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Maria Sacharowa

Mit schrillen Auftritten und aggressiver Rhetorik hat die Sprecherin des russischen Außenministeriums einen neuen Stil in der russischen Diplomatie geprägt. 

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Jurodiwy

„Die Buben tun mir Leid an ... Lass sie abschlachten, wie du den jungen Zarewitsch geschlachtest hast!“1 – so spricht Nikolka zum Zaren in Puschkins Drama Boris Godunow. Der Zar wird beschuldigt, den Thronnachfolger, Zarewitsch Dimitri, umgebracht zu haben. Aber keiner wagt es, dies offen auszusprechen – bis auf Nikolka. Diesen hatten vorher ein paar Kinder verspottet, und nun hält ausgerechnet der so Erniedrigte dem Herrscher den Spiegel vor.

Nikolka ist kein Hofnarr, er ist auch kein Lebensmüder, dem der Zorn des Zaren egal wäre. Nikolka ist das, wofür es im Russischen ein spezifisches Wort gibt: ein Jurodiwy, ein „Narr in Christus“.

Nachfolge Christi

Etymologisch geht das Wort Jurodiwy (pl. Jurodiwyje) auf den Begriff Urod (dt. „Missgestalteter“) zurück, was zunächst einen körperlichen wie psychischen Defekt bedeutet. Für den Jurodiwy gilt das gerade nicht: Wahnsinn, öffentliche Beschimpfungen und die Abtötung des eigenen Körpers sowie eine strenge Askese sind Elemente der bewusst angenommenen Rolle, des „Narren um Christi willen“ (I. Kor 4,10). Die besondere Stellung der Narren ist durch deren Bezug auf die Figur Christi zu erklären: Ihre intentionelle Selbsterniedrigung, die als Nachfolge Christi (imitatio Christi) gesehen wird, zeigt sich im Lossagen vom eigenen Verstand und der Annahme der „Maske“ des Christusnarren (litschina jurodstwa). Der Jurodiwy legt seinen weltlichen Namen ab wie seine Kleidung und seine soziale Stellung.

Im Unterschied zu den Skomorochi, reisenden Gauklern und Schauspielern, deren Spiel von der Kirche als verbotene, teuflische Vorstellung sanktioniert wurde, erkannte die Kirche die öffentlichen Inszenierungen der Christusnarren an. Sogar die Möglichkeit einer Heiligsprechung besteht bis heute. Der Heiligen-Typus wurde in die Kiewer Rus im 11. Jahrhundert aus Byzanz überliefert. Der erste kanonisierte Jurodiwy war der Mönch Isaaki Petscherski aus dem Kiewer Höhlenkloster. Seitdem ist eine Vielzahl von Heiligenviten über kanonische Jurodiwyje entstanden. Noch in der Sowjetunion fand die letzte bedeutende Kanonisierung der Christutsnärrin Xenija von Petersburg statt.

Dem Jurodiwy ist nichts heilig

Der obdachlose Christusnarr der Heiligenlegenden sucht sein Publikum auf dem Marktplatz oder auf den Kirchenstufen. Seine Inszenierungen sind auf Interaktion mit den Zuschauern ausgerichtet. Er reizt die Menge durch provozierende Reden, verlacht weltliche und kirchliche Autoritäten und fordert damit körperliche Züchtigungen heraus. Sein skandalöses Verhalten fordert eine Reaktion. Sein Kostüm – die provokant zur Schau gestellte Nacktheit – bedeutet eine Verachtung des Körpers, markiert aber auch dessen Verletzlichkeit. Obszön bis rätselhaft ist seine Sprache. Dem Christusnarren ist nichts heilig: Er stört nicht nur den Gottesdienst, sondern zerschlägt sogar Heiligenbilder, weil sich darunter Abbilder des Teufels befinden. Das Heilige wird jedoch nur zum Schein profaniert, um das Publikum auf eine wahre Heiligkeit hinzuweisen. Diese inszenierten Grenzüberschreitungen haben somit eine didaktische Funktion. Die Erniedrigung wird als Erhöhung gedacht, und die Narrheit wird in Hinblick auf die falsche Weisheit der Welt positiv umgedeutet.

Gesellschaftlicher Protest

Eine weitere Funktion des Jurodiwy, mit der er auch den Einzug in die russische Literatur und ins kulturelle Bewusstsein fand, ist der gesellschaftliche Protest. Die Christusnarren werden häufig in der Nähe der Zaren dargestellt, deren unchristliches Verhalten sie kritisieren. Besonders markant ist die Erzählung über den Christusnarren Nikola Salos, der dem Zaren Iwan dem Schrecklichen „eine Phiole Blut und ein Stück rohes Fleisch“ angeboten hat, nachdem dieser 1570 an die Hälfte der Bevölkerung Nowgorods im Zuge seiner Terrorpolitik brutal abgeschlachtet hatte. Ganz ähnlich lässt auch Puschkin seinen Nikolka in Boris Godunow dem Herrscher gegenübertreten.

Kirchliche und säkulare Jurodiwyje heute

Parallel zur politisch geförderten Aufwertung der Kirche im heutigen Russland verschiebt sich die Bedeutung des Christusnarrentums: Im Unterschied zur Sowjetzeit, in der es lange ein subkulturelles Phänomen war, ist es nun Teil einer offiziellen Kirchenpolitik und einer erstarkten religiösen Publizistik2. Gleichzeitig beziehen sich jedoch auch Aktionskünstler auf das Verhaltensmuster des Jurodiwy und seine Gesellschaftskritik: Die Punkband Pussy Riot vermischte in ihrem Punkgebet provokant Sakrales und Profanes („Gottesgebärerin, Jungfrau, vertreibe Putin“) und übte Kritik am symbiotischen Verhältnis von Kirche und Staat („Der KGB-Chef ist ihr oberster Heiliger“).3 Der Aspekt der öffentlichen Selbsterniedrigung mit christologischen Zügen zeigt sich besonders in den Performances von Pjotr Pawlenski. Seine skandalösen Inszenierungen, in denen er sich nackt in Stacheldraht wickelt oder auf dem Roten Platz seinen Hodensack aufs Pflaster nagelt, zwingen die Staatsmacht in die Rolle des Helfers – er schafft mit eigenen Worten „Kunst mit den Händen der Staatsmacht“.4 Pawlenskis säkularisierte Form der Narrheit allerdings zielt nicht mehr auf eine Erneuerung des Glaubens, sondern vielmehr auf politische Veränderungen ab.


Weiterführende Literatur:
Bodin, Per-Arne, Language (2009): Canonization and Holy Foolishness: Studies in Postsoviet Russian Culture and Orthodox Tradition, Stockholm
Hunt, Priscilla / Kobets, Svitlana (Hrsg.) (2011): Holy Foolishness in Russia: New Perspectives, Bloomington
Ivanov, Sergej A (2005): Blažennye Pochaby: Kul’turnaja istorija jurodstva, Moskau
Lachmann, Renate (2004): Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis, in: von Moos, Peter (Hrsg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln, S. 379 – 410
Pančenko, Aleksandr M. (1991): Lachen als Schau-Spiel, in: Lichačev, Dmitrij S. / Pančenko, Aleksandr M. (Hrsg.): Die Lachwelt des alten Rußland, München, S. 85 – 180
Uffelmann, Dirk (2010): Der erniedrigte Christus: Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur, Köln

1.Puschkin, Alexander: Boris Godunow
2.So gibt es im postsowjetischen Russland zu den Christusnarren „a virtual flood of church-sponsored hagiographic publications“: Kobets, Svitlana (2011): Lice in the Iron Cap: Holy Foolishness in Perspective, in: Hunt, Priscilla / Kobets, Svitlana (Hrsg.): Holy Foolishness in Russia: New Perspectives, Bloomington, S. 20. Beispiele: Ščegoleva, L. I. (2003): Žitie svjatogo pravednogo Prokopija, Christa radi jurodivogo, Ustjužskogo čudotvorc: Archeogr. i tekstol. podg., Moskau; Vlasov, A. N. (2010): Žitijnye povesti i skazanija o svjatych jurodivych Prokopii i Ioanne Ustjužskich, Sankt Petersburg, Herausgeber: Oleg Abyško; Akafist Svjatoj blažennoj Ksenii Peterburgskoj, 2009
3.„Bogorodica, Devo, Putina progoni“, „Glava KGB, ich glavnyj svjatoj“. Text des Punkgebetes auf der offiziellen Seite von Pussy Riot 
4.Hromadske: „Potrebnosti“

 

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