Nur einen Tag nach der Verurteilung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, nach zahlreichen Festnahmen, Hausarresten und eingeleiteten Strafverfahren kommt das nächste Urteil: Der Journalist Sergej Smirnow muss 25 Tage in Haft. Er habe am 20. Januar mit einem Retweet gegen das Protestgesetz verstoßen.
Sergej Smirnow ist Chefredakteur des Online-Portals Mediazona. Es wurde von den Pussy-Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina nach deren Haft ins Leben gerufen und legt in seiner Berichterstattung den Fokus auf das russische Straf- und Justizwesen.
Das Urteil gegen Smirnow nur einen Tag nach dem Prozess gegen Nawalny hat gerade in der liberalen Szene Russlands für Aufruhr gesorgt. Was es mit Tweet und Urteil auf sich hat – das kommentiert der Republic-Kolumnist Iwan Dawydow auf Facebook:
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Irgendwann einst, vor langer Zeit, nach einer der vielen Protestaktionen hat ein putinfreundlicher Mitbürger ein Foto von Smirnow ins Netz gestellt mit dem Kommentar: „Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ Der Mann hatte keinen Witz gemacht – die sind alle im Krieg, da gibts keine Witze –, sondern einfach zwei berühmte Menschen verwechselt, die an der Protestaktion teilgenommen hatten: den Hiphopper Oxxxymiron und Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow.
Aber Smirnows Freunde hatten es natürlich nicht vergessen, und Witze über Leute, die Smirnow auch nur irgendwie ähneln (was, entschuldigt bitte, meistens einfach Leute mit Glatze sind), wurden in ihrem Bekanntenkreis zur Regel. Sergej wurde getagged, und Sergej hat die Witze blind retweetet.
Im Vorfeld des 23. Januar hat der Leadsänger der Punkband Tarakany (dt. Kakerlaken) Dimitri Spirin ein Foto veröffentlicht mit dem Logo „Nawalnys Team“ und der Aufschrift „Dimitri Spirin für Nawalny, 23. Januar, 14.00.“
Mit etwas Mühe kann man erkennen, dass sich Spirin und Smirnow irgendwie ähneln. Der Twitter-User nemozhnya (ich weiß nicht, wer das ist) hat es jedenfalls erkannt. Und hat Spirins Tweet mit einem Kommentar retweetet: „Seit wann ist Smirnow denn bei der Moskauer Band Tarakany? Und sagt gar nichts über Mediazona, und die Unterschrift ist so merkwürdig – ‚Dimitri Spirin‘“. Aus guter alter Gewohnheit hat Smirnow den Witz retweetet.
Und ab da ist Schluss mit lustig. Erst gab es eine Hausdurchsuchung bei Sergejs Mutter (unter seiner Meldeadresse, wo er schon lange nicht mehr wohnt). Die Durchsuchung dauerte vier Stunden, die Mutter durfte währenddessen niemanden anrufen und fühlte sich danach, gelinde gesagt, nicht so gut.
Danach wurde Smirnow selbst festgenommen. Auf der Straße, als er mit seinem kleinen Sohn unterwegs war. Die Einsatzkräfte wollten nicht warten, bis Smirnows Frau runterkommt und den Sohn abholt (in den Kommentaren unten wird übrigens eine weniger kannibalische Version angeführt). Zum Glück hatte sich Sergej draußen gerade mit einem Kollegen getroffen, der den Jungen dann nach Hause brachte.
Auf der Polizeiwache stellte sich dann heraus, dass man Smirnow bestrafen wolle wegen „Aufrufs zur Teilnahme an einer nicht-genehmigten Demonstration am 23. Januar“. Seine Freunde haben ganz Twitter durchwühlt und fanden genau einen Tweet, der vor dem 23. geschrieben wurde und zumindest irgendeine Verbindung zu den Ereignissen hatte: „Am 23. Januar werden in Moskau etwa Null Grad.“ Auf der Demo war Sergej gar nicht, er hat die Arbeit seiner Korrespondenten koordiniert. Denn Arbeit gab es an dem Tag für Mediazona natürlich genug.
Es gab auch noch andere Versionen, doch dann trat der Ermittler in Erscheinung und es wurde klar, dass man Smirnow ausgerechnet für den Retweet des fremden Scherzes vor Gericht bringen wollte. Sie wollten ihn bis zur Verhandlung auf der Wache behalten, doch weil es in den Medien und Sozialen Netzwerken ordentlich Lärm gab, hat man ihn unter der Bedingung entlassen, dass er zum Gerichtstermin erscheint.
Heute [am 3. Februar – dek] war der Prozess. 25 Tage Haft.
Ich denke, dass diese Geschichte – und es geht hier nicht um Ausmaß oder Bedeutung, sondern nur um die Anschaulichkeit – sogar mehr über den Wahnsinn aussagt, dem der Staat verfallen ist, als der Prozess gegen Nawalny.
Sergej Smirnow gehört natürlich freigelassen. Wie auch alle anderen politischen Häftlinge.
Die neue Chefredaktion des einstigen Investigativmediums RBC weist ihr Team auf „Verkehrsregeln“ und „durchgezogene Linien“ in der Berichterstattung hin. Die Debatte darüber kommentiert Oleg Kaschin auf slon.ru.
Angesichts der massiven Polizeigewalt gegen Demonstrierende erklärt der ehemalige Putin-Berater Gleb Pawlowski im Interview, warum diese Strategie wahrscheinlich nicht aufgeht – und derzeit vielmehr das Team um Nawalny die Situation kontrolliere.
Zwei Jahre und acht Monate Haft für Alexej Nawalny. Was Geschäftsleute, Politikwissenschaftler, Schauspieler und Fußballer zum gestrigen Urteil sagen – Meduza hat Stimmen gesammelt.
Mitleid, Großherzigkeit, Mitgefühl – sind das etwa keine Qualitäten eines starken Staates?, fragt die bekannte Journalistin Tatjana Felgengauer. Und meint: Allem Anschein nach hält Putin diese für das Wesen der Schwachen. Und diesem Vorbild des Präsidenten folgen auch alle anderen Staatsbediensteten.
„Gegen Oxxxymiron zu battlen ist wie im Winter nach Russland einmarschieren wollen – am Ende wirst du kalt gemacht.“1 So oder ähnlich fielen viele der Reaktionen im Netz aus, als der deutsche Skandalrapper Kollegah im Mai 2019 vom wohl bekanntesten russischen Hiphopper zum Battle herausgefordert wurde. Und das auf Deutsch! Oxxxymiron, der drei Sprachen spricht und mehr YouTube-Klicks vorweisen kann als jeder andere Battlerapper, ist in der Szene wegen seiner Wortgewalt und sprachlichen Komplexität gefürchtet.
Das Hip-Hop-Magazin Source feierte Oxxxymiron sogar als größten Battlerapper der Welt.2 Millionen Zuschauer sehen ihm regelmäßig bei YouTube dabei zu, wie er seine Gegner verbal vernichtet: auf Russisch und Ende 2017 auch auf Englisch. In Los Angeles machte der Oxford-Absolvent den bekanntesten US-amerikanischen Battle Rapper Dezaster auf Englisch nieder, das Battle wurde zum Kampf zwischen Russland und den USA hochstilisiert. Oxxxymiron gab dabei politische Breitseiten gegen den „US-Globalismus“ zum Besten und führte unzählige russische und US-amerikanische popkulturelle Referenzen an. Folgt nun sein Debut auf Deutsch? Die Antwort von Kollegah steht noch aus, und im Netz rechnen die meisten damit, dass er kneifen wird.
Heute ist Rap in Russland so wichtig wie noch nie. Und Oxxxymiron gilt vielen als das Gesicht hinter dem beispiellosen Aufstieg der Musikform in den vergangenen Jahren: als jemand der maßgeblich dazu beigetragen hat, aus einem subkulturellen Nischenprodukt ein massenkulturelles Gut zu machen.
Vor allem junge Menschen interessieren sich für Rap. Laut vielen Journalisten sprechen Rapper und insbesondere Oxxxymiron die Sprache dieser Generation. Dessen Aufstieg ab 2012 steht für einen Epochenwandel in der russischen Musikwelt. War es früher hauptsächlich russischer Rock, der die Lebenswelt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion am besten widerspiegeln konnte, haben es Rapper wie Oxxxymiron geschafft, dem Hiphop eine eigene stilistische und musikalische Identität zu verleihen, die die russischen Wurzeln nicht verleugnet.
„Ich hasse euren Rap“
Das war nicht immer so. Jahrelang hatten russische Rapper hauptsächlich US-Stars adaptiert. Laut Oxxxymiron oszillierte die Szene zwischen billigen Nachahmungen afroamerikanischer Künstler und betont russischem Auftreten – ohne aber der Kunstform Hiphop gerecht zu werden.3 Also begann Miron Fjodorow, wie Oxxxymiron mit bürgerlichem Namen heißt, seine Karriere mit einem rundumschlagenden Diss der bestehenden Rapszene. In seinem ersten Clip Ja Hater (dt. Ich bin ein Hater) ätzt er „Ja nenawishu wasch rap“ („ich hasse euren Rap“) und rechnet knallhart mit der damals etablierten russischen Hiphop-Szene ab. Dabei brachte er einen Mix aus britischem Grime, Double Rhymes und komplexen Lyrics und schuf damit einen Stil, der russisch und zugleich global orientiert ist.
Rap ist Poesie
Neben den oft brachialen Beats stechen vor allem Oxxxymirons sprachlich anspruchsvollen Texte hervor. 2016 sorgte der Fall einer Schülerin im Fernen Osten Russlands für Aufsehen, die einen Songtext von Oxxxymiron als Werk des berühmten russischen Dichters Ossip Mandelstam ausgab, ohne dass ihre Lehrer daran zweifelten.4 Zwei Jahre später wurde Fjodorow sogar für den renommierten Alexander Pjatigorski-Literaturpreis nominiert. Dass seine poetischen Texte in Russland auf fruchtbaren Boden fallen, scheint der Rapper nachvollziehen zu können: Oxxxymiron zufolge hatte Rap schon immer ein großes Potenzial in Russland, da dort die Sprache so immens wichtig sei.5
Die virtuose Beherrschung der Sprache steht auch im Mittelpunkt des Battleraps: einem Genre, dem Oxxxymiron in Russland zu einem global einzigartigen Aufblühen verholfen hat. Der russische Battle-Veranstalter Versus, den Fjodorow mit aufgebaut hat, ist mittlerweile der größte weltweit. Der dazugehörige YouTube-Kanal hat mehr Klicks als alle Konkurrenten im In- und Ausland. Nach Oxxxymirons Battle mit dem Rapper Gnojni, das über 40 Millionen Klicks einsammelte und es sogar in die Jahresrückblicke des russischen Staatsfernsehens schaffte, ernannte die Tageszeitung Kommersant den Battlerap kurzerhand zum Kulturphänomen.6
In den Texten von Oxxxymirons Alben und Mixtapes geht es oft um das Leben in der Großstadt, Identität und Wurzellosigkeit. Dabei nimmt er Bezug auf seinen eher ungewöhnlichen Lebensweg. Der Spross einer jüdischen Intellektuellenfamilie aus Sankt Petersburg zog mit neun Jahren nach Essen, wo er sich schwertat, Anschluss zu finden. Unter anderem inspiriert durch den deutschen Rapper Kool Savas, verfasste er dort seine ersten Rhymes. Mit 15 ging es für ihn weiter in eine graue Vorstadt Londons, wo sein Vater, ein (in der Sowjetunion ausgebildeter) Physiker, Arbeit an einer Universität fand. Anschließend landete Oxxxy eher zufällig an der Universität Oxford. Obwohl Fjodorow hier, so wie er sagte, nie heimisch geworden sei, machte er nach vier Jahren seinen Abschluss in Mittelalterlicher Englischer Literatur.
Ein giftiger Fisch
Danach setzte er alles auf seine Hiphop-Karriere, schlug sich aber zunächst mit verschiedensten Jobs durch. Nachdem Fjodorow mehrere Jahre in prekären Lebensverhältnissen im rauen Londoner East End verbrachte, gelangte er zu immer größerer Bekanntheit im Internet. 2012 zog er zurück nach Russland und wurde noch im selben Jahr von der russischen GQ als Entdeckung des Jahres gefeiert. Ein neuer, ausgefallener, scharfzahniger und höchstwahrscheinlich giftiger Fisch sei im Teich aufgetaucht, schrieb das Männermagazin damals ganz in Oxxxymiron-Manier.7
Oxxxys erstes Album Wetschny Shid (dt. Der ewige Jude) ist seinem Leben in London gewidmet. Die Vermischung britischer und russischer Elemente äußert sich schon in Titeln wie Russki Cockney oder Wostotschny Mordor (dt. Östliches Mordor), die Tracks sind mit Grime und Elementen von Dubstep unterlegt. Dabei nimmt er Bezug auf Straßengewalt und das harte Leben im Londoner East End, aber auch auf seine russische und jüdische Identität. Seine Wurzellosigkeit fasst er in dem Satz „Ich spaziere durch Europa wie das Gespenst des Kommunismus“ zusammen.
Sein mit großer Spannung erwartetes zweites Album Gorgorod erschien Ende 2015. Sofort wurde das Werk in der russischen Presse analysiert. Kaum vorstellbar, dass ein anderer russischer Rapper solche Aufmerksamkeit erhalten würde, schrieb Meduza damals.8 Es ist ein konzeptionelles Rap-Album mit einer durchgehenden Geschichte über einen fiktiven Schriftsteller, der sich in „die falsche Frau“ verliebt, in eine regierungsfeindliche Verschwörung gegen einen korrupten Bürgermeister gerät, und nur knapp mit dem Leben davonkommt.
Rap aus dem Elfenbeinturm?
Anders als bei einigen jüngeren Rappern in Russland sind die Texte von Fjodorow vordergründig eher unpolitisch. Auch mit klaren Aussagen zur russischen Führung hält er sich zurück. Doch seit die Behörden Ende 2018 immer stärker gegen kritische Rapper vorgingen, Lieder zensierten und zum Teil gewaltsam Konzerte abbrachen, sieht sich auch Oxxxymiron gezwungen, Farbe zu bekennen: Als sein offen regierungskritischer Rapperkollege Husky 2018 ins Gefängnis geworfen wurde, nachdem er ein Auftrittsverbot in Krasnodar umging, empörte sich Oxxxymiron: „Sie machen Künstler verantwortlich für die Probleme der Gesellschaft, das ist einfacher, als die wahren Gründe anzupacken.“9 Zusammen mit zwei weiteren bekannten Rappern organisierte er ein Solidaritätskonzert für Husky, der dann kurz vor dem Gig freigelassen wurde.
Auch nach der Festnahme des kritischen Journalisten Iwan Golunow im Juni 2019 äußerte Oxxxy offen seine Meinung: Er schloss sich dem öffentlichen Protest an und erklärte, dass die Freilassung des Reporters entscheidend für das ganze Land sei: „Wenn Mut weiterhin bestraft und Bösartigkeit ermutigt wird, dann wird niemand von uns eine Zukunft haben, unabhängig von Meinungen und Überzeugungen.“10 Im August rief er auf Instagram seine über zwei Millionen Follower auf, an der Protestveranstaltung gegen die gewaltsamen Festnahmen Ende Juli teilzunehmen.11
Ob ein Künslter in einem Elfenbeinturm leben könne, fragt Oxxxymiron in seinem Album Gorgorod. Seine Antwort darauf dürfte mittlerweile ziemlich klar ausfallen.
Russians Against War
Am 24. Februar 2022, unmittelbar nach Beginn des großflächigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, veröffentlichte Oxxxymiron ein Video, in dem er die Invasion als „Katastrophe und Verbrechen“ verurteilte und seine geplanten und bereits ausverkauften Konzerte in Russland auf unbestimmte Zeit verschob. „Ich kann euch nicht unterhalten, während in der Ukraine russische Raketen fallen“, sagte der Rapper. Nach diesem Statement verließ er Russland und gab unter dem Motto „Russians Against War“ einige Konzerte in Istanbul, London und Berlin. Die Erlöse spendete er für die Unterstützung ukrainischer Geflüchteter.
Im September 2022 kehrte Oxxxymiron kurz nach Sankt Petersburg zurück, um einen Video-Clip für den Protest-Song Oida zu drehen, in dem er dem russischen Ermittlungskomitee und der Staatsanwaltschaft einen Gruß ausrichtete. Im Oktober 2022 wurde er zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt und einer seiner Songs als extremistisch eingestuft. Der Song Oida wird zurzeit von der Generalstaatsanwaltschaft ebenfalls wegen des Verdachts auf Extremismus überprüft.
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Er gilt weder als Intellektueller noch als Oppositioneller. Vielmehr ist er ein Hipster mit perfekt gestyltem Haar, lässig gekleidet, das iPhone stets griffbereit. Mit seinen Interviews erreicht er ein Millionenpublikum. Eva Binder über Juri Dud, der im April 2022 zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt wurde.
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