Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Staatsfernsehen seine Hand im Spiel. So berichten russische Medien derzeit ausgiebig über den Fall einer vermissten 13-Jährigen aus Berlin und behaupten, das Mädchen sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Polizei sieht dafür allerdings keine Anhaltspunkte.
Nachdem der russische Außenminister Lawrow deutschen Medien Vertuschung vorgeworfen hatte, schaltete sich schließlich auch Außenminister Steinmeier in die Debatte ein. Er warnte Russland davor, mit den Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung Unfrieden zu stiften und die Migrationsdebatte unnötig anzuheizen.
Etwa 1,2 Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, einige Hundert von ihnen sind jeweils auf den Demonstrationen vertreten.
The Insider, ein Portal für investigativen Journalismus, macht sich auf die Suche nach den Protagonisten der TV-Sujets, die derzeit für Aufruhr sorgen.
Am 14. Januar hat der Kanal Swesda eine Erzählung von der Apokalypse der EU ausgestrahlt, wie sie derzeit typisch ist. Der Titel lautete: „Europa. Das Paradox der Toleranz“. Einen der Schlüsselkommentare liefert darin eine gewisse „Viktoria Schmidt“, die mit zitternder Stimme von durch Flüchtlinge begangenen Willkürakten in Deutschland berichtet. Sie erzählt, dass sie ein Abwehrspray bei sich tragen müsse und dass sie und ihr Mann planten, nach Russland zurückzukehren, weil das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde.
https://www.youtube.com/watch?v=hFja_tjbkNM
Reportage des Fernsehsenders Swesda über Russlanddeutsche, die von angeblichen Belästigungen durch Flüchtlinge erzählen
In Wirklichkeit heißt diese „Viktoria Schmidt“ Natalja, tatsächlich lebt sie in Hannover, und ihre Tätigkeit besteht darin, russischen Fernsehsendern – darunter auch den großen staatlichen Kanälen – dabei zu helfen, Geschichten dieser Art gegen eine kleine Summe (rund 500 Euro) zu fabrizieren. Ein Korrespondent von The Insider nahm Kontakt zu Natalja auf, indem er sich als Produzent einer dieser Fernsehsender vorstellte und fand heraus, wie dieses einträgliche Geschäft funktioniert.
„Ich spreche Ihnen jeden Text, den Sie wollen“ – „Viktoria Schmidt“ im Gespräch mit dem Insider-Redakteur, der sich als Produzent eines staatlichen Senders ausgibt
„Horrorgeschichten“ aus der EU
Natalja ist natürlich keinesfalls die Einzige in Deutschland, die „Horrorgeschichten“ über Europa fabriziert. Es gibt mehr als genug Leute, die sich mit Fakes schnelles Geld verdienen wollen. The Insider konnte mühelos einen anderen, ebenso erfolgreichen „Organisator“ solcher Geschichten für das Staatsfernsehen finden – den Kameramann Oleg T. Es beirrt ihn nicht, als ihn der Insider-Korrespondent, der sich als Produzent eines Fernsehsenders ausgibt, darauf hinweist, die Geschichte über Belästigungen seitens der Flüchtlinge müsse nicht den Tatsachen entsprechen. Und Oleg T. stellt eine bescheidenere Rechnung aus: 200 Euro. Was ja logisch ist, denn Natalja bietet ihre Storys, ihre Protagonisten und letztlich auch sich selbst an, Oleg T. dagegen nimmt die Geschichten nur auf Video auf.
Ein Kameramann erklärt sich bereit, ein Interview zu filmen, unabhängig von dessen Wahrheitsgehalt
Was aber soll man von den zwar vereinzelten, aber dennoch das ganze Land überziehenden Kundgebungen gegen Flüchtlinge halten? Solche Massen können doch nicht von russischen Journalisten mobilisiert sein? Doch, können sie. Und das geht ziemlich einfach, wie The Insider recherchierte. Zuerst wird ein Anlass gefunden – dieses Mal war es der Fall eines 13-jährigen russischen Mädchens: Russlands Medien verbreiten massiv Falschmeldungen über eine „Entführung und Vergewaltigung“, würzen das Ganze mit Kommentaren über die angebliche „vollkommene Tatenlosigkeit“ der deutschen Ordnungskräfte und das Verschweigen der Situation in den deutschen Medien, und dann verkünden die Protagonisten in ihren Geschichten, dass man „auf Gewalt mit Gewalt“ antworten solle.
Die russische Diaspora in Deutschland (es handelt sich um rund sechs Millionen Menschen) schaut russische Fernsehsender und wird zum Zielpublikum deutscher Rechter. The Insider hat bereits über Kundgebungen der NPD berichtet, die mit einer russischen Nachrichtenkampagne „synchronisiert“ werden. Aber in Deutschland gibt es noch eine weitere rechtslastige Randbewegung: PEGIDA, die seit 2014 existiert und sich erweitert, indem sie auch Vertreter der russischsprachigen Diaspora zu ihren Agitatoren macht.
Neuer Aufschwung für PEGIDA
Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen schien PEGIDA kurz vor dem Verschwinden, nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der Bewegung, zurückgetreten war. Auslöser war ein Skandal um Fotos, auf denen er als Hitler zu sehen ist, sowie sein Posting auf Facebook, das einen Menschen in Ku-Klux-Klan-Kluft zeigte und mit dem Slogan „Three K’s a day keeps the minorities away“ betitelt war.
2016 hat die Bewegung nun neuen Aufschwung erfahren – überraschenderweise durch die russische Diaspora. Bei Kundgebungen in vielen Städten in Deutschland, als deren Anlass der Fall um das 13-jährige Mädchen diente, bezog man die russische Diaspora ein und machte russische PEGIDA-Funktionäre zu den Hauptrednern, die bei ihrem Auftritt auf Russisch sprachen. So gab ein Zeuge einer solchen Kundgebung in Hannover, der anonym bleiben will, The Insider folgenden Einblick:
„Zuerst gab es einen Aufruf bei Facebook und per SMS, zur Kundgebung zu kommen. Ich erhielt sechs Mal solche Mitteilungen.
In Hannover kamen ungefähr 500 Menschen zusammen. Und irgendwelche Kosaken und Nationalisten redeten irgendeinen unglaublichen Blödsinn. Eine Frau trat auf und stellte sich als ‚Verwandte und enge Bekannte der Familie des Opfers‘ vor. Eine ihrer Bekannten verriet zufällig, dass die Frau in Wirklichkeit eine PEGIDA-Funktionärin sei. Von den sechs Leuten, die auftraten, waren drei von PEGIDA. Außerdem trat noch ein kleiner Mann mit Cowboyhut auf, er war jüdischer Abstammung und kam aus der deutsch-russischen Gemeinde. Zuerst lief sein Auftritt wie geschmiert, aber dann hörte er nicht mehr auf zu reden und begann von einem Freund in Israel zu erzählen, der die Araber hassen würde. Dann verkündete er, dass wir hier alle Deutsche seien, dass wir eine deutsche Ordnung bräuchten, eine deutsche Kultur und ein deutsches Gesetz. Die Leute, die auf diese Kundgebung kamen, waren durch die ganzen Nachrichten verängstigt, und sofort wurden sie hier bearbeitet. Direkt von der Bühne herunter agitierte man, sich PEGIDA anzuschließen.“
The Insider liegt ein Video von dieser Kundgebung vor, darin ruft tatsächlich eine russischsprachige Frau zur Unterstützung von PEGIDA auf. Es ist deutlich, dass sie schlecht Deutsch spricht.
https://www.youtube.com/watch?v=uxS6Y0E3XY0
PEGIDA-Kundgebung in Hannover
Die deutschen Behörden suchen den Dialog mit der russischen Diaspora. Auf einer ähnlichen Demonstration in Lahr (rund 40.000 Einwohner) versucht der Bürgermeister mit den Versammelten zu sprechen und kann die Menschenmenge kaum übertönen: „Jetzt fragen Sie, wie man in unser kleines Lahr tausend Flüchtlinge schicken kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich früher immer wieder gefragt worden bin: Wie sollen wir denn 9.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen? Ja, es war schwierig, es hat Jahre gebraucht, bis die Leute diese Situation annehmen konnten. Aber wir haben es geschafft und ich finde es richtig, letztlich haben wir alle davon profitiert.“
https://www.youtube.com/watch?v=MgLr7j4Sljk
Rede des Bürgermeisters der Stadt Lahr
Viele russische Emigranten sind von diesen Ereignissen nicht minder geschockt als andere in Deutschland lebende Menschen. Wo Russen früher stolz darauf sein konnten, Deutschland von den Nazis befreit zu haben, befürchten sie nun, in den Augen der Deutschen mit rechtsextremen Randgruppen assoziiert zu werden. Das wäre ungerecht, denn PEGIDA-Kundgebungen gibt es nur vereinzelt und sie versammeln einige Hundert Menschen – wohingegen an einer Kundgebung zur Unterstützung von Flüchtlingen allein in Berlin mehrere Zehntausend teilnahmen, darunter auch viele Russen.
Russisches TV als Informationsquelle
Wie sich die Situation weiterentwickelt, hängt zu einem großen Teil von den russischen Fernsehsendern ab. „Das russische Fernsehen ist zurzeit die wichtigste Quelle der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Propaganda für einen ziemlich großen Teil des russischsprachigen Publikums“, erläutert der in Berlin lebende Künstler Dimitri Vrubel gegenüber The Insider.
Aber was die Fernsehnachrichten bringen, ändert sich sowieso ständig. Ging es noch vor kurzem bei zwei von drei Meldungen der staatlichen russischen Fernsehsender um die „Greueltaten der Faschisten in Noworossija“, gefolgt von der „Zerstörung der IS-Hauptquartiere in Syrien“, so widmen sich die Nachrichten heute ausschließlich den „unter dem Flüchtlingsjoch leidenden EU-Bewohnern“. Viele hoffen, dass dieses Thema sich früher oder später auch wieder erschöpft und die rechtsextreme Bewegung ihre Unterstützung verliert.