Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.
80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?
„Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“
Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?
Juri Saprykin
Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..
Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes
In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte.
Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.
Verbotene Volkshelden
Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.
Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.
Wunsch nach starker Führung
Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.
Ella Panejach
Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.
Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit
Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.
Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.
Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen
Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.
Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter.
Komplex historischer Mythen
Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.
Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.
Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer.
Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.
Keiner will die Repressionen zurück
Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“
Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“ In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.
Ilja Wenjawkin
Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.
Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen
Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.
Kein fundamentaler Elitenwechsel
Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.
Legitimation des heutigen Regimes
Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.
Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.
Gewalt als Norm
Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.
Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.
In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.
Nikita Petrow
Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.
Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt
Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.
Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.
Willkür statt Gesetze
Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.
Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.
Es tut sich was
Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.
Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.