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„Einen großen Roman werde ich nicht mehr schreiben“

Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen. Sie erhielt zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen für ihre Werke, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Als sie 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde, charakterisierte der Literaturkritiker Karl-Markus Gauß in seiner Laudatio ihr Werk mit den Worten: „Im Geflecht der Familien und im Netz der Freundschaften zeigt Ljudmila Ulitzkaja, wie die große Geschichte aus lauter kleinen Geschichten gemacht wird.“

Wie wichtig dieses Geflecht auch für die Privatperson Ljudmila Ulitzkaja ist, wird im Interview deutlich, das Katerina Gordejewa mit ihr führte. Sie sprachen über Persönliches, über starke Frauen, #metoo und darüber, warum der westliche Feminismus in Russland nicht verstanden wurde. Dabei zeigt sich, dass Ulitzkaja selbst geprägt ist von diesem Blickwinkel und ihr westliche feministische Positionen wenig vertraut sind. 
So ist das Interview mit der 75-jährigen Ulitzkaja in der russisch-orthodoxen Pravmir eines, woran sich (nicht nur) westliche Leser durchaus reiben können.

Quelle Pravmir

Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen / Foto © Jewgenija Dawydowa unter CC BY-SA 3.0

Katerina Gordejewa: Derzeit sehen wir täglich in den Nachrichten, dass sich Frauen zusammentun und Berge versetzen. Ein aktuelles Beispiel ist der Marsch der Mütter. 
Bei diesem Marsch scheint mir besonders wichtig, dass sich die Frauen nicht wegen gemeinsamer politischer Ansichten zusammengeschlossen haben, sondern einfach, weil sie Frauen sind, Mütter. Die kann nichts aufhalten. 
Das ist für Russland  eine völlig neue Kraft.

Ljudmila Ulitzkaja: Oh, ja. Wie heißt es doch bei Pasternak: „Was könnte sich messen mit weiblicher Kraft? Sie ist unfassbar mutig!“ 
Denkst du, diese weibliche Kraft ist in Russland schon erwacht? 

Zumindest erwacht sie gerade. 

Es lief in den letzten 100 Jahren darauf hinaus: Seit 1904 vergingen in Russland keine drei Jahre, ohne dass Männer getötet wurden. Seit dem Russisch-Japanischen Krieg gab es immer nur: Krieg und Repressionen, Repressionen und Krieg.

Wegen diesem ständigen Schwund der besten, stärksten und klügsten Männer, die in Konflikten und Kriegen umkamen, hat es sich in den letzten 100 Jahren so ergeben, dass die Frauen in Russland einfach qualitativ hochwertiger sind, und außerdem sind sie auch in der Überzahl. Während die Männer in Kriegen und Lagern umkamen, mussten die Frauen sowohl die typischen weiblichen Aufgaben übernehmen als auch die Familie versorgen und beschützen, was für gewöhnlich die Aufgabe der Männer gewesen war. 

Deswegen stießen westliche feministische Losungen bei uns erwartungsgemäß auf Unverständnis: Sie passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen. Die westlichen Feministinnen wollten, dass Frauen wie auch Männer arbeiten, dass sie am politischen, sozialen und beruflichen Leben teilnehmen. Während unsere Frauen, abgearbeitet von der Doppelbelastung, von jener Situation nur träumen konnten, gegen die man im Westen aufbegehrte. Wenn du von früh bis spät schuftest wie ein Gaul, sind die berühmten drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – ein Traum: Zu Hause sitzen, Suppe kochen, mit den Kindern Hausaufgaben machen und zur Kirche gehen.

Westliche feministische Losungen passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen

Zum ersten Mal beobachtete ich dieses nahezu komische Unverständnis in den 1980ern, als amerikanische Feministinnen in die Sowjetunion kamen und davon sprachen, was sie beschäftigt, und unsere Frauen sie überhaupt nicht verstanden. Diese Feministinnen verlangten, Abtreibungen zu legalisieren (bei ihnen waren sie verboten) und forderten, dass eine Frau selbst frei entscheiden kann, wann sie ein Kind bekommt. Die russischen Frauen saßen nur da und nickten: „Ja, ganz genau, Abtreibungen sind furchtbar, es gibt überhaupt keine Betäubung, sie reißen es dir einfach so aus dem Leib.“ Man redete völlig aneinander vorbei. 

Aber auch bei den Problemen gab es fast keine Überschneidungen: Die einen litten unter den einen Sachen, die anderen unter ganz anderen. Ich bin im Grunde überhaupt keine Anhängerin von feministischen Ideen, auch wenn ich vor ein paar Jahren den Simone de Beauvoir Prize bekommen habe.

Der Anfang des 21. Jahrhunderts wird in die Geschichte eingehen als eine Zeit, in der nicht mehr nur einzelne, besonders fortschrittliche Frauen für ihre Rechte und Freiheiten eintreten. Frauen auf der ganzen Welt tun sich zusammen und protestieren gegen Dinge, die zuvor als selbstverständlich oder sogar als Errungenschaften der sexuellen Revolution galten. 

Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm. Angefangen bei der Weinstein-Affäre, die gewissermaßen zum Auslöser für die ganze Kampagne wurde. 
Weißt du, jemand, der mal beim Theater oder Film hinter den Kulissen war, weiß genau, dass die Regisseure und Produzenten sich die Weiber vom Leib halten müssen: Junge (oder nicht mehr junge) Schauspielerinnen sind so besessen davon, eine Rolle zu bekommen, dass sie vor nichts zurückschrecken und zu allem bereit sind. 

Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm

Ich kann dir wirklich nicht sagen, wer in der Überzahl ist: die männlichen Bösewichte, die die weibliche Schwäche und den Wunsch, Karriere zu machen, ausnutzen, oder die Frauen, die sich selbst, ihren Freundinnen oder ihren Konkurrentinnen die Kehle durchschneiden würden, nur um eine gute Rolle zu bekommen. 
Ich habe ein bisschen am Theater gearbeitet und kenne die Zustände, deswegen finde ich diese ganze Geschichte lächerlich.  

Aber die Aufmerksamkeit nimmt nicht ab.

Mir scheint diese Kampagne vor allem gegen eine der mächtigsten Industrien des 20. Jahrhunderts gerichtet zu sein, die sicherlich vorhatte, auch im 21. Jahrhundert noch ordentlich mitzumischen: die Schönheitsindustrie. 
Alles ist darauf ausgerichtet, dass die Frau mit jedem Jahr schöner und sexier wird. Die Mode ist vollständig auf dieses sexy Image ausgerichtet, das übrigens aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt. Weißt du eigentlich, was das Symbol dieser Bewegung war? 

Was denn?

Der Minirock.

Hatten Sie auch einen? 

Na, was denkst du denn? Klar. Sogar einen aus Leder, eigenhändig aus der Ledercouch kreiert: Ich riss den Lederbezug herunter und nähte mir einen Minirock daraus, den ersten in unserer Gegend. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass diese nackten Beine, die der Minirock zeigt, bis heute im Clinch mit jenen Beinen liegen, die von Vertretern eines anderen kulturellen Codes unter langen Kleidern oder weiten Hosen versteckt werden.

Ich hatte einen Ledermini, geschneidert aus einer Ledercouch

Ich denke, hier lohnt sich ein Blick darauf, wie sich diese ganze Gender-Geschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Wobei weltweit immer noch zwei Strategien dominieren.

Welche sind das? 

Die erste: Der kleine Finger, der aus schwarzen Kleidern hervorblickt. Er muss nur kurz aufblitzen – und schon ist der Mann der Besitzerin hoffnungslos verfallen und entscheidet sich für sie. 
Die zweite Strategie kommt aus der Schönheitsindustrie: Die Frau soll immer noch attraktiver, sexuell aufreizender sein – denken wir nur daran, wie viel Geld, Kraft und Zeit Frauen in Kosmetik, Kleidung und Unterwäsche investieren. Als ich letztens einen BH für 1500 Euro gesehen habe, ist mir die Kinnlade runtergefallen. Bei dieser Strategie suggeriert die Frau, die sich durch Make-up und fehlende Kleidung maximal ausgestellt hat: Beachtet mich, und dann entscheide ich selbst, welchen von euch ich nehme.

Da gibt es die albernsten Sachen, aber auch ein aktuelles, kulturanthropologisches Problem: Wie soll man heutzutage seine Kinder erziehen? Beispielsweise die Mädchen. Wonach sollen sie sich richten? Soll man ihnen rosa Kleidchen oder Jogginganzüge kaufen? Lackpumps oder Sportschuhe?

Meine Enkelin Marianna hat von meiner Tochter immer nur mädchenhafte Kleidung bekommen, aber jetzt wo sie etwas älter ist und sich ihre Kleidung selbst aussucht, trägt sie nur geschlechtsneutrale Sachen: Jeans und Sportschuhe. Und auch wir tragen doch mittlerweile alle dieselben Kapuzenjacken, die sich höchstens dadurch unterscheiden, ob die Knöpfe rechts oder links sind. Ich bin da keine Ausnahme. 

Sind Sie direkt vom Leder-Minirock auf Unisex-Garderobe umgestiegen?

In meiner Jugend habe ich mir viel aus Kleidung gemacht, ich muss zugeben, ich war immer sehr extravagant angezogen. Meine Mutter geriet außer sich, wenn ich meinen Lederrock trug, dazu ein amerikanisches Militärhemd in Camouflage, das ich aus dem Second Hand-Laden hatte und mit einem Gürtel festzurrte, und 15 Zentimeter High Heels. Ich fand, ich sah sehr cool damit aus. Irgendwann hat das nachgelassen. Heute bin ich bei meiner Kleiderwahl viel gelassener, auch wenn nichts, was ich trage, zufällig ist. Aber natürlich gibt es Dinge, die ich nie anziehen würde.

Was zum Beispiel?

Ein Abendkleid. 

Mein Mann sagte mal: ‚Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.‘

Nicht einmal, wenn Sie den Nobelpreis bekämen?

Nicht einmal dann. Mein Mann sagte mal: „Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.“ Dieser Satz hat mich ein für alle Mal von der Idee befreit, ich müsste etwas anziehen, das mir nicht gefällt, statt etwas Bequemes, worin ich mich wohlfühle. Das kleine Schwarze? Nie im Leben!

Und abgesehen vom Kleid, haben Sie mal über den Nobelpreis nachgedacht?

Diese Frage hat sich für mich erledigt.

Warum?

Weil da ein ganz bestimmter Mechanismus am Laufen ist: Dieses Jahr bekommt ihn ein Amerikaner, nächstes Jahr ein Chinese, danach wäre ein Schwarzer nicht schlecht, und danach die Frauen nicht vergessen, und dann geben wir ihn am besten mal einem Querschnittsgelähmten. 
Die Idee der politkorrekten Gleichberechtigung, die einem bei der ganzen Geschichte entgegenschlägt, hat meine bescheidenen Chancen völlig zunichte gemacht: Eine russischsprachige Frau hat den Nobelpreis schon bekommen – Swetlana Alexijewitsch. Und ich habe ihr von ganzem Herzen dazu gratuliert.    

Damit waren Sie aber eine der wenigen, die ihr von Herzen gratuliert haben.

Klar! Ihr Preis hat mich von der ganzen Anspannung und Nervosität befreit. Es sickern ja immer Informationen durch, ich wusste, dass mein Name dort auf irgendwelchen Listen auftauchte. Endlich konnte ich aufatmen.

Als Alexijewitsch den Preis bekam, sind die Schriftsteller in Russland aus allen Wolken gefallen und kurz darauf brach die Empörung los: „Wie kann das sein? Nabokov hat ihn nicht bekommen, und sie schon!“ Aber die Sache ist die: In den Statuten der Nobelpreis-Stiftung heißt es, der Preis soll „denen zugeteilt werden, die […] einen für die Menschheit großen Beitrag geleistet haben“. Bei dem Preis geht es also um humanistische Ideale und streng genommen nicht um Literatur. Im Gegensatz zu etwa dem britischen Man Booker Prize – da geht es um Literatur. Die Booker-Nominierungen folgen ausschließlich literarischen Kriterien. Obwohl es auch da Nuancen gibt: Es ist viel wichtiger auf die Short List zu gelangen, als den Preis zu bekommen.

Warum?

Weil die Short List dort, wie bei vielen Preisen, eine ziemlich unabhängige Angelegenheit ist: Experten, die nichts miteinander zu tun haben, sprechen Empfehlungen aus. Aber sobald es um den ersten Preis geht, beginnen die Intrigen. Das ist in England nicht anders als bei uns. Dass ich dreimal auf der Short List des russischen Booker war, zählt für mich viel mehr, als dass ich ihn einmal bekommen habe.

Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten durchsehe, wundere ich mich, wie Sie es schaffen, überall gleichzeitig zu sein. Wozu machen Sie das?

Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, ständig hinterherzuhinken. Aber letzten Endes läuft alles eigentlich darauf hinaus, dass jeder von uns eine Aufgabe im Leben hat. Manchmal verlieren wir aus dem Blick, worin sie besteht. Meistens reagieren wir aber einfach, bevor wir überhaupt verstanden haben, worin unsere Herausforderung besteht. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, dass ich meine großen Bücher schon geschrieben habe.

Heißt das etwa, das war’s?

Einen großen Roman werde ich nicht mehr stemmen. Ich habe ihn mir schon ausgedacht, er hängt irgendwo in der Luft, aber schreiben wird ihn jemand anders.

Warum? Sind Sie müde? Haben Sie keine Lust mehr?

Ich habe Angst, Katja. Ich bin 75, mir bleibt objektiv betrachtet wenig Zeit. Da liegt nicht mehr die Hälfte meines Lebens vor mir, und auch kein Drittel, sondern nur noch ein kleines Stück. Deswegen setze ich mir lieber kleine Ziele, und die erreiche ich auch.

Was zum Beispiel?

Ich habe ein paar Erzählungen geschrieben, darüber bin ich sehr froh, denn ich dachte, das wäre vorbei, aber plötzlich kam es wieder. Das macht mich sehr glücklich. Meine Arbeit interessiert mich immer noch, und ich mache sie gern. Aber ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst, du denkst sogar im Schlaf daran. Und wenn du dich mit jemandem über ganz andere Dinge unterhältst, denkst du trotzdem daran. Er verschlingt dich voll und ganz. Anders kann ich nicht arbeiten.

Ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst

Andere können es. Boris Akunin zum Beispiel, letztens gab er bei einem Interview auf die Frage, wie er arbeite, die geniale Antwort: Morgens zwei Stunden. Das glaube ich ihm natürlich nicht: es ist unmöglich, in zwei Stunden so viel zu produzieren. 

Sie nutzen ihre Lebenszeit aber letztendlich nicht für diese Arbeit, sondern um zu Dmitrijews Gerichtsverhandlung nach Petrosawodsk zu fahren oder mit einem Plakat für Senzow auf der Straße zu stehen. 

Die Mahnwache dauerte ganze 15 Minuten. Und ich musste es tun. Denn so stark das Gefühl der Ohnmacht auch ist, nichts zu machen, ist noch schlimmer. Deswegen musste ich mich einmischen. Das war nichts Besonderes: ich brauche 10 Minuten zur Station Puschkinskaja, ich bin hin und habe dort 15 bis 20 Minuten gestanden, und es hat überhaupt nichts bewirkt. Es ist sogar bemerkenswert, wie wenig die Passanten uns beachtet haben: ein Grüppchen alter Irrer.

Es waren nur „Ihre Leute“ da. Wie kommt das? Ist Ihre Generation stärker? Auch im moralischen Sinne?

Ach nein, Unsinn.

Aber es gibt doch Unterschiede?

Ja, natürlich. Der wesentliche ist wohl, dass man in unserer Generation ohne einander gar nicht überleben konnte. So war das Leben damals. Wenn du zum Arzt gehen wolltest, musstest du eine Freundin bitten, auf das Kind aufzupassen. Wenn du ein Ticket nach Leningrad brauchtest, musstest du die Cousine einer Bekannten anrufen, damit sie es dir kauft. 

Früher war man stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art

Der Alltag war ungemein hart: Ich ging immer in den Keller einer Fleischerei, wo ich den Metzger kannte, und kaufte gleich sechs Stück Fleisch – für Nadja, Natascha, Tanja, Diana, Ira – weil ich ja nicht jeden Tag dort hinging und weil es verflucht selten überhaupt etwas zu kaufen gab. Diese sechs Stück schleppte ich heim, und dann ging es ans Teilen. Es ging viel sozialer zu als heute. Und man war stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art.

Ist das gut oder schlecht?

Weder noch, es ist einfach ein Merkmal. Heute ist es anders. Bei euch ist es eine individuelle Entscheidung, mit wem ihr zu tun habt. Der Alltag zwingt euch zu nichts: Man kann einen Babysitter rufen, sich das Fleisch nach Hause liefern lassen, einen Handwerker kommen lassen, um den Kühlschrank zu reparieren oder sonst noch was. Aber ich will meine gewohnte Welt der sozialen Bindungen nicht verlassen. Sie schafft nämlich eine enorme Lebensqualität: Ich fühle mich sicher hinter einer Chinesischen Mauer von Freunden.

Aber wir haben doch das gesamte 21. Jahrhundert dafür gekämpft, dass man ohne Vetternwirtschaft Tickets bekommen, Lebensmittel kaufen oder sich medizinisch behandeln lassen kann? 

Das ist keine Vetternwirtschaft, meine Liebe. Das läuft alles über Empathie. Daran ist überhaupt nichts falsch. Wenn ein Mensch keinen Krankenwagen rufen kann, wenn niemand kommt, um ihm zu helfen, ihn zu retten oder zu behandeln – das ist falsch. Aber wenn ich meine Bekannten Petja, Jura oder Natascha anrufe und sage: „Natascha, es geht mir beschissen. Was denkst du, schaff ich das oder soll ich einen Arzt rufen?“ – dann ist das ein großes Glück.

Warum?

Ganz einfach, weil du dankbar bist und diese Dankbarkeit auch von anderen spürst, wenn du etwas für sie tust. Es ist ungemein wichtig, sich auf positive Weise in die Gesellschaft eingebunden zu fühlen. 

Dann müssen Ihnen all die Ideen des „verschönerten“ modernen Moskaus, wo alles effizient ist und automatisch läuft, sehr zuwider sein?

Das stimmt, sie gefallen mir nicht. Ich denke, all diese Verschönerungen sind in Wirklichkeit nur geschmacklose Deko. 

Wirklich alle?

Ja, mein Auge protestiert, wobei ich mir dann selbst sage: „Halt! Beruhig dich, die Stadt braucht das: diesen Raum zum Spazieren, diese glatten glänzenden Bürgersteige, alles sieht viel ordentlicher aus als vor fünfzig Jahren.“ 

Eine große Rolle spielt dabei sicher das, was man in der Biologie Prägung nennt: Die ersten Bilder, die ersten Gerüche, die ersten Wahrnehmungen, Anordnungen – all die Dinge, die für immer in uns bleiben und unser Leben lang bestimmen, was uns gefällt und was nicht. 

Eine Stadt lebt und altert mit ihrer Geschichte. Eine alte, alternde Stadt ist organisch. Das heutige Moskau beachtet sein Erbe überhaupt nicht. Auf meinem ganzen Weg hierher zu unserem Treffen habe ich nichts gesehen, was gleichgeblieben wäre, außer dem Feinkostladen Jelissejew, ich glaube dort haben sie sogar noch dieselben Lampen. Der Rest verjüngt und erneuert sich ständig, hat Angst auch nur eine Sekunde stillzustehen. Jagt der schwindenden Jugend hinterher. 

Gibt es an diesem Moskau auch etwas, das Ihnen gefällt? 

Ja, hier und da gibt es hübsche Springbrunnen. Und es gibt mehr Licht. Aber wenn ich auf den Dritten Ring komme, habe ich den Eindruck im Nirgendwo zu sein. Ich verstehe nicht, was es für eine Stadt ist, wo sie sich befindet, auf welchem Kontinent, an welchem Punkt der Erde – so durchschnittlich ist dieser Ort. 
Moskaus Stadtbild war tatsächlich immer sehr bescheiden, aber nun hat es sich nicht auf natürliche Weise verändert, sondern nach den Ideen von Architekten und Städtebauern. Das gefällt mir nicht, aber ich gebe zu: Es ist bequemer geworden. Ich habe mein Auto verkauft und fahre nur noch Metro, denn nur damit kann ich meine Fahrzeiten in dieser Stadt noch richtig kalkulieren.

[...]

Für gewöhnlich ärgern sich Menschen in Ihrem Alter über Veränderungen.

Nein, ich finde das oft cool. Ich ärgere mich nur über mich selbst, wenn ich nicht hinterherkomme, ich versuche immer dranzubleiben: Ich arbeite mit Computern, seit es sie gibt. Aber mein Enkel ist natürlich schneller.

Denken Sie oft an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Sie Krebs haben und fortan mit der Krankheit leben oder sogar an ihr sterben müssen?

Nein. Das war zu erwarten, ich komme aus einer Familie mit Krebs und habe mich hin und wieder untersuchen lassen, weil ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde. Ich habe mich nur geärgert, als sich herausstellte, dass die Ärztin, zu der ich gegangen war, meinen Krebs übersehen hatte: 
Als ich mit der Therapie anfing, war der Krebs schon im Stadium III. Nach der OP sagte man mir: „Mensch, so einen großen Tumor haben wir noch nie gesehen“ oder „lange nicht gesehen“, ich weiß es nicht mehr genau.

Hatten Sie Angst?

Nein, überhaupt nicht. Ich war besorgt. Mein Leben ist geprägt von einem Gefühl der Dankbarkeit. Und das hat sich nur verstärkt, nachdem das an mir vorübergegangen ist, meine Krankheit hätte ja auch anders ausgehen können.

Wie hat die Krankheit Sie verändert? Viele Menschen finden während einer schweren Krankheit Zuflucht im Glauben.

Bei mir war es genau andersherum. Natürlich bin ich dem Schicksal und den höheren Mächten dankbar, dass ich dieses Geschenk – noch ein paar Jahre nach dem Krebs – bekommen habe. Aber in diesen Jahren bin ich vollkommen in Daniel Stein, also Oswald Rufeisen, aufgegangen. Die Bekanntschaft und der Austausch mit ihm haben mich und mein Verhältnis zum Glauben in eine tiefe Krise gestürzt.

Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr

In welcher Hinsicht?

Er hat mir gesagt: Wir wissen nicht einmal wirklich, was Elektrizität ist, woher sollen wir wissen, wie Gott beschaffen ist? Mit diesem Satz hat er mich aus der furchtbaren Sklaverei befreit etwas zu tun, was ich selbst nicht vollständig verstehe. Ich entfernte mich allmählich von der Kirche und näherte mich Daniels Idee an, die im Wesentlichen eine apostolische Idee ist: die Tat. Ich versuche durch Taten zu leben … Dafür brauche ich keine Kirche. 

Haben Sie denn keine Angst? Man sagt ja: In einem abstürzenden Flugzeug gibt es keine Atheisten.

Ich bin keine Atheistin, Katja. Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr. 
Aber je näher der Tod rückt, desto weniger interessiere ich mich für Religion.

Wofür interessieren Sie sich dann?

Für das Heute, für diese Minute. Mittlerweile lebe ich viel mehr im Hier und Jetzt als noch vor einigen Jahren. Mein Leben hat an Effektivität gewonnen. Mir ist es mittlerweile sehr wichtig, das, was ich gerade tue, gut zu machen. Damit meine ich nicht die literarische Arbeit. Wahrscheinlich bin ich heute ein viel glücklicherer Mensch, als ich es je in meinem Leben gewesen bin. Und ich bin mir bewusst, dass sich das jeden Moment ändern kann.

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Im zaristischen Russland waren staatliche und geistliche Macht stark miteinander verflochten. So wurden der Herrschaftsanspruch und die Legitimität des Zaren direkt von Gott abgeleitet und der neue Zar entsprechend in festlichen Gottesdiensten in sein Amt eingeführt. Administrativ war die Kirche Teil des Staatsapparats, so wurden etwa die Personenstandsakten von der Kirche geführt. Diese Privilegierung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) – auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften im multireligiösen Zarenreich – ging dabei Hand in Hand mit zahlreichen Eingriffen in innere Angelegenheiten der ROK. Maßgebliche Kreise der ROK begrüßten daher die Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 und sahen darin die Chance für eine größere Autonomie ihrer Kirche.

In der Sowjetunion versuchten die kommunistischen Machthaber zunächst, „fortschrittliche“ Geistliche, die teils für Kirchenreformen stritten, teils auch sozialistischen Ideen anhingen, gegen „reaktionäre“ Geistliche auszuspielen, bevor der Terror in den 1930er Jahren gleichermaßen Anhänger dieser sogenannten „Erneuererbewegung“ wie auch der Patriarchatskirche traf. Trotz dieser katastrophalen Erfahrungen riefen unmittelbar nach dem deutschen Überfall die wenigen überlebenden und noch in Freiheit befindlichen kirchlichen Würdenträger zur Verteidigung des – sowjetischen – Vaterlandes auf und initiierten Spendensammlungen.

Im Herbst 1943 revanchierte sich Stalin mit einer Neuausrichtung der staatlichen Kirchenpolitik, wobei auch außenpolitische Überlegungen zur Neugestaltung Europas maßgeblich waren und der ROK, wie auch anderen Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion, eine Rolle als außenpolitischer Akteur zugedacht wurde. Dies bedeutete, dass nach den massiven Angriffen und Verfolgungen die ROK nun wiederum zu einem Instrument staatlicher Politik wurde und entsprechend gesteuert werden musste.

So wurde im Herbst 1943 – nach mehrjähriger Vakanz – die Wiederwahl eines Patriarchen forciert und zugleich ein staatlicher „Rat für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche“ eingerichtet, der als Vermittler der staatlichen Kirchenpolitik galt und zugleich eine Steuerungs- und Kontrollfunktion hatte. Anders als etwa in Polen oder der DDR bot die ROK aufgrund dieser spezifischen historischen Prägungen kein schützendes Dach für etwaige oppositionelle oder dissidentische Aktivitäten. Stattdessen bewegten sich christliche Andersdenkende eher in Strukturen jenseits der ROK.

Nach dem Ende der Sowjetunion erfuhr die ROK als Träger (ethnisch-) russischer Identität sowie moralischer Werte großen Zuspruch. Dem taten auch regelmäßig auftretende Skandale wenig Abbruch, die mit der zeitgleich stark wachsenden engen Verflechtung von Staat und Kirche einhergingen. So galt etwa der seit 2009 amtierende Patriarch Kirill (Gundjajew) in den 1990er Jahren als „Tabak-Metropolit“, der mit dem Verkauf zollfrei importierter Zigaretten zu Reichtum kam.1 Außerdem gehört es zum guten Ton, dass führende Politiker des Landes öffentlichkeitswirksam die Kirche aufsuchen und eigene Gottesdienste zur Amtseinführung des Präsidenten gefeiert werden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bietet in dieser Perspektive der Tradition des russischen Zarenreichs erneut eine nützliche Ideologie, die den Staat zusammenhält.

Vor diesem Hintergrund bewerten viele Beobachter die ukrainischen Bemühungen zu einer Loslösung von der ROK auch als eine Bedrohung für das geopolitische Selbstverständnis des Kreml. Denn mit der Einschränkung der geistlichen Deutungshoheit über die Ukraine wird auch der Anspruch des Kreml auf die eigene „Interessensphäre“ in dem Land zunehmend fraglicher.


1.Neue Zürcher Zeitung: Angekratztes Image. Patriarch Kyrill hat ein Problem
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