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Maria Sacharowa

Mit schrillen Auftritten und aggressiver Rhetorik hat die Sprecherin des russischen Außenministeriums einen neuen Stil in der russischen Diplomatie geprägt. 

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Napoleon Bonaparte in Russland

Kein Ereignis hat die russische Kultur im 19. Jahrhundert so stark beeinflusst wie der Vaterländische Krieg von 1812 – und kein Herrscher die Gemüter und Geister mehr bewegt als Napoleon Bonaparte. Doch erschöpft sich beider Geschichte nicht in der Erzählung von der Abwehr einer existentiellen Bedrohung von außen und dem „nationalen Erwachen“ russischer Patrioten. Vielmehr erschließt sich aus Briefen und Tagebüchern, Bildzeugnissen, Memoiren und Presseartikeln, Gedichten, Volksliedern und Romanen eine komplexe Wirkungsgeschichte, die wie ein roter Faden auch die Erinnerung von Familien über Generationen hinweg durchzieht. 

In unterschiedlichen sozialen Milieus wurde kontrovers über die Folgen der französischen Revolution sowie über Glanz und Elend unbeschränkter Macht in der großen Politik wie im privaten Leben debattiert. Im Zuge dieser Auseinandersetzung entstanden Schlüsselwerke, die zum Grundbestand der „russischen Idee“ zählen. Explizit oder nebenbei, metaphorisch oder symbolisch kreisen sie um die Figur des namenlosen Aufsteigers, der sich den französischen Kaiserthron dienstbar machte, militärisch von Sieg zu Sieg eilte und einem halben Weltreich seinen Willen diktierte, bevor er in den Tiefen des russischen Raumes monströs scheiterte.

Feldzug nach Russland: Schlusskapitel eines Meisterwerks?

Napoleons Feldzug gegen Russland wurde von den Zeitgenossen als ohne Beispiel in der Neuzeit empfunden. Fjodor Glinka, ein Dichter und hoher Staatsbeamter, forderte deshalb bereits 1816, eine monumentale Geschichte dieses Krieges in Auftrag zu geben. Er war nach dem Einmarsch der Grande Armée 1812 in den russischen Militärdienst eingetreten und hatte vieles aus unmittelbarer Anschauung miterlebt: die Gefechte um Smolensk Mitte August, die große Schlacht bei Borodino Anfang September und wenig später die dramatische Wende in Moskau, die Räumung der Stadt durch die russischen Truppen und den nachfolgenden Großbrand. 

Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit, dieses außerordentliche, gewaltige Geschehen mit Sinn zu füllen. Den unzähligen Gerüchten etwa über die Gründe, warum dem auf russisches Territorium vordringenden Massenheer Napoleons keine Entscheidungsschlacht aufgezwungen wurde, sollte Einhalt geboten werden. Statt eines frühen Gegenschlags hatten Krankheiten, Hunger und zahllose Scharmützel die Moral der Invasionsarmee zermürbt. Lediglich ein Bruchteil der weit über 400.000 Soldaten, die am 24. Juni die Memel (polnisch: Niemen) überquert hatten und denen in der Folge weitere knapp 200.000 zugeführt wurden, erreichte gegen Mitte September „Mütterchen Moskau“, das sakrale Zentrum „Mutter Russlands“. Der Armee Napoleons stand eine zarische Streitmacht gegenüber, die nominell ebenfalls über 600.000 Mann verfügte.

Vergeblich erwartete der bisher erfolgsverwöhnte französische Kaiser auf dem „Verneigungshügel“ vor Moskau eine Schlüsselübergabe durch Emissäre der Stadt. Als schließlich große Teile der überwiegend hölzernen Viertel durch Brandstiftung ein Opfer der Flammen wurden, saß Napoleon mit seiner Generalität im steinernen Kreml fest. Ein schreckliches Drama nahm seinen Lauf: Zum entscheidungslosen Abzug gezwungen, wurden die Reste der Grande Armée auf dem Rückweg Opfer des einbrechenden Winters, grassierender Seuchen und der Angriffe frischer regulärer Kräfte und mobiler Partisaneneinheiten an den Flanken. 
Im November kam es an der Beresina zur Katastrophe, als russische Truppen die Hauptroute für den Rückzug abschnitten. Zwar gelang der französischen Restarmee durch ein geschicktes taktisches Manöver die Überquerung des Flusses. Die strengen Fröste dezimierten aber unerbittlich die Reihen der nurmehr in Lumpen gekleideten Davongekommenen. Schätzungsweise 20.000 bis 80.000 kehrten aus Russland zurück. Die Verluste auf russischer Seite werden auf 200.000 bis 300.000 beziffert.

Ob Napoleon den Feldzug gegen Russland als Schlusskapitel eines Meisterwerks plante, ist strittig. Sollte Napoleon mit dem Marsch auf Moskau tatsächlich nach der Weltmacht gegriffen haben, so stieß er ins Leere. Er hatte das in einem Jahrzehnt errichtete Imperium aufs Spiel gesetzt und innerhalb von sechs Monaten an den Rand des Ruins gebracht. Der Nimbus des unbesiegbaren Militärstrategen war zerstört, weil in diesem Krieg die bisherigen Trümpfe nicht stachen. Von seiner Hybris zeugte, dass Napoleon im Angesicht der vernichtenden Niederlage die Pflicht des Oberbefehlshabers verletzte und am 5. Dezember seinen Soldaten den Rücken kehrte, um auf der Flucht nach Paris wieder ausschließlich in die Rolle des Kaisers und Staatsmanns zu schlüpfen. In diesem wohl dunkelsten Moment seiner militärischen Karriere dachte er nicht an Kapitulation, sondern an die Aushebung einer neuen Armee.

Alltägliche Tyrannen

Um solche Unbedingtheit zu fassen, bedurfte es adäquater Begriffe und Ausdrucksformen, denn offensichtlich hatte die französische Revolution die Grenzen individueller Macht verschoben. Napoleon schien moralische Schranken hinter sich lassen, absolut frei entscheiden, seinen Willen zum Maß der Politik machen und das Glück zwingen zu können. 
Der Russlandfeldzug markiert diesbezüglich eine Zäsur: Offener denn je wurden Herrschaft und Persönlichkeit zutiefst ambivalent wahrgenommen. Außerordentliche Leistungen wie etwa das Bürgerliche Gesetzbuch, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, eine funktionale staatliche Verwaltung, die Beschleunigung der internationalen Kommunikation und ein überregionales Verkehrswegenetz traten in den Schatten. Die verlustreichen Massenkriege, die imperiale Expansion, polizeistaatliche Überwachung, der Nationalismus von Portugal bis Russland, der sich in einander verstärkenden Freiheitsbewegungen manifestierte, oder die zunehmend maßlose Eigenpropaganda traten umso greller hervor. 

Strenger Frost dezimierte unerbittlich die Reihen der sich zurückziehenden Grande Armée / Illarion Prjanischnikow, „Im Jahr 1812“, 1874

Wer war Bonaparte wirklich, und was geschah mit Menschen, die „Napoleon sein“ wollten, indem sie dies mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten gleichsetzten? Alexander Puschkin stilisierte in seinen Gedichten in einer Zeit fortdauernder „Gallomanie“ den Kaiser der Franzosen zum Idealbild des romantischen Helden. Obwohl 1812 manch hochtrabender Traum zerstob, blieb der Glanz eines kometengleichen Aufstiegs. Für seine Grundlegung einer „nationalen“ russischen Literatur aus napoleonischem Geist lobte der Kritiker Wissarion Belinski den Dichter. Denn der große Franzose galt ihm vor allem als Symbol des Protests gegen die Unterdrückung, zumal in Russland, wo die Bauern ebenso aufbegehrten wie junge Offiziere in Geheimgesellschaften. 

Auf Napoleon beriefen sich aber auch Anhänger nicht-orthodoxer religiöser Gemeinschaften, etwa die zahlreichen Altgläubigen oder die radikale asketische Sekte der „Skopzen“. Sie verbanden Napoleon mit dem vergegenwärtigten Mythos des kommenden Messias, der sie von den Bedrängnissen der Gegenwart erlösen sollte. 
Wieder andere erwarteten die Wiederkunft des „Antichristen“ gemäß der Johannes-Apokalypse, der über Gläubige wie über Ungläubige richten würde, um sie dem ewigen Leben beziehungsweise der ewigen Verdammnis zuzuführen. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs behauptete der Schriftsteller Dmitri Mereshkowski, Napoleon verkörpere ein ganzes Jahrhundert. 

Russische Truppen schnitten im November an der Beresina die Hauptroutefür den Rückzug ab / Januari Suchodolski, „Die Grande Armée überquert die Beresina“, 1866

Gegen diese Sicht setzte Lew Tolstoi in den 1860er Jahren mit seinem monumentalen Roman Krieg und Frieden ein Anti-Denkmal. Der „Übermensch“ Napoleon erleidet einen „Bankrott“ und schrumpft auf „Quasi-Größe“. Im Getümmel unübersichtlicher Schlachten hängt der Ausgang nicht von der Intuition eines großen Mannes, sondern vom Zufall ab. 
Wie ein Duell gestaltete auch Fjodor Dostojewski seine Abrechnung mit dem Heldenkult. Raskolnikow, der Protagonist des Romans Verbrechen und Strafe, imitiert in seinem schäbigen Dasein den Inhaber absoluter Macht und begeht aus reiner Willkür einen Mord. Napoleon steht für das ultimative Paradigma, einem freien Menschen sei „alles erlaubt“. Eine solche Binnenperspektive war beängstigend, entlarvte sie doch die außerordentliche Persönlichkeit als gewöhnlichen Kriminellen, der sich gottgleich wähnte und deshalb selbst ermächtigte, über Leben und Tod zu entscheiden.

Warten auf „Bonaparte“

Napoleon starb am 5. Mai 1821 im Exil auf Sankt Helena. Für Puschkin bedeutete dies, dass seither „die Welt leer“ war. Gleichgültig, ob das einstige Idol bewundert oder verdammt wurde, es hinterließ ein emotionales Vakuum. Machtökonomisch, sicherheitspolitisch und ideologisch schien alles offen. Solange er lebte, war Napoleon der perspektivische Fluchtpunkt nachrevolutionärer nationaler oder imperialer Bestrebungen gewesen. Von ihm aus definierten kühne Freiheitskämpfer und defensive Machtpolitiker ihre Ziele. Zwar hatte der Wiener Kongress 1815 dem Kontinent eine restaurative Reorganisation verordnet, doch wurde nach der turbulenten napoleonischen Herrschaft in und über Europa nichts wieder so wie es gewesen war.

Napoleon / Jacques Louis David, 1812Der Herrschertyp des charismatischen Soldaten auf dem Kaiserthron bot, zum wiederkehrenden Muster umgedeutet, eine Anleitung zum Staatsstreich in revolutionären Zeiten. Karl Marx interessierte am „Bonapartismus“ weniger der „18. Brumaire 1799“, also der Ursprung der Legende vom automatisierten Regimewechsel, als vielmehr dessen Parodie durch den „zweiten Napoleon“, den Revolutionsgeneral Louis Napoleon. Der hatte am 2. Dezember 1851 die Nachwehen der Revolution von 1848 zum perfektionierten Coup d‘Ètat genutzt. Weder Bonapartes Neffe noch spätere Epigonen kamen dem Vorbild von 1799 nahe. Sich selbst die Krone aufzusetzen, war kein Privileg Napoleons gewesen. Doch transzendierte die pompöse Inszenierung den banalen Militärputsch in eine quasi-monarchische Zeremonie. 

Hingegen reduzierte später Lenin wie vor ihm Marx den vielschichtigen Vorgang ausschließlich auf den funktionalen Übergang in die Despotie. Ironischerweise lässt sich das retrospektiv abgeleitete Verlaufsschema keineswegs nur auf die gescheiterten Diktaturen Kerenskis anwenden, sondern auch auf die Umsturztaktik der Bolschewiki im Oktober 1917: Diese nahmen, wie Jacob Burckhardt vormals in anderem Zusammenhang formuliert hatte, mit ausgeprägtem Gespür für die Macht den Staat als „Beute“. Nach dem verheerenden Bürgerkrieg grassierte in Russland die Sehnsucht nach einem „roten Napoleon“ oder „sozialistischen Kaiser“, zumal als Lenin 1924 gestorben war und der Machtkampf um das Erbe des nicht-militärischen Partei- und Staatsgründers eskalierte. Militärführer wie Michail Tuchatschewski, der vor kaltblütiger Gewalt gegen die Opposition in den eigenen Reihen nicht zurückschreckte, oder Wassili Blücher, waren zwei der fünf ersten sowjetischen Marschälle. Doch Blücher saß später in den Schauprozessen der 1930er Jahre über Tuchatschewski zu Gericht, um kurz darauf selbst dem Räderwerk des Terrors zum Opfer zu fallen.

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