Seit 2020 hat die Abhängigkeit des Lukaschenko-Regimes von Russland bedrohliche Formen angenommen. Der intensivierte russische Einfluss macht sich auch in der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur bemerkbar, wo imperiale Narrative des Kreml an Deutungshoheit gewinnen. Das neueste Beispiel: Ende September veröffentlichte die belarussische Regierung eine offizielle Liste mit 55 historischen Persönlichkeiten – das neue Pantheon der Nationalhelden. Es soll zukünftig auf sechs riesigen Wandreliefs an der Fassade des neuen Historischen Nationalmuseums zu sehen sein, das gerade in Minsk gebaut wird.
Der Journalist und Propaganda-Experte Pavlyuk Bykovsky hat sich die Reliefs genauer angeschaut. Für das Online-Portal Pozirk zeigt er, warum manche historische Persönlichkeiten der belarussischen Geschichte abgebildet werden, andere wiederum nicht.

Wer darf in Lukaschenkos „Helden-Pantheon” und wer muss draußen bleiben? / Kollage © dekoder/ Hintergrund © Depositphotos/ Imago
Bei einem Treffen des ideologischen Ausschusses am 17. September, dem Tag der Nationalen Einheit, hatte Lukaschenko vorgeschlagen, ein solches Pantheon zu schaffen. Die Auswahlkriterien umriss er wie folgt: „Man muss wissen, wer Held und wer Feind ist. Wer hat einen Beitrag zur Weltkultur, Wissenschaft, Geschichte geleistet und dabei die Verbindung zur Heimat gehalten, und wer hat das vollbracht, aber seiner Identität entsagt. Wir streichen niemanden aus unserer Geschichte. Aber es müssen Akzente gesetzt werden, klar und bestenfalls ohne Halbheiten.“
Nun wurden diese Wandreliefs vorgestellt: Sie bilden verschiedene Epochen ab – vom Altertum bis zur Gegenwart – und konkrete Persönlichkeiten: Großfürsten, Heilige, Schriftsteller und sowjetische Funktionäre. Ein Name auf der Liste überrascht besonders. Auf dem Relief „Belarus vom 5. bis zur Mitte des 13. Jh.“ taucht neben Wseslaw Bratschislawitsch (genannt Der Zauberer), Euphrosyne von Polazk und Kyrill von Turau – Personen, die jeder Belarusse aus dem Geschichtsbuch kennt – auch Juri Jaroslawitsch auf, ein Fürst von Turau, der im 12. Jahrhundert regierte. Wer ist er? Er hat keine Dynastie begründet, keine Chronik geschrieben, er ist kein Heiliger und kein Held volkstümlicher Erzählungen. Einfach einer von Dutzenden Fürsten, deren Namen in Quellen erhalten blieb.
Ein anderer Fürst – Gleb Wseslawitsch (von Mensk) – schaffte es nicht ins Pantheon. Dabei wäre er nach Wseslaw dem Zauberer und anderen Fürsten von Polazk und Turau der offensichtlichste Kandidat. Gleb gründete Minsk (Mensk), kämpfte mit Wladimir Monomach, hinterließ seinen Fußabdruck in der Geschichte. Warum schloss man ihn aus? Weil er sich einem in Russland angesehenen Fürsten widersetzte? Und hob man Juri Jaroslawitsch andererseits dafür aufs Podest, dass er einige Zeit zum engen Kreis des Moskau-Gründers Juri Dolgoruki gehörte?
Der Fall Juri Jaroslawitsch ist nicht bloß ein kurioser Fehler oder eine unglückliche Wahl. Er ist ein Symptom. Ein Symptom dafür, wie das belarussische Regime versucht, eine nationale Identität zu konstruieren, indem es sie gleichzeitig demontiert.
Identitätskonstruktion von oben
Die belarussische Nation bildete sich mit Verzögerung heraus, sie verschlief den europäischen Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts. Die Aristokratie war entweder polonisiert oder russifiziert, die Bauern sprachen Belarussisch, aber begriffen sich nicht als eigenständige Nation – eher als „Hiesige“, einem Ort zugehörig. Die Orthodoxen bezeichneten sich als Russen, die Katholiken als Polen.
Zu Beginn der 20. Jahrhunderts bildete sich eine institutionelle Basis heraus – Zeitungen, Schulen, Theater, Verlage, Museen. Der Erste Weltkrieg führte auf dem Territorium von Belarus zu einer massenhaften Umsiedelung von Menschen: Aus den inneren Gouvernements des Russischen Imperiums kamen viele an die Front an der Westgrenze, gleichzeitig verließen Flüchtlinge das Gebiet. Diese Migrationsbewegungen erlaubten es den russisch-imperial denkenden Bolschewiken, den belarussischen Versuch einer Volkssouveränität zu unterdrücken. Anstelle der Belarussischen Volksrepublik, deren Geschichte von sehr kurzer Dauer war, gaben die Bolschewiki den Belarussen nominelle Staatlichkeit in Form der Belarussischen Sowjetrepublik, die jedoch vollständig Moskau unterstellt war.
Am Ende der sowjetischen Epoche war die belarussische Sprache marginalisiert, ein Großteil der Bevölkerung fühlte sich der großen Sowjetgemeinschaft zugehörig, mit Russisch als Erstsprache. Nach dem Zerfall der UdSSR gehörte Belarus nicht mehr zum kommunistischen Imperium, eine Nation im vollständigen Sinne des Wortes war aber auch noch nicht vorhanden. Das belarussische nationale Projekt blieb schwach ausgeprägt, die Sprache dominierte nicht, das historische Gedächtnis war bruchstückhaft, es gab kein einheitliches Heldenpantheon.
Ab dieser Zeit wird es nun wirklich interessant. Seit Lukaschenkos Machtantritt 1994 wird die belarussische Identität von oben konstruiert – auf völlig andere Weise. Das Regime versucht, eine Version der Nation zu schaffen, die dem Herrscher zuträglich ist und keinen Widerspruch zu seinem Integrationskurs mit Russland darstellt. Das Resultat dieser Konstruktion sehen wir nun auch im offiziellen Pantheon von 2025. Um seine Spezifika besser zu verstehen, muss man genau hinschauen: Wer wurde aufgenommen und – nicht weniger wichtig – wer ist nicht dabei?
Wer gilt als Held und warum?
Das Pantheon der Nationalhelden ist mehr als eine Liste ehrwürdiger Figuren der Vergangenheit. Es ist ein politisches Manifest, eine kodierte Botschaft, als welche imaginäre Gemeinschaft das Regime das Land sehen will.
Wandrelief 1: Vorstaatliche Periode. Sammeldarstellung der drei Stämme – Kriwitschen, Dregowitschen und Radimitschen. Das ist das präslawische Altertum, das als ethnographische Rekonstruktion präsentiert wird. Die Botschaft: Wir sind seit ewigen Zeiten hier, unsere Wurzeln gehen zurück bis in die Urzeit.
Wandrelief 2: 5. Jahrhundert bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Das Relief vermittelt folgende Botschaft: Die belarussische Geschichte beginnt mit der ostslawischen Einheit, die Wurzeln liegen in der gemeinsamen Wiege der Kiewer Rus. Das ist die klassische Konzeption des „dreieinigen russischen Volkes“ in Softverpackung.
Wandrelief 3: 13. Jahrhundert bis 18. Jahrhundert. Hier besteht eine deutliche Lücke, denn keine einzige Figur ist mit dem Staatswesen des Großfürstentums Litauen, Ruthenien und Samogitien verbunden. Vytautas der Große war einer der mächtigsten Herrscher im Osteuropa des 14. und 15. Jahrhunderts, unter ihm erreichte das Großfürstentum seine maximale Ausdehnung – er ist nicht abgebildet. Großfürst Jogaila, der Begründer der litauisch-polnischen Union, fehlt ebenfalls.
Warum wurde das Großfürstentum Litauen ausgespart? Weil es ein Staat war, in dem die Vorfahren der heutigen Belarussen die politische Elite stellten, in dem das Altbelarussische Verwaltungssprache war, in dem eine Rechtstradition herrschte, die sich von der Moskauer Variante unterschied. Das Großfürstentum ist eine historische Alternative, in der die Belarussen nicht Teil der Russischen Welt sein konnten. Für das Regime, das seine Legitimität auf der Integration mit Russland gründet, ist das eine gefährliche Perspektive.
Dafür gibt es Franzisk Skaryna – allerdings als Aufklärer, nicht als Mensch der europäischen Renaissance. Auch Simeon von Polazk ist abgebildet, aber als Kirchenmann, nicht als Intellektueller und Vermittler zwischen den Kulturen. Dargestellt ist zudem Afanasij Fillipowitsch (Athanasius von Brest), ein orthodoxer Polemiker. Die Botschaft: Die belarussische Kultur des 13. bis 18. Jahrhunderts ist geprägt von orthodoxer Aufklärung, nicht von der staatlichen Tradition des Großfürstentums Litauen.
Wandrelief 4: Ende 18. Jahrhundert bis Beginn des 20. Jahrhunders. Hier wird die gesellschaftliche und kulturelle Blüte der Nation vorgestellt – allerdings streng gefiltert. Wir finden die Klassiker der belarussischen Literatur, allerdings fehlt Kastus Kalinouski.
Das ist besonders bezeichnend. Bis 2020 stand Kalinouski, der Anführer des Aufstandes gehen den Zarismus, in den Lehrplänen auf den Listen der belarussischen Helden. 2019 nannte Lukaschenko ihn gar „einen von uns“, und eine offizielle Delegation fuhr nach Vilnius, um an der Zeremonie der feierlichen Umsetzung der sterblichen Überreste des Revolutionärs teilzunehmen. Nach 2020 änderte sich alles. Der Aufstand von 1863 wurde nun als „polnisch und antibelarussisch“ dargestellt, die Figur Kalinouski in den Staatsmedien schwarzgemalt. Die Botschaft: Kultur- und Geistesleben der belarussischen Gesellschaft des 19. und20. Jahrhunderts sind nur in der „ungefährlichen“ Version akzeptabel: Literatur, Sprache und Volkskunde. Der politische Kampf gegen das Russische Imperium gehört nicht dazu.
Wandrelief 5: 1917 bis 1991. Niemand hat daran gezweifelt, dass das Regime sich als Nachfolger der BSSR betrachtet. Kein einziger Vertreter der Belarussischen Volksrepublik (BNR) ist dargestellt, weder Wazlau Lastouski noch Jasep Ljossik noch Anton Luzkewitsch. Die Botschaft: Die sowjetische Tradition ist legitim, die nationaldemokratische ist es nicht.

Uladsimir Karatkewitsch, einer der berühmtesten Schriftsteller der belarussischen Literaturgeschichte, hat keinen Platz in Lukaschenkos „Helden-Pantheon”. / Foto © Public Domain
Wandrelief 6: Die Gegenwart. Hier finden wir zahlreiche Helden und Kulturschaffende. Bezeichnend ist, wer fehlt: Wassil Bykau, ein Schriftsteller, dessen Schaffen zum Symbol für die belarussische Literatur des 20. Jahrhunderts wurde, ein Existenzialist, dessen Helden unter widrigen Bedingungen tiefgreifende Gewissensentscheidungen treffen. Und auch Uladsimir Karatkewitsch fehlt, der belarussische Sienkiewicz, einer der Vorreiter des romantischen Nationalismus in der Literatur des Landes.
Warum? Weil sie „problematisch“ sind – zu unabhängig, zu kritisch. Ihr Werk könnte zu Ungunsten des Regimes interpretiert werden. Man muss auch gar nicht grübeln, was zum Ausschluss geführt haben mag, denn die Vertreter des Regimes teilten die Gründe selbst mit.
Wjatscheslaw Danilowitsch, stellvertretender Vorsitzender der Kommission des Ausschusses für Bildung, Kultur und Wissenschaft, legte im Fernsehsender CTV äußert offen die Auswahlkriterien dar. Seinen Worten zufolge ist Tadeusz Kościuszko inakzeptabel, weil er zwar dem lokalen Adel entstammte und auf belarussischem Gebiet geboren wurde, aber im Kampf um die Unabhängigkeit letztlich Interessen des polnischen Staates und der USA vertreten habe. Kalinouski, so führte er aus, sei ebenfalls eine uneindeutige Persönlichkeit gewesen. Die Regierung streiche niemanden aus der Geschichte, erklärte Danilowitsch, sondern betrachte objektiv die jeweilige Tätigkeit. Ins Pantheon soll nur eingehen, wer dessen wirklich würdig ist.
„Wirklich würdig“ – wer ist das also? Der kaum bekannte Juri Jaroslawitsch, sowjetische Funktionäre, orthodoxe Heilige, „ungefährliche“ Kulturschaffende. Wer ist es nicht? Wer für Unabhängigkeit gekämpft, alternative Staatsprojekte begründet hat oder zum Symbol des Widerstandes werden könnte.
Die Mär vom „Westrussentum”
Die Zusammensetzung des Pantheons erklärt sich in gewisser Weise durch die seit 2020 verstärkte Abhängigkeit des Regimes vom Kreml. Lukaschenko braucht Figuren, die für Moskau akzeptabel sind. Er kann niemanden in das Pantheon aufnehmen, der gegen das Russische Imperium kämpfte (Kalinouski), einen alternativen Staat repräsentierte (die Anführer des Großfürstentums und der BNR) oder zum Symbol des Widerstandes werden könnte (Bykau, Karatkewitsch). Es braucht „ungefährliche“ Fürsten, die mit der Kiewer Rus in Verbindung stehen, orthodoxe Geistliche, sowjetische Politiker.
Diese Hypothese erklärt viel, aber nicht alles. Der Prozess der Verdrängung der belarussischen Identität begann schon lange vor 2020. Der Politikwissenschaftler Waleri Karbalewitsch geht davon aus, dass das Regime das Feld für den Lukaschenko-Kult freiräumt. Herausragende historische Helden sind eine Konkurrenz für den „Vater der Nation“. Entfernt man sie alle aus dem öffentlichen Raum, bleibt nur noch ein Symbol – Lukaschenko selbst -- als „Begründer der Staatlichkeit“ seit 1994. Vor ihm war entweder das Chaos der 1990er oder die große sowjetische Vergangenheit oder vernebeltes Altertum.
Das ist eine starke Hypothese. Sie erklärt aber noch nicht, warum das Pantheon so ideal der Doktrin des „Westrussentums“ entspricht. Das Russische Imperium begründete diese Ideologie nach den Teilungen der Rzeczpospolita: Belarus sei „ureigen russisches Land“, die Belarussen seien „Westrussen“. Das Großfürstentum und die Rzeczpospolita verkörperten ein „polnisches Joch“, von dem Russland das Brudervolk „befreit“ habe.
Im 19. Jahrhundert war diese Doktrin institutionell unterlegt: Unter Nikolai dem Ersten war das Wort Belarus verboten, die Schulen wurden russifiziert, Unierte verfolgt, Loyalität – orthodoxe Geistliche, Beamte, Intellektuelle – wurde finanziell unterstützt. Im 21. Jahrhundert existiert der gleiche Mechanismus unter anderem Namen: Russki Mir. Ihm zufolge ist Belarus seit jeher Bestandteil der Russischen Welt und jede Bestrebung, eine separate Identität zu proklamieren, ein vom Westen aufgezwungenes „nationalistisches Projekt“.
Der Staat schafft hier keine Nation. Der Staat konstruiert eine imaginäre Gemeinschaft besonderer Art
Die Zusammensetzung des Pantheons sieht also aus, als hätten es Anhänger der Westrussentheorie erschaffen. Ist Lukaschenko also zur Geisel dieser Doktrin geworden? Wohl kaum. Es ist weitaus banaler. Lukaschenko braucht die Unterstützung des Kreml – und ein Pantheon, das Moskau akzeptiert, kann dabei helfen.
Das Regime schafft eine imaginäre Gemeinschaft (nach dem Konzept von Benedict Anderson ist das unausweichlich, jede politische Macht tut das), aber es ist keine belarussische bürgerliche Nation im klassischen Sinne. Es ist ein hybrides Konstrukt, das die Herausbildung einer vollwertigen nationalen Souveränität blockiert.
Der Staat schafft hier keine Nation. Der Staat konstruiert eine imaginäre Gemeinschaft besonderer Art – eine subnationale Identität der Peripherie im Rahmen einer viel größeren imperialen Gemeinschaft. Das neue offizielle Pantheon ist eines der Instrumente in diesem Prozess, eine Museumsmaschine, die nicht etwa eine belarussische, sondern eine „westrussische“ Erinnerung erschafft.




