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„Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“

Nawalnys Stiftung FBK soll zur „extremistischen“ Organisation erklärt werden, das Exilmedium Meduza wurde auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. Journalisten, Menschenrechtler, auch Wissenschaftler, die an den Protesten für Nawalny im Januar und Februar teilgenommen haben, berichten in den vergangenen Tagen über Hausbesuche von Sicherheitskräften. Diese und weitere Nachrichten zeigen, dass sich die innenpolitische Lage in Russland derzeit zuspitzt, der Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien wächst. 

Die Repressionen, aber auch das Schweigen in breiten Teilen der Gesellschaft, beides fließt ein in den unten stehenden Text von Andrej Loschak. Sein Text auf dem Online-Medium Projekt zeugt von verlorener Hoffnung und großer Verzweiflung, und auch davon, welch existenzieller Nerv derzeit in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft getroffen ist und blankliegt. 
Implizit wirft sein engagiertes Meinungsstück auch die offene Frage auf, wie objektiv Journalismus unter solchen Bedingungen noch sein kann, darf und muss. 

Source Projekt

Was mit Alexej Nawalny und seinen Anhängern passiert, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da werden friedliche, gesetzestreue, unschuldige Menschen geächtet. Sie sind einem regelrechten Staatsterror ausgesetzt, der immer mehr Schwung aufnimmt. Endlose Lügen und Hasstiraden auf staatlichen Sendern und kremltreuen Müllkippen, fabrizierte Anklagen, Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmung (Diebstahl) von technischen Geräten, Geldstrafen, Geldstrafen, Geldstrafen, Festnahmen und Haftstrafen aufgrund völlig irrwitziger Beschuldigungen, strafrechtliche Verfolgung von Verwandten von „Volksfeinden“ (Nawalnys Bruder Oleg, Iwan Shdanows 66-jähriger Vater Juri et cetera), schließlich der Mordanschlag auf Alexej Nawalny, seine anschließende Verhaftung und erst vor Kurzem der Schlussakkord: der Vorwurf des Extremismus gegen seinen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) und gegen alle, die damit zu tun haben.         

Aus rechtlicher Sicht ist das ein klarer Fall von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (so ähnlich klingt das in Artikel 282 des Strafgesetzbuchs, den die Opritschniki so lieben). Doch der Vorwurf des Extremismus bricht einfach so über den FBK herein, aus heiterem Himmel. Nicht einmal Beweise wurden vorgelegt. Die Leiter des Fonds fragten nach und bekamen zur Antwort: Sagen wir nicht, ist ein Staatsgeheimnis. 
Ich spreche über Nawalnys Anhänger immer in der dritten Person, obwohl das natürlich geheuchelt  ist – ich muss „wir“ sagen.
In meinem Fall wäre es treffender zu sagen „Anhänger von Nawalnys Freilassung“, aber das sind jetzt unwichtige Details. Natürlich bin ich Anhänger dieses Menschen, der im postsowjetischen Russland als erster eine richtige Heldentat in der öffentlichen Politik vollbracht hat. Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht. Ich bin Anhänger dieses Menschen, der gegen Korruption kämpft und ehrlichen Herzens ein besseres Leben für seine beraubten Mitbürger will. Und der immer noch daran glaubt, dass seine Mitbürger dieses bessere Leben verdienen, auch wenn fast die Hälfte von ihnen die Repressionen gegen ihn unterstützen.      

Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht

Ich bin Anhänger dieses Menschen, der mit verzweifeltem Mut, aber ausschließlich legalen Methoden gegen einen um die Macht kämpft, der alles hat: uneingeschränkte Macht, Opritschniki, Gerichte, diensteifrige Oligarchen, ein Milliardenbudget, das er nach Lust und Laune verschleudert, wo er es für nötig hält. Sein Gegner hat alles, Nawalny hat nur uns – 400.000 „Extremisten“. Na, und ein mitfühlendes Ausland, das aber trotzdem nicht helfen kann – und auch nicht helfen soll. Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit. Solange die Bevölkerung nicht verstanden hat, wie wichtig die Absetzbarkeit der Staatsmacht und Wahlen sind, wird sich hier sowieso nichts ändern.     

 Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit

Wir, Nawalnys Anhänger, wollen nichts anderes, als dass unsere Kandidaten zu Wahlen zugelassen (und rechtzeitig vorher aus der Haft entlassen) werden. Unsere Kandidatinnen – es sind übrigens viele Frauen dabei – wollen bei Wahlen um die Macht kämpfen, die seit 21 Jahren in denselben Händen liegt. Breshnew hat kürzer regiert. In den Programmen und Reden unserer Kandidaten ist nichts Illegales oder Misanthropes. Sie gefallen Ihnen nicht? Ihr gutes Recht. Aber unser Recht ist es, die zu wählen, die wir wählen wollen, und nicht die, die der amtierende Präsident genehmigt hat. Was genau soll daran extremistisch sein? Eigentlich heißt so etwas einfach „Politik“.    

Mein Hauptinteresse gilt nicht den Machthabern und ihren Opritschniki. Was die betrifft, ist alles klar. 
Mich interessiert, was diese 146 Millionen denken, die da abwartend rumstehen.
Ich schaue immer genau, welche Prominenten diese endlosen Petitionen für Nawalny unterschreiben. Tschchartischwili, Makarewitsch, Achedshakowa, Chamatowa, Swjaginzew … Gerade mal zehn bis fünfzehn Personen. Bei den jungen Stars sind es auch immer dieselben – Face, Noize MC, Oxxxymiron, Sascha Bortitsch, Semjon Treskunow, und das war’s dann auch schon. Das sind natürlich alles sehr ehrenwerte und für die russische Kultur sehr bedeutende Leute, aber wo ist der Rest? Warum stehen unter den Protestbriefen immer dieselben Namen? Worauf wartet ihr denn, ihr Meister der Kultur? Auf Erschießungen?   
An den Protesten 2011 und 2012 waren viel mehr Leute beteiligt – auch aus dem Kulturbetrieb. Die Proteste richteten sich damals gegen Wahlfälschungen und Putins dritte Amtszeit. Seitdem hat Putin so viel Mist gebaut, dass die Gründe für die „Proteste mit weißen Bändchen“ dagegen direkt lächerlich wirken. Dritte Amtszeit? Ha-ha-ha. Jetzt sitzt er lebenslänglich da oben, abgesichert durch die Verfassung. Leben wir besser? Irgendwie nicht wirklich. Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab.    

Wo ist der Rest?

Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatten wir eine wenn auch geringe, so doch eine Chance, die Geschichte zu verändern. Erstmals in der Geschichte Russlands gelang es einem oppositionellen Kandidaten abseits des Systems, im ganzen Land ein Netz aufzubauen und eine richtige Wahlkampagne zu starten, an der vor allem die Jugend aktiv teilnahm (worüber ich die Doku-Serie Wosrast nesoglassija gedreht habe). Aber leider hat die absolute Mehrheit der Erwachsenen diese Geschichte ausschließlich aus der Distanz verfolgt.      
Chancen zum Zusammenschluss gaben uns Nawalny und sein Team dann auch bei der Wahl zur Moskauer Stadtduma 2019 und erst kürzlich bei Nawalnys Rückkehr nach Russland. Da begibt sich ein Mensch freiwillig in die Höhle des Löwen – um unseretwillen und zu unserer Rettung – und wird am Flughafen von ein paar tausend Fans in Empfang genommen. Ich glaube, der Entschluss, ihn „hardcore“ einzusperren, wurde genau in diesem Moment gefasst. Am 23. Januar gingen in Moskau rund 40.000 Menschen auf die Straße. Das ist weniger als 0,3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt – hochgerechnet auf das ganze Land sind es etwa 400.000. Bei so einem wahnsinns-staatsbürgerlichen Aktivitätspegel hätten sie Nawalny gleich direkt auf der Gangway des Flugzeugs erschießen können, oder auch zerstückeln, wie die Saudis es vor nicht allzu langer Zeit mit einem Oppositionellen gemacht haben. Kriminelle Macht respektiert nur Gewalt. 
0,3 Prozent – ist das euer Ernst?

Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab

Diesen Dezember sind die Proteste mit weißen Bändchen zehn Jahre her. Schon damals schrien wir „Putin ist ein Dieb!“ und „Weg mit Putin!“, wohlwissend, dass uns in den nächsten zwölf Jahren mit diesem Mann nichts Gutes bevorstand. Im darauffolgenden Jahr wurden die Proteste niedergeschlagen und die Menschen verkrochen sich in den Schlupfwinkeln ihres Privatlebens. Lang genug war der Widerstand tot, bis es Nawalny und seinem Team gelang, ihm neues Leben einzuhauchen. Putin beschloss, Nawalny und seine Anhänger zu vernichten. Die Folge ist, dass die Situation heute so aussieht: Wenn Sie Nawalny nicht unterstützen oder sich raushalten (was ein und dasselbe ist), unterstützen Sie nicht nur die Tötung eines unschuldigen Menschen und die Diskriminierung von Hunderttausenden. Sie unterstützen auch den Status quo des herrschenden Regimes. Somit unterstützen Sie Korruption, die Unabsetzbarkeit des Präsidenten, fehlende Rechtsprechung, Verarmung der Bevölkerung, politische Morde, die übelsten Regime der Welt – von Belarus bis Myanmar, Monatsgehälter von 150 bis 200 Dollar, Inflation, Braindrain, Investitionsflucht, Kapitalflucht, häusliche Gewalt, Homophobie, Verschuldung der Bevölkerung, schrumpfende demografische Entwicklung, Krieg gegen die Ukraine, internationale Isolierung, die Rehabilitierung des Stalinismus, Ramsan Kadyrows Terror, den durchgedrehten Duma-Drucker, Lüge und Hate Speech der Propaganda, Militarisierung, das stetig wachsende Budget für die heimische Polizei, die schrittweise Abschaltung des Internets, Zensur nicht nur in den Medien, sondern auch in Kultur und Wissenschaft und so weiter und so fort.        

Vor allem aber unterstützen Sie Perspektivlosigkeit. 
      
Davon sprechen jetzt alle. Wir leben in der trübsinnigen Matrix eines alternden KGB-Offiziers, der für immer im 20. Jahrhundert feststeckt und das ganze Land mit hineinzieht. Mit ideologischen Einstellungen aus den 1970er Jahren und einer Moral aus den Neunzigern. Das habe ich ganz deutlich gespürt, als ich den Film Fuck this Job über die Geschichte des TVSenders Doshd sah. Da gibt es am Anfang eine Szene aus dem Jahr 2011, in der Präsident Medwedew den Sender besucht. Ich war beeindruckt, wie fähig und modern er wirkt, in die Zukunft gerichtet und sogar leise Hoffnungen weckend. Alles zeigt sich im Kontrast, wie es so schön heißt. In was für einen Abgrund der Verzweiflung müssen wir da in den letzten zehn Jahren gestürzt sein, um in Medwedew einen zukunftsweisenden Politiker zu sehen!  
Meine tiefe Überzeugung ist: Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben – und das sind nicht 400.000, sondern zig Millionen –, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben.  
Bis vor Kurzem hätten Nawalny und der FBK uns diese Gelegenheit gegeben, aber anscheinend haben wir versch… Alexej wird im Gefängnis erledigt, der FBK steht am Rande der Zerstörung, und mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt demnächst die größte Hexenjagd seit der McCarthy-Ära. Ich weiß, dass Täter-Opfer-Umkehr ein schlechter Motivator ist, aber ich kann's mir nicht verkneifen: Dass wir an diesen Punkt gelangt sind, ist nicht allein Putins Schuld. Wissen Sie, wie viele Menschen einen Dauerauftrag für monatliche Spenden an den FBK haben? 19.700 Personen – bei so viel Unterstützung wird meine Generation die glänzende Zukunft Russlands definitiv nicht mehr erleben. In U-Haft landen könnten diese 19.700 Leute dafür umso schneller.  

Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben

Um nicht endgültig Grabesstimmung zu verbreiten, schließe ich mit einem Zitat aus der letzten Rede des unermüdlichen Optimisten Nawalny – denn im Unterschied zu mir und Putin weiß Alexej wie man Hoffnung sät: „Es ist sehr wichtig – einfach keine Angst vor Leuten zu haben, die die Wahrheit suchen, und sie vielleicht sogar irgendwie zu unterstützen: direkt oder indirekt. Oder vielleicht nicht einmal zu unterstützen, aber wenigstens diese Lügerei nicht auch noch zu fördern, zu diesen Märchen nicht auch noch beizutragen, die Welt rundherum nicht zu verschlimmern. Das birgt natürlich ein kleines Risiko, aber erstens ist es klein, und zweitens, wie ein ausgezeichneter Philosoph der Gegenwart namens Rick Sanchez sagte: ‚Leben ist Risiko. Und wenn du nichts riskierst, dann bist du wohl einfach ein schwammiger Haufen zufällig angeordneter Moleküle, die mit dem Strom des Universums mitschwimmen‘.“    

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Alexej Nawalny

„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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