgedessen bekommt Einiges Russland 50 Prozent seiner Stimmen aus Wahllokalen, in denen [nur] 23 Prozent aller Wähler in Russland registriert sind. Das Gesamtergebnis der Wahl rückt weit aus der Hauptwolke heraus.


Präsidentschaftswahl 2018: Die Manipulation von Stimmen wurde erneut runtergeschraubt, die Anzahl der anormalen Stimmen verringerte sich erneut, auf zehn Millionen.


Anomalien bei der Verfassungsabstimmung 2020

Die Volksabstimmung von 2020 fand nach neuen Regeln statt, weswegen man im Prinzip ein neues statistisches Bild hätte erwarten können. Allerdings erwies sich das Bild als vertraut, wobei alles bisher Gesehene sogar noch übertroffen wurde.

Nach dem Gesamtbild und den Berichten vor Ort zu urteilen, wurde die einwöchige Abstimmung einfach als bequeme Möglichkeit genutzt, um unkontrolliert Ja-Stimmen hinzuzufügen.

Auf den Diagrammen der Verteilung der Wahllokale nach Wahlbeteiligung und Stimmergebnis sind klar zwei Gruppen von Wahllokalen zu erkennen: die Kerne, bei denen die Wahlbeteiligung bei rund 43 Prozent und der Anteil der Ja-Stimmen bei etwa 65 Prozent liegt, und die Schweife, bei denen die Wahlbeteiligung mindestens 60 Prozent beträgt und der Anteil der Ja-Stimmen sich bei steigender Wahlbeteiligung 100 Prozent annähert. Die in Fünf-Prozent-Schritten ablesbare karierte Struktur des Schweifs zeigt, dass die Wahlbeteiligung und das Resultat in vielen Wahllokalen auf „schöne“ Zielergebnisse getrimmt wurden. Und tatsächlich zeigt das linke Diagramm der Stimmverteilungen eine starke Tschurow-Säge in Fünf-Prozent-Schritten.

Nach Berechnungen von Dimitri Kobak übertrifft die Summe dieser Sägen den bisherigen Rekord von 2008 fast um das doppelte. Auf der Ebene der Regionen sind weitere Ungereimtheiten sichtbar: einheitliche, wie am Reißbrett entstandene Ergebnisse in den unterschiedlichsten Regionen, vom Moskauer Gebiet über die Region Stawropol bis nach Tatarstan, unglaubliche Wahlbeteiligungen und Ja-Stimmen in den nordkaukasischen Republiken und vieles mehr.
 
Erstmals in der Geschichte landesweiter Wahlen war der Kern (gemessen an der Anzahl der Stimmberechtigten) kleiner als der Schweif. Wenn man (mit etwas Spielraum) die Grenze zwischen Kern und Schweif bei 57 Prozent Wahlbeteiligung ansetzt, dann entfallen auf den Kern etwa 34 Prozent der Wahlberechtigten und auf den Schweif etwa 66 Prozent. Die Ergebnisse der Abstimmung ergeben somit im Kern eine Wahlbeteiligung von 44 Prozent und eine Zustimmungsrate von 65 Prozent und im Schweif eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent mit 82 Prozent Ja-Stimmen für die Verfassungsänderung.

Wenn man annimmt, dass die reale Wahlbeteiligung und das reale Stimmverhältnis von Ja- und Nein-Stimmen denen im Kern entsprechen, dann beträgt die Anzahl derer, die für die Verfassungsänderungen gestimmt haben (abzüglich der elektronischen und der ausländischen Wählerstimmen) 0,44 x 0,65 x 108,4 Millionen Wahlberechtigte – also ungefähr 31 Millionen Menschen, was gut mit der Einschätzung von etwa 29 Millionen „normalen“ Stimmen zusammenpasst (linkes Diagramm).

Wie in den Regionen gefälscht wurde

Nach neun Jahren kehrten die Fälschungen nach Moskau zurück. In den Bereich des Schweifs über 57 Prozent Wahlbeteiligung fielen 26 Prozent aller (Offline-)Wahllokale der Stadt, die dort 41 Prozent aller Ja-Stimmen brachten.


Sankt Petersburg zeigt eine unglaubliche Wahlbeteiligung – das Ergebnis massenhafter Fälschungen. Vom ursprünglichen Kern bleibt lediglich ein blasser Schatten im Bereich von 30–50 Prozent Wahlbeteiligung. Von der Künstlichkeit der Ergebnisse zeugen auch die kleinen, unnatürlich dichten Cluster von Wahllokalen im Schweif, die sich als Resultat amateurhafter Fälschungen auf der Ebene der übergeordneten Wahlkreise bilden. 


Ein Beispiel für partielle Wahlfälschung ist die Lipezker Oblast, wo sowohl Kern als auch Schweif erhalten sind.


Die Oblast Tscheljabinsk ist offenbar ein Beispiel für administrative Mobilisierung ohne direkte Wahlfälschungen: Der Kern ist breit verstreut, doch das Verhältnis zwischen den Ja- und Nein-Stimmen variiert kaum in Abhängigkeit von der Wahlbeteiligung außer bei den allergrößten Werten.


Die Oblast Irkutsk ist ein Beispiel für eine Region, die quasi frei von Wahlfälschungen ist: Fast alle Wähler stimmten in Wahllokalen ab, die im Kern liegen.


Weitere Regionen lassen sich in unserer Infografik erkunden:

 

 

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Wahlfälschungen in Russland

In einem Video aus Rostow am Don vom 18. September 2016 zeigt sich eine typische Szenerie einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule. In diesem Fall hat man die Abstimmung in einer kleinen Sporthalle organisiert: Wo Kinder sonst die Sprossenwand erklimmen, baumeln rote, weiße und blaue Ballons; wo sonst der Basketball gedribbelt wird, werfen Bürger ihre Wahlzettel in transparente Urnen. Doch um 12:35 Uhr sieht es aus, als würden die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission wieder zum Sport übergehen. Zwei Personen bauen sich – ähnlich der menschlichen Mauer beim Fußball – vor einer der Wahlurnen auf. Für andere Anwesende verdecken sie damit die Sicht auf eine weitere Mitarbeiterin, die in aller Seelenruhe zahlreiche Wahlzettel nacheinander in die Urne fallen lässt. Und das ist dann doch wieder ziemlich unsportlich.

Zeugen solcher Szenen stellen sich viele Fragen: Wie verbreitet sind solche Praktiken – und auf welche Weise wird noch gefälscht? Welchen Stellenwert haben Fälschungen heute in Russland? Und bedeuten sie, dass Wahlergebnisse insgesamt nicht belastbar sind? Der Reihe nach.

Einwurf, Karussell und Bächlein

Da sind zunächst allzu offensichtliche Fälschungen wie sie die Szene aus Rostow dokumentiert: Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag durch Wähler oder Organisatoren – und manchmal von beiden Hand in Hand. Neben dem Einwurf zusätzlicher Stimmzettel durch Mitarbeiter der Wahlkommission ist das sogenannte „Karussell“ die bekannteste Methode. Dabei wird dem Wähler ein materieller Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und dem Karussell-Organisator den eigenen unberührten Zettel zu übergeben. Dieser füllt den leeren Stimmzettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler. Oft wird diese Methode mehrfach wiederholt, indem Wähler mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden.1

Damit verwandt ist das Verfahren mit der harmlosen Bezeichnung „Cruise“ (Kreuzfahrt) oder „Bächlein“ (Rutschejok): Es basiert ebenfalls auf mehrfacher Abstimmung, allerdings mithilfe eines gefälschten Wahlscheins, der zur Abstimmung in einem beliebigen Wahllokal berechtigt. Beides funktioniert natürlich nur, wenn die Organisatoren eingeweiht sind und Personen in die Wahlkabinen vorlassen, die nicht im örtlichen Wählerregister eingetragen sind.

Videos wie etwa aus Rostow am Don weisen solche Praktiken nach. Allerdings fangen Kameras das nur selten so eindeutig ein. Doch durch einen Blick auf die offiziellen Daten kann Stimmeneinwurf auch nachträglich aufgespürt werden: Liegt die Wahlbeteiligung in einem Bezirk besonders hoch und zeigt sich dort zugleich eine starke Abweichung in der Stimmverteilung zugunsten einer Partei (meist: Einiges Russland), liegt die plausible Annahme nahe, dass dort tatsächlich Stimmen künstlich hinzugefügt wurden. Eine Studie zu den Parlamentswahlen 2011 zeigte zudem: Allein die Gegenwart unabhängiger Beobachter in einem Wahllokal reduzierte den Stimmanteil für Einiges Russland durchschnittlich um elf Prozentpunkte.2

Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie?

Vertraut man den Berichten der OSZE, haben während der 2000er Jahre diese direkten Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag zugenommen. Hatten die internationalen Beobachter in den Jahren 1999 und 2000 noch kaum etwas am Wahl- und Auszählungsprozess auszusetzen, so häuften sich in den Jahren danach Berichte zu Mehrfachabstimmung und Verletzungen der vorgeschriebenen Verfahren.3 Im Jahr 2011 waren solche Berichte besonders zahlreich, und diesmal (auch weil sie sich durch soziale Medien so schnell und weit verbreiten konnten wie nie zuvor) trieben sie zigtausende Menschen auf die Straße.

Doch solche Manipulationen allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum die OSZE die Wahlen von 1999 noch einen „Meilenstein in Russlands Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie“ nannte – um dann bis 2011 Wahl für Wahl kritischere Worte zu finden (die Dumawahl 2016 erhielt wieder bessere Noten). Hinzu kommen Verzerrungen des politischen Wettbewerbs im Vorfeld der Wahl, die im politischen System Russlands wesentlich bedeutender sind als direkte Wahlfälschungen. Sie alle haben zu tun mit der Nutzung der sogenannten Administrativen Ressource.

Verzerrungen des politischen Wettbewerbs

Erstens werden Kandidaten und Parteien bis heute zuweilen nicht zur Wahl zugelassen. Dies geschieht oft unter Berufung auf formale Fehler, zum Beispiel darauf, dass zu viele ihrer zur Registrierung eingereichten Unterstützerunterschriften ungültig seien. In einem gesetzlichen Umfeld, das ohnehin hohe Hürden für Newcomer setzt, erschwert dies die Teilnahme alternativer politischer Kräfte zusätzlich.

Zweitens springen staatliche Stellen bei der Wählermobilisierung ein: Regelmäßig erhalten Studierende, Soldaten, Staatsbedienstete und Angestellte großer Unternehmen „Wahlempfehlungen“. Außerdem nahm der Anteil der Wähler stark zu, die bis zu zwei Wochen vor der Wahl abstimmen: Mitarbeiter der Wahlkommissionen kommen in einem kaum kontrollierbaren Prozess mit mobilen Urnen zu Wählern in die Wohnung oder ins Krankenhaus. Bei der Präsidentenwahl 2008 stimmten 7,5 Prozent der Wahlberechtigten auf diese Weise ab.4

Drittens ist die Regierungspartei selbst das Produkt eines staatlichen Eingriffs in die politische Auseinandersetzung. Sie ging 1999 als hastig geschmiedete Elitenkoalition Jelzinsunter dem Namen Jedinstwo (Einheit) an den Start, sicherte Jelzins Nachfolger Putin eine parlamentarische Basis und wurde bis zur Wahl 2003 zur Machtpartei ausgebaut - und zwar durch den gezielten Einsatz staatlicher Mittel.

Was, viertens, auch die Medienberichterstattung einschließt. War auch der Wahlkampf in den 1990ern von Fernsehsendern in der Hand kremltreuer Unternehmer geprägt (allen voran ORT des Oligarchen Boris Beresowski), so gab es damals noch signifikante Gegengewichte in der Medienlandschaft. Unter Putin änderte sich dies schnell: Bis 2001 waren die größten Fernsehsender mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Staates. Und dies zeigte sich deutlich: Während des Wahlkampfs im Jahr 2007 entfielen jeweils etwa 19 Prozent der Nachrichtenzeit im Ersten Kanal und bei NTW sowie 20 Prozent im Kanal Rossija auf Berichterstattung über die Regierungspartei Einiges Russland. Die noch immer wichtigste Oppositionskraft, die Kommunistische Partei, wurde dagegen nur in zwei bis drei Prozent der Zeit erwähnt.5

Ein hybrides System

Auf diese und andere Weise wird der politische Wettbewerb bereits vor der Wahl durch den Missbrauch staatlicher Ressourcen so verzerrt, dass ein unkontrollierter Machtwechsel am Wahltag nahezu ausgeschlossen ist. Direkte Eingriffe und Manipulationen im Wahlprozess sind in diesem System nur das letzte Mittel, um einen Stimmenverlust abzuwenden – wie bei der Parlamentswahl 2011. Dass dieses Ausmaß an offensichtlichen Fälschungen eine unerwünschte Ausnahme darstellte, ist auch an den Bemühungen zu erkennen, die seitdem unternommen wurden, um Vertrauen in den Wahlprozess zurückzugewinnen – etwa die teure Installation von Überwachungskameras in Wahllokalen oder die Ernennung von Ella Pamfilowa zur Chefin der Zentralen Wahlkommission.

Solche Systeme, in denen politische Eliten ihren Herrschaftsanspruch einerseits aus einem technisch einwandfreien, formal demokratischen Wahlprozess ableiten, andererseits aber zum Zweck des Machterhalts unfaire Mittel einsetzen, haben in der Politikwissenschaft einen Namen erhalten, der diese inhärente Widersprüchlichkeit betont: hybride Regime. Die Forschung zu solchen Regimen gewann in dem Maße an Plausibilität, in dem sich im Westen die Enttäuschung über die politischen Irrfahrten einiger junger Demokratien breit machte. Das „Ende der Geschichte“6 war nach 1990/91 keineswegs erreicht, und eine demokratische Verfassung bedeutete noch lange nicht den unabänderlichen Triumph liberaldemokratischer Prinzipien in der täglichen politischen Wirklichkeit. Und so gilt für Russland zurzeit, was Andreas Schedler den „elektoralen Autoritarismus“ nennt: es ist ein politisches System, in dem zwar Parteien regelmäßig Wahlen verlieren – aber eben nur Oppositionsparteien.7


1.Einen Bericht über die Funktionsweise eines „Karussells“ in deutscher Sprache gibt es bei der Frankfurter Rundschau
2.Field experiment estimate of electoral fraud in Russian parliamentary elections
3.Die einzelnen Berichte können nachgelesen werden
4.White, S. (2014): The electoral process. In S. White, R. Sakwa & H.E. Hale (eds), Developments in Russian politics, pp. 60–76. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 70
5.White, S. (2014): S. 68
6.Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?
7.Schedler, A. (2002): The menu of manipulation. Journal of democracy, 13(2), 36-50, hier. S. 47

Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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