Das Verhältnis der verschiedenen oppositionellen Gruppen in Russland zueinander und zum politischen System ist kompliziert - und eng mit der Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen unter Präsident Putin verbunden. Entscheidend sind die Jahre von 2000 bis 2007: In dieser Zeit wurden Parteien- und Wahlgesetze reformiert und das Parteiensystem insgesamt wurde stabiler. Mit anderen Worten: Es erstarrte – zu einem hierarchischen Gebilde aus der dominanten Regierungspartei Einiges Russland und drei weiteren Parteien, die sich mit ihrem nachgeordneten Platz im System weitgehend arrangierten.
Diese Umbildung lässt sich auch durch den Bedeutungswandel des Begriffs der „systemischen“ beziehungsweise „nicht-systemischen“ Opposition nachvollziehen. Während er zunächst Gruppen bezeichnete, die die formalen demokratischen Regeln ablehnten, wird er jetzt für Akteure verwendet, die im „System Putin” keine Rolle spielen und daher nur am Rande des politischen Prozesses vorkommen.
Noch in den 1990er Jahren wurden in Russland diejenigen Parteien als nicht-systemische oder extrasystemische Opposition bezeichnet, die die „Spielregeln und die normative Begründung”1 des politischen Systems nicht anerkannten – also die demokratische Verfassung selbst von Grund auf ablehnten.2 Dazu zählten unter anderem die 1993 gegründete Nationalbolschewistische Partei sowie zahlreiche rechtsextreme und kommunistische Splittergruppen.
In den 2000er Jahren bildete sich dann nach und nach eine klare Parteienhierarchie heraus. Die Regierungspartei Einiges Russland konnte sich mit viel Unterstützung des Kreml auf allen Ebenen als dominante politische Kraft etablieren – bis zu dem Punkt, an dem Wahlergebnisse vollkommen vorhersehbar wurden. Mit dem Wandel des Parteiensystems wandelte sich auch der Begriff der sistemnaja/nesistemnaja opposizija, der systemischen und der nicht-systemischen Opposition.
ZWEI LAGER(?)
Klassischerweise werden zwei Lager unterschieden: Da ist zunächst die so genannte Systemopposition. Sie besteht aus der KPRF, der LDPR und der Partei Gerechtes Russland (gelegentlich wird auch noch die liberale Kleinpartei Rechte Sache dazugezählt).
Diese Parteien nehmen regelmäßig an Wahlen teil und erringen Mandate – wenn auch nie eine Mehrheit. Für dieses Privileg mussten sie den Preis reduzierter Unabhängigkeit zahlen: Kritische Rhetorik wird geduldet, weitergehende Handlungen dagegen – wie etwa Bündnisse mit radikalen Oppositionsgruppen – ziehen Repressionen nach sich.
Auf der anderen Seite steht die Nicht-System-Opposition. Anders als noch in den 1990er Jahren umfasst der Begriff dabei heute auch viele Gruppen, die ausdrücklich die parlamentarische Demokratie als Organisationsform von Politik unterstützen. Auch was ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung betrifft, unterscheiden sich einige dieser Gruppen nicht besonders von der eher zentristisch positionierten Regierungspartei.
Doch was eint dann überhaupt die Nicht-System-Opposition, der heute so verschiedene Gruppen wie die Partei PARNAS von Kassjanow und die Fortschrittspartei Alexej Nawalnys einerseits und die Nationalbolschewisten von Eduard Limonow andererseits zugerechnet werden?
Das einfachste Erkennungsmerkmal ist die Nicht-Teilnahme an Wahlen. Die meisten Gruppen, die der Nicht-System-Opposition zugerechnet werden, sind von der Teilnahme an den formalen Institutionen ausgeschlossen: Sei es, weil ihnen die Registrierung als Partei aufgrund der restriktiven Regeln oder vermeintlicher formaler Fehler versagt wurde, oder weil sie (wie etwa Garri Kasparows Anderes Russland) eine Registrierung ablehnen – da eine solche aus ihrer Sicht die nichtdemokratischen Institutionen legitimieren würde.3
KEINE FUNKTION IM „SYSTEM PUTIN”
Der Begriff nicht-systemisch macht dabei noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Die marginalisierten Parteien der Nicht-System-Opposition sind für das Funktionieren des hierarchischen Modells unerheblich. Man kann sagen,sie haben im „System Putin” keine Funktion. Dagegen werden die parlamentarischen Oppostionsparteien oft als Stützen des Regimes betrachtet, weil sie unzufriedene Wähler auffangen, die andernfalls zu umstürzlerischen Alternativen abwandern könnten.
Diese Unterscheidung von zwei „Klassen“ russischer Opposition ist allerdings etwas simpel. Es gibt immer wieder Versuche einzelner Gruppierungen an Wahlen teilzunehmen, obwohl sie sie für undemokratisch halten. Beispielhaft steht dafür das Ergebnis Alexej Nawalnys bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen im Jahr 2013, als er aus dem Stand 27 % der Stimmen erhielt.
Zudem ist der Übergang zwischen Regimeeliten und Anführern der Nicht-System-Opposition fließender als es die begriffliche Darstellung vermuten lässt. Michail Kassjanow, der heute der höchst putinkritischen Partei PARNAS vorsteht, war unter Putin Ministerpräsident – bevor er 2003 wegen seiner abweichenden Position in der YUKOS-Affäre in Ungnade fiel und 2004 entlassen wurde.
EHER KRITIKER PUTINS ALS KRITIKER DES SYSTEMS
Der Begriff der Nicht-System-Opposition ist aus diesen Gründen nur bedingt tauglich, zu einer differenzierten Beschreibung des russischen politischen Lebens beizutragen. Er suggeriert eine Distanz zum politischen System, die nicht auf alle Beteiligten zutrifft. Zahlreiche Akteure, die mit diesem Begriff erfasst werden, sind weniger Kritiker des politischen Systems als vielmehr Kritiker Wladimir Putins. Sie mit Gruppen zusammenzufassen, die eine wie auch immer geartete Revolution anstreben, erscheint kaum sinnvoll. Zumindest aber zeigen der Begriff und sein Bedeutungswandel anschaulich, wie fundamental sich die politische Landschaft Russlands in den vergangenen 15 Jahren verändert hat – obwohl die Institutionen größtenteils die gleichen geblieben sind.