Joe Biden ist designierter US-Präsident – was ändert sich für Russland? Als US-Präsident Trump vor vier Jahren ins Amt kam, fürchteten viele, er könne eine Marionette Russlands werden. US-Sicherheitsdienste berichteten über russische Einmischung im Wahlkampf. Joe Biden dagegen gilt als sehr kritisch gegenüber dem Kreml, bezeichnete Trump im Wahlkampf als „Putin's puppy“, „Putins Schoßhündchen“.
Putin versicherte kürzlich, Russland werde mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, kritisierte aber Bidens „antirussische Rhetorik“.
Was ist aus der erwarteten Annäherung zwischen den USA und Russland unter Trump tatsächlich geworden? Und was bedeutet ein US-Präsident Joe Biden für Russland? Diese Fragen stellt Meduza drei russischen Experten für die russisch-amerikanischen Beziehungen: Andrej Kortunow, Ivan Kurilla und Dimitri Trenin.
dekoder stellt eine weitere Analyse der Politologin Nina Chruschtschowa dazu, die Projekt veröffentlichte.
„In Russland selbst hat sich nichts zum Guten geändert“
Ivan Kurilla, Historiker, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg
Die Regierungszeit Trumps wurde zu einer Enttäuschung, da die russische Seite etwas anderes erwartet hatte. Man hatte auf warmherzige Beziehungen zwischen den USA und Russland gesetzt – oder zumindest auf eine Verbesserung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren unter Präsident Obama.
Doch besser wurde es nicht, aus zwei Gründen: In Russland selbst hat sich in dieser Zeit nichts zum Guten geändert, es blieb alles beim Alten. In den USA war das „russische Thema“ während der Präsidenschaft Trumps äußerst heiß. Die ersten zwei Jahre beschuldigte man ihn, ein russischer Agent zu sein. In den Beziehungen zu Russland etwas in Bewegung zu bringen, wurde für ihn unmöglich. Bestraft wurde so im Endeffekt nicht Russland, sondern Trump.
Die Sanktionen gegen Russland liefen über den Kongress. Das ist viel schlimmer, als wenn sie über die Regierung laufen – die kann Sanktionen schnell erlassen, aber auch aufheben. Damit der Kongress auch nur zur Prüfung der Aufhebung von Sanktionen schreitet, braucht es großen Druck, was äußerst unwahrscheinlich ist.
Auch der Druck der USA auf Europa bedeutete großen Druck auf Russland. Der Baustopp von Nord Stream 2, weil die USA Sanktionen gegen die Firmen androhten, die daran beteiligt sind, war ein noch größerer Hieb als die direkten Sanktionen. Dieser indirekte Einfluss über Europa versetzte der russischen Wirtschaft einen herben Schlag.
Der Druck der USA auf Europa bedeutete auch großen Druck auf Russland
Die künftigen Beziehungen zwischen den USA und Russland werden von den Beratern abhängen, die der neue Präsident auswählt. Biden wird im Unterschied zu Trump bei wichtigen Fragen auf kollektive Entscheidungen setzen. Mit Sicherheit wird es eine aktivere Außenpolitik geben als bei Trump. Trump hatte im Gegensatz dazu Amerika aus verschiedenen Regionen der Welt abgezogen und war aus internationalen Abkommen ausgetreten. Die Demokraten werden wiederkommen.
Der Präsidentenwechsel bedeutet ein kleines Fenster neuer Möglichkeiten. Vielleicht wird Russland innerhalb der USA nicht mehr als Schreckgespenst benutzt. Die Sackgassen, in die unsere Beziehungen geraten sind, könnten durchbrochen werden. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht, weil sich auf russischer Seite nichts geändert hat, und das würde jeder US-Präsident zur Voraussetzung machen.
„Es wird auch neue Möglichkeiten geben“
Andrej Kortunow, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten
Russlands Hoffnungen in Bezug auf die USA, die vor vier Jahren aufkamen, wurden nicht erfüllt. Unsere Beziehungen mit den USA haben sich in dieser Zeit vielmehr verschlechtert, quantitativ wie qualitativ. Unter Trump wurden die russisch-amerikanischen Summits quasi abgeschafft. Wenn früher ein neuer US-Präsident gewählt wurde, gelang es schnell, ein Treffen auf höchster Ebene zu organisieren. Das war nötig, damit die Räder der schwerfälligen Staatsmaschinen in Gang kamen. In Trumps Fall gab es gerade mal ein Treffen in Helsinki 2018, das die Beziehungen nur verschlechtert hat. Gleich darauf folgten Sanktionen und Kritik an Trump dafür, dass er sich angeblich Putin ergeben habe.
Der Hauptpfeiler in den Beziehungen zwischen den USA und Russland war immer die Rüstungskontrolle. Auch wenn sich beide Seiten über alles Mögliche stritten, auch wenn sich die Beziehungen verschlechterten, die USA und Russland waren stets der Meinung, dass die Kontrolle strategischer Waffen das ist, was ihre Beziehung so einzigartig macht auf der ganzen Welt und dass man das bewahren müsse. Unter Trump wurde all das zerstört. Die US-Administration ist aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und hat praktisch jegliche Versuche abgelehnt, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Das heißt: Der Grundpfeiler unserer Beziehungen ist zerstört.
Die Rhetorik gegenüber Russland wird sich erheblich verändern
Biden wird nun Präsident, und dies wird die Rhetorik gegenüber Russland erheblich verändern. Sie wird hart und kritisch sein, im Gegensatz zu Trump wird Biden Putin keine Komplimente machen. In einigen Bereichen wird Biden ein schwierigerer Partner sein als Trump. Er wird einen Akzent auf Menschenrechte in Russland setzen, vielleicht wird die Magnitski-Liste erweitert oder Neues beschlossen, wie zum Beispiel eine Nawalny-Liste. Intensiviert wird die Unterstützung für die Ukraine, Georgien – Staaten, die mit Russland in Konflikt stehen. Biden wird sich bereit zeigen, die Opposition in Belarus zu unterstützen und die Mittel für oppositionelle Menschenrechtsbewegungen im postsowjetischen Raum aufzustocken. Bidens Politik wird darauf abzielen, das transatlantische Bündnis wiederherzustellen und den Spielraum für russische Manöver einzuschränken. Er wird versuchen, die ruinierten Beziehungen zu den europäischen Partnern wiederherzustellen.
Es wird aber auch neue Möglichkeiten geben: Biden wird mehr Interesse an Rüstungskontrolle zeigen, da er die Entscheidung von Trump, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, nicht unterstützt hat. Die wichtige Frage ist: Inwieweit ist Biden bereit, die Sanktionen gegen Russland auf ein qualitativ anderes Niveau zu heben?
„Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören“
Dimitri Trenin, Politikwissenschaftler, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums
Unter Trump haben die Beziehungen zwischen den USA und Russland einen neuen Negativ-Rekord erreicht. Seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre war das Niveau nie so schlecht wie heute. Doch die Grenze oder der Tiefpunkt sind noch nicht erreicht, wir bewegen uns weiter in diese Richtung. Präsident Putin bezeichnet den Handel als ein Plus, doch der findet in beiden Richtungen nur noch minimal statt. Außerdem haben die US-amerikanischen Sanktionen den Handel russischer Firmen mit ihren wichtigsten Partnern behindert.
Dafür sind wir in keine direkte Auseinandersetzung mit amerikanischen Streitkräften geraten, obwohl das nicht unwahrscheinlich war.
Sehr unerfreulich war für Russland, dass es während der vergangenen vier Jahre zum Objekt der amerikanischen Innenpolitik wurde. Wer Verbindungen zu Russland unterhielt, wurde zum Prügelknaben – vor allem die Republikaner mussten dafür einstecken. Aber auch sie verhielten sich hart gegenüber Russland, um mit den Kollegen mitzuhalten.
Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören und noch heftiger werden.
Das Unangenehmste für Russland, was unter Biden geschehen könnte: Durch ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnten die USA in Europa riesige Raketen aufstellen, die auf die Zerstörung strategischer Zentren und Objekte in Russland zielen. Wichtige Stützpunkte und das russische Atomwaffenarsenal selbst wären dann drei bis fünf Flugminuten von Polen entfernt. Auf US-amerikanische Raketen zu reagieren wäre praktisch unmöglich. Das kann gefährlich sein und könnte dazu führen, dass Russland zur Ausarbeitung eines Präventivschlags übergeht. Im Ernstfall wird Russland nicht warten, bis eine Rakete fliegt, sondern wird als erstes zuschlagen, was die Situation auf der ganzen Welt angespannt macht. Das ist die größte militärische Gefahr.
Das Gute ist, dass die Rhetorik von der russischen Einmischung verstummen könnte. Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie wird nicht mehr so im Vordergrund stehen.
„Beide Länder verstehen sich als Imperien – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung“
Nina Chruschtschowa, Politikwissenschaftlerin, New School, New York, Original
Die Probleme in den russisch-amerikanischen Beziehungen sind deutlich gravierender als die Beziehungskrise zwischen den Länderchefs, unabhängig von ihrer persönlichen Politik. Beide Länder verstehen sich als Imperien, die im Zentrum des Weltgeschehens stehen – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung.
Amerika – die strahlende „City upon a Hill“, die „große Demokratie“ und so weiter (Trumps Verkünden der amerikanischen Überlegenheit war keineswegs etwas Neues) – braucht es, dass alle die USA als überlegen anerkennen und so werden wollen wie sie. Russland besteht seit Jahrhunderten darauf, dass es eine Weltmacht und keine Regionalmacht ist (Obama hat Putin mit dieser Bezeichnung nach der Krim-Annexion schwer verletzt), und wird hinter niemandem herlaufen. Kopieren ja, wenn es um politische Formeln, Kino, Food Courts und so weiter geht. Aber die amerikanische Überlegenheit anerkennen – auf keinen Fall.
Alle „Großmächte“ brauchen einen „Großfeind“. Für Russland ist das Amerika – und umgekehrt genau so.
Ich habe viele Jahre als wissenschaftliche Assistentin für George Kennan gearbeitet, den berühmten amerikanischen Diplomaten, der US-Botschafter in der UdSSR und Philosoph des Kalten Kriegs war. Der hat gesagt, dass Russland und die USA Spiegelbilder seien. Beide Länder leiden unter einem Größen- und Heilsbringer-Komplex.
In seiner Siegesansprache hat Biden gesagt, dass er die „Seele Amerikas heilen“ will. Diese Seele war unter jeder Administration die eines Messias. Der mit fast 78 Jahren gewählte Präsident Biden wird wohl kaum seine außenpolitischen Ansichten ändern, die sich in Zeiten der Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA geformt haben. Und Putin ist selbst genug Messias, mit ebensolchen internationalen Ambitionen.