Vor allem mit seiner Unermüdlichkeit hat er viel Respekt gewonnen – auch bei seinen Kritikern: der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Allen Versuchen zum Trotz, seine politische Handlungsfähigkeit einzuschränken, eröffnete er ein Wahlkampfbüro nach dem anderen, brachte bei den Anti-Korruptionsprotesten – die auf Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung beruhten – im März und im Juni landesweit Hunderttausende auf die Straßen.
Aus der Haftstrafe, die er deswegen absitzen musste, wurde er vergangenen Freitag entlassen. Es folgten Durchsuchungen zahlreicher Wahlkampfbüros von Nawalny durch die Polizei, seine Anhänger wurden verhaftet, laut offiziellen Angaben gab es allein in Moskau rund 70 Festnahmen. In Krasnodar war es keine Polizei, sondern es waren etwa 20 Personen – offenbar Aktivisten von Otrjady Putina (dt. Putin-Trupp) – die das Wahlkampfbüro verwüsteten und dabei Slogans wie Nasch Putin (dt. Unser Putin) skandierten [s. Video]. Am gleichen Wochenende wurde Putin auf dem G20-Gipfel danach gefragt, was er von Nawalny halte. Putin vermied es in seiner Antwort, den Namen des Oppositionspolitikers überhaupt zu nennen.
Oleg Kaschin fragt sich auf Republic unter anderem: Bedeuten die Polizei-Aktionen, dass der Kreml die Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits getroffen hat?
Rote Punkte kennzeichnen Städte, in denen polizeiliche Durchsuchungen und Festnahmen von Aktivisten stattfanden. Die Briefumschläge markieren Orte, an denen Wahlkampf-Materialien beschlagnahmt wurden. An den mit blauen Punkten gekennzeichneten Orten kam es zu Angriffen durch kremlnahe Aktivisten. Quelle: Meduza
Der gesamtrussische Pogrom gegen die Wahlkampfbüros von Alexej Nawalny lässt Erinnerungen an die Zeiten der Repressionen gegen [Eduard] Limonows [National-Bolschewistische] Partei wach werden: Dutzende verhaftete Aktivisten, durchsuchte Büros, beschlagnahmtes Agitationsmaterial. Gleichermaßen beeindruckend ist, wie flächendeckend und hart der Staat dabei vorging. Sowas wie „Überspitzungen auf örtlicher Ebene“ oder Täterexzesse kann man ausschließen – weil es zu viele Orte, zu viele Täter sind.
Befehl aus den obersten Etagen
Attacken von derartigem Ausmaß sind nur möglich, wenn der Befehl aus den obersten Etagen kommt, und zwar nicht von der Polizei, sondern von der Politik. Wenn man sich vorstellt, dass irgendwo im Kreml regelmäßig Besprechungen zum „Problem Nawalny“ stattfinden, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Stimmung bei diesen Besprechungen in den vergangenen Monaten dreimal umgeschlagen ist.
Zunächst setzte man auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“, auf staatsloyale Aktivisten, die zwar von der Polizei gedeckt wurden, aber formal eigenständig operieren. Seljonka, Pikets, Schlägereien und Provokationen bei öffentlichen Veranstaltungen – das Standardprogramm der anti-oppositionellen Aktivitäten, das offensichtlich nicht nur dazu gedacht ist, den letzten Nerv zu rauben und die Arbeit zu behindern, sondern auch eine Grundstimmung erzeugen soll, die vermittelt: Wo Nawalny ist, da sind Skandale, Pöbeleien und andere unangenehme Dinge, von denen man sich besser fernhält.
„Wo Nawalny ist, da sind Skandale“
Zum Bruch kam es nach der Seljonka-Attacke, die für Nawalny mit einer Augenverletzung endete – zwischen psychischem und physischem Terror existiert sogar in Russland eine klare Grenze, und die Verantwortung für diese versuchte Verstümmelung trägt mindestens deswegen stillschweigend der Staat, weil die Polizei untätig zuschaute.
Nach der unerwarteten Entscheidung, Nawalny zur Behandlung nach Spanien ausreisen zu lassen, sickerten zahlreiche Informationen durch, der Kreml sei verärgert über die enthemmten [staatsloyalen – dek] Provokateure; das Feuer ihrer Aktivitäten würde nun jedenfalls eingedämmt.
Startschuss für die Polizeioffensive
Es wurde tatsächlich für einige Wochen ziemlich still um die sogenannte „Zivilgesellschaft“, bis zu ihrem triumphalen Auftritt in Krasnodar Anfang Juli, der quasi den landesweiten Startschuss für eine weitere Attacke gab - diesmal sogar der Polizei: ohne Seljonka, dafür mit Gefangenentransportern und überbordender Gewalt.
Zu deren Symbol wurde das Drama um den Aktivisten Alexander Turowski: Als er beim Polizeiangriff auf das Wahlkampfbüro in Moskau verletzt wurde, bugsierte man ihn, inklusive hämischer Kommentare vom Chefarzt, aus dem Sklifosowski-Krankenhaus geradewegs vors Gericht. Dort verdonnerte man das Opfer von polizeilichem Sadismus auch noch zu einer Strafe von 500 Rubel (von einer Strafe für die Polizisten, die mit Kampf-Sambo gegen Turowski vorgegangen waren, ist natürlich keine Rede).
Ein Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt
Offensichtlich hat sich in diesen Monaten etwas radikal geändert. Bis dato hatte die Staatsmacht Nawalny an seiner Expansion in die Regionen nicht gehindert, und auf einmal tut sie es mit einem Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt. Die Episode mit den regionalen Büros und freiwilligen Wahlkampfhelfern war ohnehin nur ein Nebeneffekt der Unentschlossenheit, ob Nawalny zur Wahl zugelassen wird oder nicht – diese Unentschlossenheit wurde selbst von der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa offen benannt. Dann kam der Juli, und die Staatsmacht begann, mit den Wahlkampfbüros aufzuräumen, ohne sich weiterhin hinter den Kosaken, der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) oder dem South East Radical Block (SERB) zu verstecken. Bedeutet das, dass die endgültige Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits gefallen ist?
Ist Nawalnys Nicht-Zulassung zur Wahl bereits entschieden?
Ohne zu optimistisch klingen zu wollen: Bisher gibt es keinen Anlass, in der Polizeiattacke gegen Nawalnys Kampagne Anzeichen für eine endgültige Entscheidung zu sehen. Höchst deutlich definiert ist der Gegenstand des staatlichen Unmuts: die Wahlkampfzentralen und die Nawalny-Anhänger.
Innerhalb weniger Monaten ist im Land eine gewaltige neue überregionale Oppositionsbewegung entstanden – tausende neuer Anhänger konnten rekrutiert werden, die bislang jenseits der in den Regionen vermuteten zwei, drei Hanseln existiert haben.
Seit März sprechen Nawalnys Kritiker von der sogenannten Schkolota [und meinen damit die „dummen Schüler“ – dek], doch unter dieses abfällige Label fallen nicht die, die man vermeintlich vernachlässigen könnte (zum Beispiel der typische Leiter eines regionalen Wahlkampfbüros, der „Gewinner der regionalen Schüler-Olympiade für Geschäftsleute“, der Harvard-Student in spe, der künftige Programmierer).
Die Jugend wird Opposition
Dass diese Jugendlichen einmal zu Oppositionellen mutieren würden, damit hat die Staatsmacht wohl nicht gerechnet. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie diese Leute erbarmungslos aus der Politik jagen, genauso wie einst die Limonow-Anhänger. Die Unterbindung jeglichen größeren Aktivismus mithilfe von Polizeigewalt ist ja nicht einmal neu – es ist eine Konstante des gesellschaftspolitischen Lebens in Russland. Ein paar Monate lang hat man aus irgendeinem Grund zugelassen, dass die Menschen diese Konstante vergessen, und jetzt erinnert man sie wieder daran.
Der Staat attackiert jetzt die Jugend
Die aktuelle Säuberung macht sowieso den Anschein, als hielte die Staatsmacht ihr bisheriges Verhalten für einen Fehler: Indem sie die Eröffnung von Wahlkampfbüros in diversen Städten des Landes nicht verhinderte, senkte sie den Grad an Leidenschaftlichkeit, den die jungen Menschen mitbringen mussten, um in die Opposition zu gehen. Ein legales Stabsquartier in einem echten Büroraum, angemietet irgendwo im Stadtzentrum – an einen solchen Ort zu kommen ist psychologisch deutlich leichter, als in irgendeine Wohnung, die dem Untergrund als Treffpunkt dient. Die jungen Leute, die gestern noch schlicht keine Möglichkeit gesehen hatten, sich der Opposition anzuschließen, strömten plötzlich in diese Wahlkampfbüros. Damit zerstörten sie die gestrigen Vorstellungen von den unpolitischen Massen und den begrenzten menschlichen Ressourcen der Opposition.
Die Staatsmacht attackiert jetzt genau diese Jugend, versucht, sie von der Politik abzuschneiden. Sie versucht sie in den vorherigen Zustand zurückzuführen, als oppositionell zu sein noch bedeutete, in unnützen Pikets suspekter Organisationen herumzustehen und danach lange, unangenehme Gespräche in Extremismus-Zentren des FSB zu führen, am Arbeitsplatz, in der Schule oder Universität.
Nawalny: Alternativlos in Anti-Putin-Kreisen
Die Ränkespiele um Nawalnys politische Perspektiven bleiben dabei genauso offen wie im Frühjahr. Nawalnys Gelassenheit in Bezug auf Turowski und andere betroffene Aktivisten verunsichert viele, erscheint aber verständlich, wenn man die Attacken auf die Wahlkampfbüros und die gegen Nawalnys Kampagne selbst als zwei verschiedene, wenn auch miteinander verbundene, Dinge begreift.
Während die Polizei auf Freiwillige einprügelt und Flugblätter und T-Shirts beschlagnahmt, wettern die Sprecher bei Echo Moskwy gegen Intellektuelle, die sich weigern, in Nawalny zu investieren, dessen Alternativlosigkeit längst zum Mainstream und allgemeinen Konsens in Anti-Putin-Kreisen geworden ist. Selbst wenn man alle Wahlkampfhelfer hintereinanderweg einbuchten und die Zentralen niederbrennen würde – an Nawalnys Führungsposition würde das nichts ändern.
Damit Wladimir Putin sich vor Journalisten rechtfertigen muss, warum er denn nicht mit Nawalny debattiere, braucht es weder Wahlkampfbüros noch Wahlkampfhelfer. Die Kreml-Besprechung, bei der entschieden wird, was man mit Nawalny im Kontext der Präsidentschaftswahlen tun soll, die steht noch bevor.