Auffallend viele junge Leute waren am 26. März landesweit auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Zuvor hatte der Handymitschnitt einer Diskussion zwischen Lehrern und Schülern im Runet Furore gemacht, bei der die Schüler ganz andere politische Ansichten äußerten als die Lehrkräfte, und diese auch selbstbewusst vertraten.
Politologin Ekaterina Schulmann warnt jedoch davor, den Protest als Protest von Jugendlichen darzustellen – zumal es keine zuverlässigen Zahlen dazu gibt. Sicher dagegen sei: Es war ein Protest von Erwachsenen – mit einem hohen Anteil Jugendlicher. Und was die heute bewegt, das hat Schulmann sich für Takie Dela genauer angesehen:
Plötzlich treten viele junge (und sehr junge) Menschen bei den Protesten am 26. März in Erscheinung – und es kommt zu einem neuen Interesse an Youth Studies in unterschiedlichster Form: Vom allseits bekannten Genre „ein Bekannter hat mir erzählt“ bis hin zu historischen Parallelen (besonders beliebt ist gerade das Jahr 1968, aber auch die Roten Garden werden sukzessive herangezogen).
Der Protest war kein Kinderkreuzzug
Zunächst möchte ich davor warnen, den Protest vom 26. März als eine Art Kinderkreuzzug zu betrachten. Sicherlich war das kein Schüleraufstand und auch keine Studentenrevolte wie 1968 in Europa. Leider haben wir keine zuverlässigen Daten, wie viele Menschen an den Protesten beteiligt waren, geschweige denn Angaben über ihr Alter oder ihre soziale Zugehörigkeit.
Doch nach dem uns vorliegenden Material zu urteilen (Fotos, Videos, Festnahmen), handelte es sich insgesamt um einen Protest Erwachsener mit einem hohen Anteil an Jugendlichen. Dieser sorgt für großes Aufsehen, weil junge Menschen früher nicht an Protesten beteiligt waren – oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Für gewöhnlich gehen sie selten zu Demonstrationen, und zu Wahlen schon gar nicht. Die Jugend ist eine Bevölkerungsschicht, die in unserem politischen Geschehen fehlt.
Quelle: Rosstat
Was wissen wir denn über unsere Mitbürger unter 25? Vor allem, dass es wenige sind. Sehen Sie sich die demographische Pyramide von Russland für 2016 an. Nach den 25- bis 29-Jährigen folgt ein Einbruch: Die Generation, die in der ersten Hälfte der 1990er geboren wurde, ist relativ klein.
Die nächstfolgende Sparte, die heute 15- bis 19-Jährigen, fällt noch kleiner aus. Ab 2002 steigt die Geburtenrate allmählich, und wir sehen an der Basis unserer Pyramide zwei solide Blöcke – die heute Zehnjährigen und Jüngere. Aber es bleibt abzuwarten, ob und wie sie sich am politischen Prozess beteiligen werden.
In unserem politischen Geschehen fehlt die Jugend
Die meisten Studien zur Generation Z dienen Marketing-Zwecken: Man will herausfinden, wie man diesen Menschen Waren und Dienstleistungen am besten verkauft. Dennoch lassen sich aus diesen Studien auch politische Erkenntnisse gewinnen.
Eine jüngere Untersuchung der Firma VALIDATA im Auftrag der Sberbank hatte zum Ziel, allgemeine Merkmale der Russen zwischen 8 und 25 Jahren zu bestimmen. Methodisch griff man dabei auf Fokusgruppen, die Analyse von Sozialen Netzwerken und Experteninterviews zurück.
Eine vergleichbare Studie wurde kürzlich von der US-amerikanischen Firma Sparks & Honey publiziert. Die RANEPA-Forschungsgruppe Monitoring zeitgenössischer Folklore untersucht das Netzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und führt Interviews bei Protestaktionen durch.
Familie geht über die Karriere
Von dem, was man bisher über die russische Jugend herausfinden konnte, hat einiges politische Relevanz: Gute sozialen Fähigkeiten (sie werden als sehr wichtig eingestuft), das Streben nach gemeinsamem Handeln und nach Anerkennung, der hohe Stellenwert moralischer Werte („Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“), das Streben nach Selbstausdruck und Selbstverwirklichung („man selbst sein“, „die richtige Wahl treffen“), das Fehlen eines Generationenkonfliktes – stattdessen warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.
Gleichzeitig stufen Eltern wie Kinder die gegenwärtigen Verhältnisse als chaotisch und unberechenbar ein. Sie glauben nicht an langfristige Planung.
Bei den Kindern drückt sich das darin aus, dass sie keinen festen Job „auf Lebenszeit“ anstreben. Bei den Eltern im fehlenden Wunsch, sich aktiv an den Entscheidungen der Kinder zu beteiligen, denn „sie wissen ja selbst nicht, was der richtige Weg ist“.
Sowohl für die Eltern, als auch für die Kinder ist die Familie das höchste Gut. Die Gründung einer Familie gilt als Erfolg im Leben, der über der Karriere oder dem Geldverdienen steht.
Was können wir daraus schließen? Die fehlenden Spannungen zwischen den Generationen sind eine Besonderheit der neuen Zeit. Menschen, die heute um die 35 oder älter sind, haben weitaus häufiger ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern. Die meisten von ihnen sind derzeit oder schon länger mit ihren Eltern zerstritten.
Die heutige Jugend geht für die Alten auf die Straße
Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie. Eltern und Kinder teilen dieselben Wertvorstellungen, die sich grob unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ zusammenfassen lassen (diese russische Grundtugend bedeutet mal „Ehrlichkeit, mal „Gleichheit“ und mal „Bestrafung“).
Jung und Alt stören sich an derselben Ungerechtigkeit, aber ihre Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Die Kinder werden eher aktiv, die Eltern bleiben eher passiv.
Vom politischen Standpunkt betrachtet ist offensichtlich, was die jungen Menschen brauchen: eine Zukunftsvision, klare Perspektiven, Spielregeln, die sie als fair empfinden, und Aufstiegschancen.
Nicht nur, dass sie diese im Augenblick nicht sehen. Es spricht nicht einmal jemand mit ihnen über diese Probleme. Sie hören ständig nur Debatten über Themen von gestern – die Sowjetzeit, die Vorsowjetzeit, die frühen 1990er, die frühe Putinära. Und über die vergleichsweisen Vorzüge von verschiedenen Toten – Stalin, Breshnew, Iwan der Schreckliche, Nikolaus II. Verständlicherweise steht das einem jungen Menschen bis zum Halse.
Ziel der Fernsehpropaganda ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn
Menschen unter 25 sind mit dem Internet aufgewachsen, sie leben im Internet. Es ist nicht so, dass sie überhaupt nicht fernsehen, aber sie sehen anders fern. Sie schauen sich einzelne Sendungen an, die sie auf Youtube finden. Zur Unterhaltung benutzen sie Youtube, zur Information und Kommunikation die Sozialen Netzwerke. Entsprechend geht die TV-Propaganda an ihnen vorbei. Und selbst, wenn sie das anhören, verstehen sie nicht, was man von ihnen will.
Denn unsere ganze Propaganda ist auf den Sowjetmenschen zugeschnitten. Ihr Ziel ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn. Wenn jemand diese Areale nicht hat, weil sie ihm nicht schon bei Geburt eingepflanzt wurden, dann plätschert das alles an ihm vorbei.
Eine weitere unterschätzte Tugend, die die Kinder- und Elterngeneration verbindet, ist, was man in einem „gesunden“ politischen Regime Gesetzestreue nennen würde. Im politischen Regime des Rauchers dagegen ist genau das ein Protestinstrument: das Bemühen, Regeln einzuhalten, und der Wunsch, dass auch andere das tun.
Die Vorgänge bei uns sind ein ‚legalistischer Protest‘ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption
Denken Sie an die Proteste von 2011/2012. Weder damals noch bei den Ereignissen vom 26. März gingen die Menschen spontan auf die Straße. Es waren organisierte Kundgebungen mit bestimmten Anliegen. Mal waren sie genehmigt, mal nicht, aber immer gewaltfrei. Es waren keine Revolten – noch nicht einmal Proteste gegen die bestehende Ordnung als Ganzes, bei denen Parolen wie „Nieder mit …“ oder „Aristokraten an die Laterne“ skandiert worden wären. Sowas gibt es bei uns nicht (zumindest bisher nicht).
Die Vorgänge bei uns sind ein „legalistischer Protest“ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption. Menschen fordern die Einhaltung der Gesetze und fühlen sich damit offensichtlich ausreichend im Recht, um das hohe Risiko, das ein Protest mit sich bringt, auf sich zu nehmen.
Ein Gefühl der Verbundenheit
Für Menschen unter 25 sind soziale Interaktion und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen ausgesprochen wichtig. Ihre Generation hat jene für die Sowjetzeit typische Atomisierung überwunden. Dementsprechend hängt ihr weiteres politisches Handeln davon ab, ob sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlen und deren Unterstützung spüren (erinnern wir uns an die gewünschte „Anerkennung“) oder ob sie sich einsam und allein gelassen fühlen.
Jeder Mensch hat Angst vor Ausgrenzung. Jungen Menschen ist es allerdings besonders wichtig, nicht zum Außenseiter zu werden. Wenn sie sich nicht als Minderheit und Outcasts empfinden, sondern als Teil eines Netzwerks, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre sozialpolitische Aktivität fortsetzen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der jüngeren Generation Erfahrung in Freiwilligendiensten und ehrenamtlicher Tätigkeit mitbringt.
In diesem Punkt besteht eine Ähnlichkeit zwischen der US-amerikanischen Gen Z und den jungen Russen. Außerdem ist eine moralisch relevante Gemeinschaftsaktivität das beste Mittel gegen Angst.