38 Prozent aller Russen, so ermittelte das renommierte Lewada-Zentrum, befürworteten das Handeln derer, die Nawalnys Protestaufruf vom 26. März gefolgt waren.
Vedomosti hat bekannte Sozialwissenschaftler dazu befragt: eine Zahl und ihre unterschiedlichen Interpretationen.
Quelle: Lewada-Zentrum
38 Prozent der Russen befürworten das Handeln der Menschen, die am 26. März zu Massenprotesten gegen Korruption in der Regierung auf die Straße gegangen sind, so die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums.
Ebenfalls 38 Prozent denken, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Situation im Land die Bürger dazu gebracht hat zu protestieren. 36 Prozent erklären die Demonstrationen damit, dass die Menschen ihrer Empörung über Korruption Ausdruck geben wollten. Nur 24 Prozent glauben, die Demonstranten seien bezahlt worden.
Quelle: Lewada-Zentrum
Mehr als 60 Prozent der Befragten geben an, über die russlandweiten Proteste vom 26. März „gut Bescheid zu wissen“ oder zumindest „davon gehört“ zu haben. Die Umfrage belegt außerdem einen radikalen Einbruch der Zustimmungswerte des Premiers Dimitri Medwedew, der hauptsächlichen Zielscheibe der Proteste: Innerhalb eines Monats sind seine Zustimmungswerte um zehn Prozentpunkte gesunken, die Regierung verlor sechs Prozentpunkte.
Das Interesse an den Demonstrationen sei wesentlich geringer als 2011/2012, obwohl die Motive der Teilnehmer in etwa dieselben seien, so der stellvertretende Leiter des Lewada-Zentrums Alexej Grashdankin. Damals hätte es außerdem mehr als doppelt so viele Befürworter gegeben, als Menschen, die sie ablehnten. Heute hielten sich Befürwortung und Ablehnung in etwa die Waage, sagt er und fügt hinzu: „In den Jahren 2014 und 2015 hingegen war die Ablehnung im Zweifel doppelt so hoch wie die Befürwortung.“
Die Mobilisierung der Gesellschaft werde wieder abnehmen, aber das Vertrauen in die Regierung sei sowieso höher als 2013, so der Soziologe. „Ein Abwärtstrend bei den Zustimmungswerten der Regierung und der Machtorgane besteht seit 2015. Aktueller Auslöser für den Stimmungsumschwung ist das Video des Fonds für Korruptionsbekämpfung über Medwedew gewesen. Das Verhältnis zu Putin ist unverändert, aber Medwedews Zustimmungswerte sind just wegen des Videos um zehn Prozentpunkte gefallen.“
Quelle: Lewada-Zentrum
Grashdankin berichtet, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad Höchstwerte erreicht habe. Gleiches gilt für die potenzielle Bereitschaft, bei der Präsidentschaftswahl für ihn zu stimmen: Kannten ihn im April 2011 nur sechs Prozent der Befragten und waren nur zwei Prozent bereit, ihn zu unterstützen, so kennen ihn jetzt 55 Prozent. Davon können sich rund zehn Prozent vorstellen, für ihn zu stimmen, zwei Prozent sind sich dessen sicher.
Quelle: Lewada-Zentrum
„Momentan können wir von einem Gleichgewicht zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Proteste sprechen. Wenn die Regierung keine Gegenmaßnahmen ergreift, könnte die Zahl der Befürworter (der Protestaktionen – Vedomosti) wieder steigen. Um die Protestwelle zu brechen, hat man seinerzeit die (TV-Dokumentationsreihe – Vedomosti) Anatomie des Protestes und Gerichtsprozesse auf Sendung gebracht; bisher ist die Propaganda-Artillerie noch nicht in Stellung gebracht, aber nichts würde dem entgegenstehen, es wieder zu tun“, so Grashdankin.
Keine offizielle Stellungnahme der Regierung
Die Regierung hat bislang auf offizielle Stellungnahmen zu den gesunkenen Zustimmungswerten des Premiers verzichtet. „Die Zustimmungswerte der Regierung und des Premiers fallen immer niedriger aus als die des Präsidenten, denn die Regierung fällt die unliebsamen wirtschaftlichen Entscheidungen. Deswegen sieht man schwankende Umfragewerte im Weißen Haus gelassen“, erklärte ein Mitarbeiter des Regierungsapparats gegenüber Vedomosti.
Die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter vom 26. März bedürfe einer Überprüfung, man könne noch nicht eindeutig sagen, ob sich eine neue Protestwelle entwickle, meint der Politologe Konstantin Kostin. „Betrachtet man die Dynamik von 2011/2012, stellt man fest: Je weniger Proteste es gab, desto mehr Menschen fanden es in Ordnung, dass jemand auf die Straße geht, um seine Rechte einzufordern. Noch nicht einmal der Maidan hat daran etwas geändert, nur während der Krim-Mobilisierung sank die Bereitschaft, an Protestaktionen teilzunehmen.“
Aus den Ergebnissen des Lewada-Zentrums Schlüsse über die Präsidentschaftswahl zu ziehen, das sei erst recht schwierig, erklärt Kostin und fährt fort: „Bei den jetzigen Aktionen ist der Kern der Protestbewegung auf die Straße gegangen, dazu kamen Menschen, die Lösungen für bestimmte lokale Probleme forderten, außerdem gab es noch eine situative Reaktion der Jugend.“ Kostin bezweifelt, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad 55 Prozent erreicht hat.
Der Politologe Alexander Kynew findet die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter überwältigend, mahnt jedoch zur Skepsis: In den Medien, aus denen der Großteil der Bevölkerung seine Informationen bezieht, sei die Darstellung der Proteste ausschließlich negativ.
Der Protest werde vielen zugutekommen, nimmt der Politologe Abbas Galljamow an: „Vor allem ist er gut für die Systemopposition, denn im Gegensatz zu Nawalny wird sie auf den Stimmzetteln stehen. Sie muss jetzt nur noch ihre Protest-Rhetorik hochfahren und kann den Zustimmungsraten beim Wachsen zusehen.“
Aber auch Nawalny habe Grund zum Optimismus: Wenn so viele Menschen in Erwägung ziehen, für ihn zu stimmen, dann bedeute es auch, dass die Zahl derer, die seinem Aufruf, auf die Straße zu gehen, folgen würden, in die Millionen gehen könnte, so Galljamow. „Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht – indem beispielsweise der Premier am Tag der Proteste schreibt, er sei schön Skifahren gewesen, oder die Regierung die Rechtswidrigkeit der Proteste vom 26. März in den Vordergrund stellt, während sie selbst demonstrativ gegen das Gesetz verstößt, wenn sie Veranstaltungen organisiert – dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern.“
Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht, dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern
Für Putin seien eine apolitische Einstellung und ein zügiger Verlauf der Präsidentschaftskampagne von Vorteil, davon ist Galljamow überzeugt: „Eine Politisierung schadet der Regierung. Jetzt, wo der Protest wieder in Mode kommt, gilt für die Regierenden: Je weniger Politik, desto besser.“ Bei den Regionalwahlen im September werde sich die Agenda des Protests nur verstärken, lautet seine Einschätzung.
Bis zur [Präsidentschafts-] Wahl sei es noch lange hin. Dass die Proteste so lange anhalten, sei natürlich möglich, aber unwahrscheinlich, meint der Politologe Michail Winogradow: „Die 38 Prozent beweisen, dass das Thema Korruption sowohl bei den Regimekritikern als auch bei den Regierungsanhängern Anklang findet. Das eröffnet der Opposition die Möglichkeit, um die Sympathie der Regierungsanhänger zu kämpfen. Offen bleibt nur die Frage, ob die Protestierenden es schaffen, das öffentliche Interesse aufrechtzuerhalten, und die Spaltung in der Gesellschaft.“
Wenn sie das schaffen, würde es zu einer höheren Wahlbeteiligung und einer geringeren Machtdemonstration der bestehenden Regierung führen, fährt er fort. Wir würden dann wahrscheinlich dieselbe Taktik wie 2011 beobachten: Man stimmt für jede x-beliebige, nur nicht für die Regierungspartei.
Davon könnten Politiker wie Jewgeni Roisman in Jekaterinburg profitieren. „Aber die Leute beachten nicht, was in anderen Regionen geschieht. Auch wenn ich die Wahlen in der Oblast Swerdlowsk allzu gern als ein Beispiel für Offenheit heranziehen würde, heißt das noch lange nicht, dass die Moskauer oder die Petersburger sich dafür überhaupt interessieren.“