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Jenseits von links und rechts

Sozialdemokratisch, liberal und konservativ oder schlicht links und rechts – das sind vertraute Zuschreibungen für politische Akteure in (west)europäischen Staaten. Auf das aktuelle politische System in Russland lassen sie sich nicht einfach übertragen, schon gar nicht eins zu eins. Wie aber werden Parteien oder politische Persönlichkeiten stattdessen verortet, insbesondere die außerparlamentarische Opposition? In ihrer Kritik an Präsident Putin erscheint gerade sie auf den ersten Blick wie ein zusammenhängender Block. Was vielen nicht klar ist: Oft genug sind die verschiedenen Gruppen untereinander jedoch völlig zerstritten.

Woran genau scheiden sich die politischen Geister in Russland? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Politologe Wladimir Pastuchow auf republic. Dabei geht er von einer umstrittenen Diskussion aus, die kürzlich der bekannteste russische Oppositionspolitiker öffentlichkeitswirksam geführt hat: Alexej Nawalny. Weil der sich ausgerechnet den Ex-Separatistenführer Igor Strelkow an den Youtube-TV-Tisch holte, musste er massive Kritik einstecken. Aus den großen Streitfragen, die dabei aufkommen, strickt Pastuchow eine handliche Typologie russischer Sichtweisen auf die Politik.

Source Republic

Die Diskussion zwischen Nawalny und Strelkow ist ein außergewöhnliches Ereignis, was auch immer darüber geschrieben wurde. Mit Blick auf die vergangenen Jahre war es das eindrucksvollste öffentliche Aufeinanderprallen aller bedeutenden russischen Ideenwelten aus der neueren Geschichte des Landes – bislang hatten sich die Seiten lieber auf Ideenkarate ohne Körperkontakt verlegt.

Es sei jedoch angemerkt, dass ideologisch gesehen, nicht zwei, sondern drei Seiten an der Diskussion beteiligt waren: Im Studio war auch der Geist der russischen liberalen Opposition anwesend. Und damit ist nicht mal vordergründig der Moderator Michail Sygar gemeint, der mit am Tisch saß, sondern vielmehr der allgemeine mediale und politische Kontext, in den die Diskussion von Beginn an versunken war.

Die zentrale Frage nach der Staatsmacht

Die einzige zentrale, in Russland sowohl politisch als auch ökonomisch relevante, Frage war die nach der Staatsmacht. Darauf gaben die Teilnehmer eine ausführliche, wenn auch unbefriedigende Antwort. Zwar wird Nawalny oft vorgeworfen, ihm fehle ein Programm. Doch in Wirklichkeit hat er alles gesagt, was man über seine Ansichten als russischer Politiker wissen muss: Er hat sein Verhältnis zur Staatsmacht deutlich zum Ausdruck gebracht.

Eine politische Ideologie gibt es in Russland nicht und es kann auch keine geben, weil Russland nach wie vor eine vorpolitische Gesellschaft ist. Sie ist noch nicht an den Punkt gelangt, wo sich die Staatsgewalt vom Eigentum löst und ein „politisches Feld“ erschafft. Deswegen ist es völlig sinnlos, russische Politiker danach zu befragen, ob sie rechts oder links stehen. Die Matrix von rechts und links ist auf Russland überhaupt nicht anwendbar. Denn sie leitet sich aus dem Verhältnis zum Privateigentum ab, das es in Russland nach wie vor nicht gibt.

Die Grundlage des russischen Lebens bildete über viele Jahrhunderte das Herrschereigentum, das Erbe des Wotschina-Systems. Es stellt den Ursprung von Recht und Reichtum in Russland dar. In der gesamten russischen Politik dreht sich alles genau darum. Erklärt ein Politiker seine Haltung zur staatlichen Macht, hat er die Frage nach seinem Programm umfassend beantwortet – mehr brauchen wir nicht zu wissen, weder über ihn noch über das Programm.

Drei Sichtweisen zum Thema Staatsmacht: patriotisch, liberal, progressiv

Bei der Diskussion waren mehr oder weniger offenkundig alle drei traditionellen russischen Sichtweisen zu diesem heiklen Thema vertreten:

Die patriotische Haltung (auch die slawophile genannt), war repräsentiert durch Strelkow: Die Staatsgewalt ist a priori das Gute („Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet.“). Sie ist die unmittelbare und irrationale Verkörperung des gemeinschaftlichen Geistes und bedarf keiner weiteren Legitimation. Sie braucht weder Schutz noch Beschränkung durch äußere Kräfte, sondern muss immer und ausschließlich in ihrem eigenen Interesse handeln, das per se mit den Interessen der russischen Gesellschaft übereinstimmt. Wodurch die Demokratie in Russland nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich ist, denn sie könnte die natürliche Einheit zwischen Volk und Staatsmacht zerstören und zu einem Instrument in den Händen von Plutokraten sowie inneren und äußeren Feinden Russlands werden.

Die liberale Haltung (auch die westliche genannt), war repräsentiert durch das liberale Publikum, an das sich sowohl Nawalny als auch Strelkow wandte: Die Staatsgewalt ist a priori das Böse. Sie steht im Widerstreit mit der Gesellschaft. Ihre Interessen sind den Interessen der Gesellschaft entgegengesetzt, deswegen muss sie permanent kontrolliert und beschränkt werden. Sie muss dazu angehalten werden, im Interesse der Gesellschaft zu handeln, also entgegen ihren eigenen, egoistischen, „blutrünstigen“ Interessen. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung von demokratischen Institutionen überlebensnotwendig für Russland. Denn nur durch Demokratie lässt sich die Bestie im Zaum halten. 

Die progressive Haltung (auch die revolutionär-demokratische genannt), repräsentiert durch Nawalny: Die Staatsgewalt ist an sich neutral. Alles hängt davon ab, in wessen Händen sie liegt. Liegt die Macht in „schlechten“ Händen, ist sie „reaktionär“ und muss bekämpft werden. Liegt sie in „guten“ Händen, ist sie „progressiv“ und verdient Unterstützung. Die Interessen einer reaktionären Staatsmacht widersprechen den Interessen der Gesellschaft, die Interessen einer guten Staatsmacht entsprechen denen der Gesellschaft. Deswegen ist die Demokratie in Russland in dem Ausmaß nützlich, in dem sie der Staatsmacht hilft, in guten Händen zu bleiben. Tut sie dies nicht, kann und sollte sie beschränkt werden (Zweckmäßigkeit vor formeller Rechtmäßigkeit).

Der vertikal organisierte Staat erscheint alternativlos

Sowohl aus historisch als auch aus streng inhaltlichen Gründen bilden die progressiven, revolutionär-demokratischen Ideen eine ganz eigene Symbiose aus Westlertum und Slawophilie. Die Progressiven erkennen die rationale Notwendigkeit an, die Staatsgewalt der Gesellschaft unterzuordnen, ihre Vorstellung von Staatsgewalt bleibt jedoch irrational.

In äußerst verkürzter Form lassen sich die drei herrschenden ideologischen Trends in Russland folgendermaßen zusammenfassen: Man muss der Staatsmacht dienen (Patrioten), man muss die Staatsgewalt bekämpfen (Liberale) und man muss die Staatsgewalt nutzen (Progressive).
Auch wenn die Distanz zwischen diesen drei Positionen auf den ersten Blick enorm  erscheint, liegen sie in Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander. Denn sie gehen von derselben Grundlage aus: Die russischen Patrioten, die russischen Liberalen und die russischen Revolutionär-Demokraten (die Progressiven) erkennen allesamt die objektive Alternativlosigkeit, ja sogar Notwendigkeit eines streng zentralisierten, von oben nach unten organisierten, vertikal integrierten Staates für Russland an.

Der Leviathan als „guter Onkel“, die Gesellschaft als infantiler Teenager

Aus verschiedenen, sich nicht selten gegenseitig ausschließenden Gründen beten restlos alle – Patrioten, Liberale und revolutionäre Demokraten –  den  russischen Leviathan an. Ihre Einschätzungen, was den russischen Staat betrifft, gehen zwar auseinander, doch betrachten sie ihn alle als einen „sozialen Demiurgen“ und den einzig möglichen Ursprung aller Politik. Die Staatsmacht erscheint ihnen als eine Kraft, die sich von der Gesellschaft losgelöst hat und ein Eigenleben führt. So ein Blick auf die Staatsmacht geht meist mit dem Blick auf die Gesellschaft als einem infantilen Teenager einher. 

Für die Patrioten mangelt es der russischen Gesellschaft zu sehr an Standhaftigkeit gegenüber dem schlechten Einfluss des Westens, als dass man ihr vertrauen könnte. Für die Liberalen hingegen ist die russische Gesellschaft zu archaisch und reaktionär, als dass man das Schicksal in ihre Hände legen könnte. Für die revolutionären Demokraten ist die Gesellschaft traditionsgemäß kein Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Insgesamt sind sich alle einig: Von der russischen Gesellschaft ist außer Wirren nichts zu erwarten. Die einen vertreten offen, die anderen unterschwellig die Annahme, sie brauche bis heute einen „guten Onkel“. 

Liberale hoffen insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht 

Formal stehen die Liberalen im Kampf gegen den Leviathan in der ersten Reihe. Sie der Liebe zu ihm zu bezichtigen, ist also ziemlich schwierig. Doch es gibt einen Lackmustest, der etwas erkennen lässt, worüber man unter Liberalen nicht laut spricht, zumindest nicht öffentlich. Der Indikator ist das Zustimmungs-Level für liberale Ideen in der russischen Gesellschaft – diese Zustimmung überstieg bisher noch nie die derzeitigen „14 Prozent“, die schon zum Mem geworden sind. 

Die bittere Wahrheit für die Liberalen ist: Auf dem sogenannten demokratischen Weg können sie nicht an die Macht kommen. Bei wirklich demokratischen Wahlen in Russland wird ein Strelkow immer bessere Chancen haben als jeder liberale Kandidat. Wenn die Liberalen also von Demokratie und der freien Wahl des russischen Volkes sprechen, hoffen sie insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht und ihre Fähigkeit, ein Programm umzusetzen, das dem Großteil dieses Volkes fremd ist. Das ist kein Vorwurf, lediglich die Feststellung unangenehmer Fakten, die einen gewichtigen historischen und kulturellen Hintergrund haben.

Progressive haben eine Chance, an die Macht zu kommen

Gemessen an der liberalen Utopie erscheinen die bolschewistischen Ansprüche der Progressiven um Nawalny ehrlicher, oder zumindest praktikabler. Die erklärten Ziele der Liberalen sind genauso unerreichbar wie die der Progressiven, aber die Progressiven haben zumindest eine Chance, an die Macht zu kommen. Darüber, was sie dann mit dieser Macht tun wollen, sprechen sie vorsorglich nur in äußerst allgemeinen Formulierungen. Das ist zumindest ehrlich.

Es gibt verschiedene Arten von Autokratien – orthodoxe, kommunistische, antikommunistische, korrupte und sogar antikorrupte. Bei der Diskussion lieferte keine der Parteien eine Antwort auf die Frage, welche institutionellen (konstitutionellen) Reformen durchgeführt werden müssten, um Russland aus dieser festgefahrenen Spur zu reißen und die Möglichkeit einer weiteren „oligarchischen“ Regierung zu verhindern. Die Ironie des Schicksals liegt darin, dass es Chodorkowski ist, der versucht, eine Antwort zu liefern und so als Beispiel dafür dient, dass Revolutionen in der Regel von Verrätern ihrer Klasse gemacht werden.

Allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt seit Katharina der Großen unangetastet
 

Die Idee besteht darin, sich grundsätzlich vom streng zentralisierten Modell einer vertikal integrierten Staatsgewalt zu verabschieden sowie eine Reihe von formalen Beschränkungen einzuführen, die eine weitere Reproduktion dieses Modells in Russland unmöglich machen. 

Es geht also um eine tiefgreifende politische Reform für Russland, die jene allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt zerstören soll, die praktisch seit den Zeiten von Katharina der Großen unangetastet geblieben ist. Diese Reform müsste mindestens drei Hauptkomponenten einschließen:

Ein unbedingter Machtwechsel. Mit Blick auf die historische Erfahrung und Russlands „übles politisches Erbe“ gilt es Maßnahmen zu ergreifen, damit niemand, und zwar unter keinen Umständen, langfristig oder gar auf unbegrenzte Zeit, Schlüsselpositionen in der Regierung bekleiden kann, einschließlich des Postens des Staatsoberhaupts. Dazu muss es in der russischen Verfassung und in den Verfassungsgesetzen eindeutige Formulierungen geben. 

Eine tiefgreifende Dezentralisierung von Macht. Das ist der wichtigste und inhaltlich weitreichendste Punkt der politischen Reform. Er beinhaltet zwei Kernpunkte: den Übergang zu einer tatsächlichen Föderalisierung und den Ausbau der Selbstverwaltung, auch in den Metropolen. 

Dabei wird vorausgesetzt, dass eine echte Föderalisierung kein mechanischer Prozess ist, bei dem „so viel Souveränität, wie ihr tragen könnt“ an die bereits bestehenden, halbfiktiven territorialen Gebilde übergeben wird. Es geht um eine tiefgreifende Umstrukturierung des gesamten Beziehungssystems zwischen der Staatsführung in Moskau und den Regionen, die auch die Bildung neuer Föderationssubjekte vorsieht.

Und schließlich einen Übergang zur parlamentarischen (oder auch parlamentarisch-präsidialen) Republik. Der Erhalt der bestehenden Regierungsform ist nicht zweckdienlich, sowohl wegen ihrer tiefen Verwurzelung in einer autokratischen Tradition als auch wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der angestrebten Organisationsstruktur der Beziehungen zwischen Moskau und den Regionen. Diese Struktur erfordert eine andere politische Repräsentationsform. In der neuen Konfiguration der Staatsmacht steht die Regierung in der Verantwortung vor dem Parlament, sie muss das zentrale Element beim Aufbau der Staatsmacht bilden.

Situation in Russland erinnert stark an ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren

Einerseits erinnert die Situation in Russland stark an die ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren und könnte durchaus genauso traurig enden. Andererseits gibt es einen wesentlichen Unterschied zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Heute haben die Widersprüche zwischen den Liberalen und den revolutionären Demokraten keinen antagonistischen Charakter (auch wenn die Leidenschaften hochkochen). Und das bedeutet, dass ein Kompromiss und eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. 

Nawalny, der von allen Seiten der Kritik ausgesetzt ist – von rechts und links, von oben und unten – hat in Wirklichkeit noch nichts getan, das die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit mit den Liberalen ausschließen würde. Das vom Kreml aufgedrängte und von einem Teil der liberalen Intellektuellen aus Konjunkturgründen aufgegriffene Klischee von Nawalny als einem „Faschisten“ entbehrt jeglicher politischer und ideologischer Grundlage. 

Nawalny ist ein typischer Vertreter der russischen revolutionär-demokratischen Tradition. Er ist natürlich kein Bolschewist im herkömmlichen Sinne, aber ein enger Verwandter der Bolschewisten. Die Wurzeln seiner politischen Philosophie (und die gibt es, glauben Sie mir) gehen auf die Narodniki zurück. Das ist, wie die russische und die Weltgeschichte gezeigt haben, politisch zwar auch „kein Zucker“, hat aber nichts mit Faschismus zu tun. 

Russische Politik ist wie ein Videospiel mit vielen Levels

Zudem wissen wir aus der historischen Erfahrung, dass die Weigerung der Liberalen, mit den revolutionären Demokraten zusammenzuarbeiten, den Faschisten den Weg zur Macht bereitet hat. Genau das geschah nämlich im Deutschland der 1930er Jahre, wo der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Thälmann objektiv betrachtet Hitler in die Hände spielte. 

Die aktuelle russische Politik erinnert an ein Videospiel: Es gibt viele Levels, aber das nächste Level erreicht man nur, wenn man die Aufgaben des vorherigen erfüllt hat. Für die Opposition gibt es nichts gefährlicheres als den Versuch, ein oder sogar zwei Level zu überspringen, indem sie beginnt, die Probleme der nächsten Stufe zu lösen, bevor die aktuellen gelöst sind. 

Um das erste Level abzuschließen, müssen die liberalen und die revolutions-demokratischen Kräfte einen konstitutionellen Konsens bilden. Das ist die Conditio sine qua non für einen Sieg der Opposition und das Hauptmerkmal ihrer politischen Reife. 

Im Gegensatz zu dem, was Lenin forderte, muss sich die heutige Opposition zunächst vereinen und später voneinander abgrenzen.

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Oktoberrevolution 1917

Die Revolutionen des Jahres 1917 markierten eine Zeitenwende in Russland: Im Februar der Sturz des letzten Zaren und nur wenige Monate später, am 7. und 8. November, der Sturz der Übergangsregierung durch die Bolschewiki unter Führung von Lenin. Robert Kindler über Ursachen und Folgen der Oktoberrevolution.

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Liberale in Russland

Selbst Menschen, die sich als liberal verstehen, zögern in Russland oft, sich so zu bezeichnen und gehen dem Wort aus dem Weg – in der Absicht, keine unerwünschten Assoziationen hervorzurufen. Seit Lenins Zeiten belegte man mit dem Begriff einen besonderen Typus von Gegnern im Ausland: solche, die weder bourgeois genug waren, um sie als Feinde zu betrachten, und zugleich zu weit vom „Volk“ entfernt standen, um mit ihnen auch nur vorübergehende Bündnisse zu schließen. In der frühsowjetischen Zeit erlangte der Begriff „Liberaler“ seine besondere Bedeutung, die bis heute erhalten ist: ein „politischer Schwächling“.

Bis zur Revolution im Jahr 1917 existierte noch keine negative Konnotation des Wortes (nicht zuletzt, weil es noch keine ausdrücklich liberalen politischen Kräfte gab). Wenngleich das Wort „Liberaler“ ein wenig fremd, unrussisch, importiert klang1 und durchaus in abwertenden Kontexten auftauchte2, war es doch mit seiner ursprünglichen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Bedeutung noch eng verbunden.

Die zunehmende Entfernung des Worts von seinen vorigen Bedeutungen, wie sie sich in der Sowjetzeit herausbildete, brachte eine paradoxe Situation mit sich: Im Laufe der 2000er Jahre verbreitete sich die Auffassung, Liberale seien „verantwortungslose Staatsgegner“, und vom Wort blieb eigentlich nur noch seine Verwendung als Beschimpfung übrig, für Menschen, die „unfähig sind, Dinge zu regeln“ und die „sich gegen den Staat wenden, weil sie zu nichts anderem in der Lage sind“.

Liberalismus als westliche Krankheit

Der einzige Fall, in dem eine politische Partei das Wort „liberal“ erfolgreich einsetzen konnte, ist die Liberal-Demokratische Partei der Sowjetunion (später – Russlands), die Wladimir Shirinowski im Jahr 1990 als „erste Oppositionspartei der Sowjetunion“ gründete – mit mutmaßlicher Unterstützung des KGB. Heute ist die LDPR eine radikal rechte Vereinigung, die mit eiserner Disziplin ihrem Gründer und ewigen Vorsitzenden ergeben ist. Beide Labels – „demokratisch“ und „liberal“ – verwendet die Partei in einem Sinne, der der geläufigen Bedeutung in Europa diametral entgegensteht.3

Aus der sowjetischen politischen Sprache überlebte die Deutung des Begriffs des Liberalismus als westliche Krankheit politischer Schwäche, Schlampigkeit und Unfähigkeit, für seine Interessen einzustehen. Zugleich etablierte sich durch die LDPR die Vorstellung der „liberalen Demokratie“, die sich mit Shirinowskis demagogischer Rhetorik verband. Zusammengenommen wirkten diese beiden Einflüsse zerstörerisch auf den Begriff des Liberalismus: Das Wort kann heute beinahe alles bedeuten.

Der Liberale wurde zum politischen Hipster

Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der Jahre 1999 bis 2016 wurde der Liberale in Russland zum politischen Hipster, der in der traditionell homophoben russischen Gesellschaft auch als „Liberast“ (Liberal + Päderast)  bezeichnet wird. Diese Bezeichnung reduziert das Konzept des Liberalismus auf eine plumpe Beschimpfung, die man gegen jedweden politischen Gegner einsetzen kann. Dadurch, dass der Begriff in die Nähe einer sexuellen Normabweichung rückte, wurde er als politisches Identifikationsmerkmal vollständig entwertet. Es ist daher kein Zufall, dass in den heutigen Diskussionen der beliebte Terminus „Pseudoliberalismus“ als Synonym für Liberalismus gebraucht wird.

Drei Typen des Liberalen

Die Verwendung des Begriffs in den unabhängigen Medien reflektiert zwar oft diese Schimpfwort-Eigenschaft, meistens wird „liberal“ hier aber im lexikalischen Sinne benutzt. Auch gibt es Stimmen, die den Begriff normativ fassen und ihn zum Beispiel analog zum Solidaritätsprinzip der westeuropäischen Gesellschaften begreifen. Daneben sind einzelne zaghafte Versuche anzutreffen, das Stigma positiv umzudeuten: Als ein sogenanntes Geusen-  beziehungsweise Trotzwort soll sich sowohl „liberal“ als auch „liberast“ von der diffamierenden Bedeutung lösen, wie es beispielsweise die US-Schwulenbewegung der 1970er und 1980er Jahre bei dem Begriff „homo“ vorgemacht hat.  

Insgesamt wird das Wort in der modernen russischen Sprache aber vor allem für Personen und weniger für eine politische Orientierung gebraucht. Es gibt im Wesentlichen drei Typen, die verschiedene Facetten des Liberalismus im russischen Verständnis verkörpern. Da ist zunächst Boris Nemzow: Als „Liberast“ (oder politischer Liberaler) wurde er dargestellt als unbeholfener Kritiker der Staatsmacht, als schwacher Oppositioneller, der Freiheit predigt, aber unfähig ist, für sie zu kämpfen.

Zweitens gibt es die so genannten Systemliberalen wie etwa Anatoli Tschubais, Andrej Illarionow oder Alexej Kudrin: Personen, die mit den Mächtigen in engem Kontakt stehen und maximale wirtschaftliche Freiheit fordern, doch dabei von der starken Hand des Staates abhängig sind.

Drittens bezeichnet „Liberaler“ den angeblich käuflichen und zynischen westlichen Politikertypus, der vordergründig von Russland die Einhaltung der Menschenrechte verlangt, in Wahrheit aber bereits davon träumt, bei erster Gelegenheit einen persönlichen Vorteil aus einer politischen und wirtschaftlichen Öffnung (Liberalisierung) Russlands zu ziehen.

Die Begriffsverwirrung um das Liberalismus-Konzept im russischen Sprachgebrauch zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass in russischen Universitäten der politische Liberalismus ausschließlich als zeitgenössisches europäisches Phänomen untersucht wird. Eine Behandlung des Begriffs im russischen Kontext findet – bezeichnenderweise – nicht statt.


1.Vgl.: „Er entpuppte sich als europäischer Liberaler, der seine Theorien nicht an die russischen Umstände anpassen konnte.“ E.A.Draschusowa. Erinnerungen (1848); „Der Liberalismus ist keine Sünde, er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservativismus. Ich greife jedoch den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, dass ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Russland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler.“ (Fjodor Dostojewski, Der Idiot, Übersetzung von H. Röhl)
2.Vgl.: „Teufel nochmal, warum sagt er, [ich sei] ein Liberaler; ich sage dir: Alle Liberalen sind Schweine.“ Nikolaj Leskow, Ohne Ausweg (1864)
3.Im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen lagern zahlreiche Dokumente der LDPR. Sie könnten aufschlussreich für Forscher sein, die die Versuche der deutschen FDP, in den 1990er Jahren mit der LDPR in Kontakt zu treten, untersuchen wollen. Vom Namen der Partei angezogen, waren die deutschen Liberalen sehr verwirrt, als sie hinter der hübschen Fassade eine chauvinistische, etatistische Organisation vorfanden, die in ihrem ganzen Wesen eigentlich unpolitisch ist.
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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Alexej Kudrin

Alexej Kudrin (geb. 1960) war zwischen 2000 und 2011 Finanzminister Russlands. Er gilt als einziger Politiker aus dem engeren Kreis Putins, der sowohl im Ausland als auch bei einem Teil der oppositionell gestimmten Bürger Vertrauen genießt. Er trat von seinem Ministerposten zurück, weil er nach Eigenauskunft nicht bereit gewesen war, in der damals anberaumten Regierung von Dimitri Medwedew mitzuarbeiten. Seit Beginn der russischen Wirtschaftskrise kehrte der promovierte Ökonom schrittweise in die Politik zurück. Im April 2016 übernahm er den Ratsvorsitz des regierungsnahen Thinktanks Zentrum für strategische Entwicklung (ZSR). Dort erarbeitete er eine Strategie zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands. Im Mai 2018 wählte die Duma Kudrin zum Vorsitzenden des russischen Rechnungshofs. 

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Politclown, Nazi, Kriegshetzer – Wladimir Shirinowski hatte viele Facetten. Mit seiner Partei LDPR war er stets ein zuverlässiger Teil des Systems Putin. Und einer seiner Vordenker. Am 6. April ist er in Moskau verstorben. 

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Die Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit.

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