Was bedeuten die im Juli 2017 beschlossenen US-Sanktionen gegen Russland für die europäische Öl- und Gasversorgung? Obwohl die Tragweite der Sanktionen auch im Jahr 2019 kaum beziffert werden kann, stellen Wissenschaftler, Rohstoffanalysten und Lobbyisten Szenarien auf. Und trotz aller Divergenzen sind sich die meisten von ihnen in einem Punkt einig: Die Sanktionen werden nicht nur die USA, die EU und Russland betreffen, sie können bei voller Umsetzung1 vielmehr den gesamten globalen Energiemarkt durcheinanderwirbeln – mit unabsehbaren Folgen für die Verbraucher.
Ein wichtiger Teil der neuen Sanktionen betrifft die geplante Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 (NS2). Sie soll nahezu parallel zu der bereits bestehenden 1224 Kilometer langen Nord Stream-Pipeline verlaufen. Ab Ende 2019 soll sie zusätzliche 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr von Russland nach Deutschland transportieren. Die daran beteiligten europäischen Unternehmen Uniper, Wintershall, OMV, Engie sowie Royal Dutch Shell stemmen sich gegen die US-Sanktionen, würden sie doch automatisch darunter fallen, wenn sie sich nicht aus dem NS2-Projekt zurückziehen. Gas sei in freien Marktwirtschaften grundsätzlich eine Ware und kein Politikum, so der Tenor.
Dass die Gegensätzlichkeit Ware versus Politikum nicht so einfach funktioniert, das hat bereits die Debatte über Nord Stream in den 2000er Jahren gezeigt. Damals hielten die Gegner der Pipeline den Gasunternehmen die steigende Abhängigkeit von Russland entgegen: Die EU, und vor allem Deutschland, würden zu einer „Geisel Moskaus“. Putin könne nach Belieben den „Gashahn abdrehen“ oder die „Gaswaffe zücken“.
Das martialische Vokabular wird heute wiederbelebt – dabei zeigt gerade NS2 eindrücklich, dass der schroffe Antagonismus Ware versus Politikum eigentlich überholt ist.
Die im Juli 2017 beschlossenen US-Sanktionen sollen Russland für die Angliederung der Krim , die mutmaßliche Einmischung in den US-Präsidentschaftswahlkampf und für die Unterstützung Baschar al-Assads im syrischen Bürgerkrieg bestrafen.2 Auch innenpolitische Motive sollen eine Rolle gespielt haben: Damit wolle der Kongress – das federführende Gremium bei der Entscheidung über Sanktionen – in erster Linie Trump in die Schranken weisen, so die Einschätzung einiger politischer Beobachter.3
Für Aufregung hat die Entscheidung aber auch in der EU, vor allem in Deutschland gesorgt. Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel sagte im Juni 2017, dass „die Sanktionen auch dazu dienen sollen, die Russen vom europäischen Gasmarkt zu verdrängen. Die Amerikaner wollen amerikanisches Gas in Europa verkaufen, damit amerikanische Jobs sichern und würden so unliebsame Wettbewerber los“4.
Matthias Warnig, Chef des NS2-Projekts und Gazprom -Lobbyist, warnte vor den Folgen: „Sollten die Sanktionen tatsächlich so kommen, hätte das eklatante Auswirkungen auf die gesamte Öl- und Gasversorgung.“5
In Russland waren die staatsnahen Medien indes voller Nachrichten darüber, dass Deutschland und die EU gegen die amerikanischen Russland-Sanktionen seien.6
Wechselnde Fronten?
Die staatsnahen Medien vermittelten den Eindruck, dass die EU mit ihrer Ablehnung von Sanktionen automatisch für NS2 eintritt, ganz nach dem Motto: „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Dabei sprachen die Vertreter der EU-Kommission schon zuvor mehrmals von NS2 als einem Projekt, das sich gegen ihre Diversifizierungspolitik und damit gegen einen wettbewerbsfähigen und transparenten EU-Gasmarkt richte.7
Wie schon bei dem ersten Strang der Pipeline protestierten auch Polen und baltische Staaten mit der Begründung, dass NS2 eine Bedrohung sowohl für die EU-Energiesicherheit als auch für die politische Sicherheit einzelner EU-Mitgliedstaaten darstelle. 2006 hatte der polnische Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski den ersten Strang ausladend mit dem Ribbentrop- -Pakt verglichen, und auch bei NS2 warf Polen Deutschland Energie-Egoismus vor.
Daneben gab es auch pragmatische Bedenken: Die Wettbewerbsfähigkeit von neuen Terminals für LNG (Flüssigerdgas) in Polen und Litauen würde nämlich durch NS2 verschlechtert, so die Argumentation.8
Gasmarkt im Wandel
Verflüssigtes Erdgas über LNG-(Verlade-)Terminals kann sich laut Einschätzung von Rohstoffexperten in den nächsten Jahren zu einem ernsthaften Konkurrenzprodukt für konventionelles Pipeline-Gas entwickeln. Auch die – als Schiefergas gewonnenen – Überschüsse auf dem amerikanischen Markt könnten dazu beitragen, dass die Bedeutung von starren Pipeline-Systemen abnimmt. Viele Faktoren spielen da eine Rolle – unter anderem die politische Situation bei (potentiellen) LNG-Exporteuren wie Katar oder Iran – insgesamt wird sich der globale Gasmarkt mittelfristig aber stark wandeln, so die Einschätzung.9
Diesem Kalkül ist wohl auch der anvisierte Bau von NS2 geschuldet: Gegenwärtig ergibt das Projekt kaum ökonomischen Sinn, gibt es doch genügend freie Kapazitäten. Künftig, mit dem zweiten Strang, könnte sich aber die Nord Stream AG, die zu 51 Prozent Gazprom gehört, eine starke Marktstellung in Deutschland erarbeiten, die den Markteintritt neuer Anbieter erschweren dürfte. Unter anderem wäre dann LNG aus den USA, die laut Prognosen ab 2020 jährlich bis zu 70 Milliarden Kubikmeter10 exportieren könnten, unter bestimmten Voraussetzungen nicht konkurrenzfähig – auch weil Deutschland dafür zuerst ein teures LNG-Terminal bauen müsste.
Energie-Egoismus?
Auch aus diesem Grund argumentieren die NS2-Befürworter, dass das Gas aus NS2 für die deutschen Verbraucher preiswerter wäre als LNG aus den USA.11 Damit könnten außerdem sowohl der Ausstieg aus der Kernenergie kostengünstiger abgefedert als auch die gesteckten CO2-Ziele effizienter erreicht werden. Deutschlands Stellung als Transitland und Drehscheibe für Gas würde gestärkt, und die nationalen Anbieter hätten im innereuropäischen Wettbewerb bessere Karten.
Hinzu kommt das Argument „Handel schafft Frieden“: Mehr gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und Europa könne in Russland einen politischen Wandel bewirken und damit die seit der Krim-Angliederung schwelenden politischen Spannungen zwischen den Handelspartnern mildern, so die Argumentation.
Die Kritiker von NS2 halten dem entgegen, dass der derzeitige Marktanteil russischen Gases auf dem deutschen Gasmarkt durch NS2 von rund 37 Prozent auf rund 60 Prozent steigen könnte.12 Gazprom hätte dann eine sehr dominante Marktstellung, die zwar noch weit von einem Monopol entfernt wäre, langfristig aber dennoch das Potential böte, Preissteigerungen durchzusetzen.
Außerdem verweisen die NS2-Gegner darauf, dass eine verwirklichte Pipeline die gemeinsame europäische Energiepolitik infrage stellen würde: NS2 würde die Entwicklungspläne eines einheitlichen Energiebinnenmarkts der EU untergraben und könnte damit die gesamte europäische Energieversorgungssicherheit gefährden. Deutschlands Konflikt mit den baltischen Ländern und mit Polen in der Energiefrage könnte sich verschärfen, Deutschlands wirtschaftspolitischen Bemühungen in der Ukraine wären ausgehöhlt, so die Argumentation.
In der Tat würde die Ukraine rund zwei Milliarden Dollar Transitgebühren pro Jahr an Einnahmen verlieren, wenn die Ostseepipeline NS2, wie geplant, eine durch das Land bereits verlaufende Pipeline ersetzen würde. Dies könnte zur weiteren Destabilisierung der wirtschaftlich angeschlagenen und durch kriegerische Auseinandersetzungen gebeutelten Ukraine beitragen, was wiederum den restlichen Teil der durch das Land nach Europa führenden Pipeline-Infrastruktur betreffen und somit die europäische Energieversorgungssicherheit gefährden könnte.
Da NS2 die noch bestehenden Geschäftsverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine zusätzlich minimieren würde, ließe sich aber auch ein ganz anderer Schluss ziehen: Аngesichts des Kriegs im Donbass erscheint das Prinzip „Handel schafft Frieden“ nicht so sehr für die deutsch-russischen als vielmehr für die russisch-ukrainischen Beziehungen wichtig. Damit würde sich das wichtigste politische Argument der Pipeline-Befürworter gegen sie selbst wenden.