Die Vorwürfe wiegen schwer: Auf der Geburtstagsfeier des unabhängigen Exilmediums Meduza soll der Chefredakteur und Mitgründer des Mediums, Iwan Kolpakow, bereits stark angetrunken, die Frau eines Mitarbeiters sexuell belästigt haben. Er selbst kann sich nach eigenen Angaben an den Vorfall nicht erinnern, könne also nicht ausschließen, dass es so passiert ist.
Das Ganze geschah Ende Oktober. Meduza nahm sich des Vorfalls schließlich offensiv an und machte ihn Anfang November öffentlich. Das Medium verstand diesen Schritt auch als Teil der „Bestrafung“ Kolpakows, der weiter Chefredakteur bleiben sollte. Meduza betonte, dass es sonst niemals ähnliches Verhalten oder Vorwürfe gegen Kolpakow gegeben habe. Am 9. November erklärte Kolpakow seinen Rücktritt und schrieb dazu in einem Facebook-Post: „Ich gehe, weil ich keinen anderen Ausweg sehe. Weil es so besser ist für Meduza.“
Der ganze Vorfall polarisierte die russische Netzgemeinde stark. Manche lobten die Transparenz, andere, wie etwa RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan warfen Meduza, das etwa auch über sexuelle Belästigung in der Duma kritisch berichtet hatte, „Heuchelei“ vor.
Oleg Kaschin nimmt den Fall und die darum entstandene Debatte zum Anlass, um aus der Metaebene auf die russische Medienszene zu blicken. Und stellt fest: „die Guten“ oder „die Bösen“ gibt es nicht mehr.
Am erstaunlichsten im Streit um die sexuelle Belästigung bei Meduza ist das, was aus dem kremltreuen Lager zu hören ist. Zwar wird ständig betont, dass es nur eine kleine lettische Onlinezeitung ist, doch die Freude über deren Fiasko ist so unbändig, als ginge es um die Aufhebung sämtlicher westlicher Sanktionen gegen Russland oder um die Anerkennung der russischen Krim durch alle Staaten unseres Planeten oder was es sonst noch an unumstrittenen Anlässen zur patriotischen Freude gibt (Atomkrieg? Die Verhaftung Nawalnys? Ein Oscar für den Film Die Krimbrücke?).
Über Meduza ereifern sich nun wild durcheinander unterschiedliche Autoren – es ist schon klar aus welchem Kreis: von Wladimir Solowjow, Margarita Simonjan und Andrej Babizki bis hin zu unbekannten Namen aus kleineren patriotischen Medien.
Und es wird sogar klar, warum sie sich so freuen – als Leitmotiv zieht sich durch alle Beiträge: „Da haben nun die Liberalen endlich ihr wahres Gesicht gezeigt.“ Gefeiert wird nicht der Sieg über Meduza, sondern über die Liberalen.
Gefeiert wird der Sieg über die Liberalen
Das ist sonderbar, denn der Hauptakteur dieses Skandals ist kein Moskauer Veteran und Urgestein der demokratischen Presse mit einem Gussinski und Beresowski im Portfolio, sondern der Permer Philologe Iwan Kolpakow. Das ist kein Viktor Schenderowitsch.
Über die politischen Ansichten des Chefredakteurs von Meduza ist wenig bekannt, und auch Meduza ähnelt weder Echo Moskwy noch der Novaya Gazeta besonders stark. Handelt es sich um eine parteiliche Zeitung? Ja, wahrscheinlich, aber vor allem insofern, als dass die Partei, deren Interessen Meduza vertritt, Meduza selbst ist. Und der Konflikt um die sexuelle Belästigung ist genau aufgrund dieser Parteilichkeit entstanden – die Redaktion wurde zur Geisel ihrer eigenen Prinzipien: Feminismus, #MeToo und das ganze New-York-Times-Programm.
Feminismus, #MeToo und das ganze New-York-Times-Programm
Eine Gruppe junger Leute, die sich ausmalen, vor dem Fenster sei Manhattan – das sind keine Dissidenten, sondern stiljagi, die russische Entsprechung der Hipster. Doch für RT und andere loyalistische Sprachrohre stellen gerade diese stiljagi eine überaus ernste Bedrohung dar, die überaus ernste Aufmerksamkeit verdient.
Nicht einmal über Nawalny wird so wütend geschrieben wie über Kolpakow, und es fällt ihnen anscheinend gar nicht auf, wie merkwürdig ihre weder dem Vorfall und Ausmaß noch dem Subjekt angemessene Reaktion wirkt.
Als unfreiwillige Verbündete von RT im Kampf gegen Meduza agierte die russische BBC – mit ihrem Artikel begann der Skandal, zudem sieht es ganz danach aus, als hätte Meduza sich nach dem Anruf der BBC gezwungen gesehen, den Konflikt an die Öffentlichkeit zu tragen. Als Meduza sich in einer nächsten Phase des Konflikts von dem Mitarbeiter trennte, mit dessen Beschwerde alles angefangen hatte, war es ausgerechnet ein Journalist der BBC, Ilja Barabanow, der das ganze Selbstverteidigungssystem von Meduza sanft, aber auf tatsächlich sehr schmerzhafte und überzeugende Weise zerlegte.
Aber auch das hat etwas sehr unangenehm Ambivalentes. „Ausländisches Medium, das auf Russisch über und für Russland schreibt“ – unter diese Definition fallen Meduza und die russische BBC gleichermaßen, sie sind direkte Konkurrenten, zudem hat die merklich vergrößerte russische BBC in den vergangenen ein, zwei Jahren mehr Journalisten aus russischen Qualitätsmedien übernommen als alle anderen. Der Angriff der BBC auf Meduza erweckt jetzt den Eindruck eines ziemlich harten Konkurrenzkampfes, der wahrscheinlich darauf ausgerichtet ist, sich die wertvollsten Mitarbeiter der mit Unannehmlichkeiten kämpfenden Zeitung zu schnappen (Ilja Barabanow lässt durchblicken, dass bei Meduza jetzt Leute kündigen).
Eindruck eines harten Konkurrenzkampfes
Versuchen Sie einmal, diesen Konflikt aus der gewohnten Perpektive des Gegensatzpaares kremlfreundliche/kremlkritische Presse zu beschreiben – es geht nicht. Die Konfliktlinien in der Medienlandschaft liegen heute ganz anders als noch in den 2000er und den früher 2010er Jahren. Und die erhöhte Aufmerksamkeit für Meduza hat in vielerlei Hinsicht damit zu tun, dass es mittlerweile überhaupt gar keine größeren unabhängigen Medien mehr gibt. Das Modell Echo Moskwy (die Aktienmehrheit hält Gazprom, Schenderowitsch ist auf Sendung) wirkte einst wie eine Anomalie. Inzwischen ist das ein durchaus universelles Modell.
Mit der Formel „loyaler Medieneigner und rebellische Journalisten“ kann mittlerweile auch die Standards setzende Novaya Gazeta beschrieben werden wie auch das Medienunternehmen RBC mit Vedomosti als Zeitung, wie auch Gussinskis NTW-Abkömmling RTVi. Und angesichts der Tatsache, dass der Name des Investors von Meduza seit vier Jahren geheimgehalten wird, kann man leicht überspitzt sagen, dass auch Meduza auf diese Liste gehört.
An dieser Stelle möchte ich auf ein früher undenkbares Phänomen hinweisen: Gerade die loyalen oder staatlich kontrollierten Medien bieten breitgefächerte Möglichkeiten für die unpolitische Selbstverwirklichung jener Journalisten, die sich sonst mit unerwünschten Dingen beschäftigen würden. Ein Teil des Teams der früheren Afisha kam bei Yandex unter, die Projekte des früheren Chefredakteurs von Doshd, Michail Sygar, werden ebenfalls von Yandex und der Sberbank unterstützt, und sogar der Produzent jener verhängnisvollen Recherchereise nach Zentralafrika, Rodion Tschepel, macht Sachen über Russland mit Unterstützung der Gazprombank.
Das russische Regime war noch nie ein großer Freund der freien Presse, aber in der Rolle ihre Beschützerin fühlt es sich ziemlich behaglich – jedenfalls, solange die Presse (sollen wir sie „bedingt frei“ nennen?) nicht die berühmte doppelt durchgezogene Linie übertritt.
Nur nicht die Linie überschreiten
So gesehen ist der sensationelle Auftritt Kirill Kleimjonows (der nicht einfach Moderator ist ist, sondern der Stellvertreter von Perwy Kanal-Chef Konstantin Ernst) in der Sendung Wremja, in der er sich für Kirill Serebrennikow stark machte, genauso ein Faktum der neuen Medienrealität wie der Konflikt bei Meduza. Perwy Kanal tritt plötzlich mit den gleichen Positionen auf wie beispielsweise Doshd – und für Doshd ist das eine Sensation: Genau wie die Loyalisten von RT sind die unabhängigen Journalisten an eine Weltsicht gewöhnt, in der die „kremltreue“ Presse der „unabhängigen, illoyalen“ gegenübersteht. Doch die Grenzen zwischen „Unabhängigkeit“ und „Kremltreue“ sind inzwischen gänzlich verwischt, und wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass der Kreml bei der Novaya Gazeta seltener mit Weisungen anruft als beim Perwy Kanal?
Früher war es einfacher: Die „Guten“ arbeiteten bei den einen Medien, die „Bösen“ bei den anderen. Jetzt aber gibt es nur eine einzige Richtlinie eines einzigen Auftraggebers – innerhalb eines Spektrums sind alle gleichmäßig verschmiert, es gibt keine „Guten“, beziehungsweise, je nach Sichtweise, keine „Bösen“ mehr.
Eingeschränkte Freiheit ist für alle genug da. Außerhalb dieses Spektrums gibt es nur noch die inländischen Versionen der Auslandssender wie RT einerseits und kleine Nischenprojekte im Stil von Mediazona, Colta oder den Medien von Chodorkowski andererseits. Wenn auch sie wegfallen, wird in der russischen Medienwelt die endgültige Ordnung herrschen.