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Bystro #6: Was war der Große Terror?

Ein Überblick über den Großen Terror – in 14 Fragen und Antworten von Memorial-Mitarbeiter Sergej Bondarenko auf Meduza. Einfach durchklicken oder durchwischen.

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  1. 1. Was genau geschah eigentlich im Jahr 1937?

    Im Sommer 1937 begann eine ganze Serie staatlicher Repressionskampagnen, die heute allgemein als der Große Terror bezeichnet wird. Mit dem Befehl Nr. 00447 des Volkskommissariats des Inneren (NKWD) wurde die „Kulakenoperation“ verkündet, bei der Bauern, Priester, ehemalige Adelige und Menschen verhaftet wurden, die auf die eine oder andere Art einer Verbindung zur Weißen Bewegung oder zu oppositionellen Parteien verdächtig waren. 

    Fast parallel hierzu wurden sogenannte nationale Operationen durchgeführt: Nach vorgefertigten Listen wurden Deutsche, Polen, Letten und viele andere Bürger der UdSSR oder auch Ausländer verhaftet. Und mit der Verhaftung einiger hochrangiger Militärführer begannen auch die Säuberungen in der Armee. 

    Unter der Anschuldigung, Verbindungen zu Volksfeinden zu haben, kamen Tausende ins Lager – das waren die sogenannten Familienmitglieder von Heimatverrätern (russ. TschSIR).

  2. 2. Weshalb kam es so weit? Und warum ausgerechnet 1937?

    Die heftigste Welle des staatlichen Terrors erfolgte zwar Mitte 1937, die Vorbereitungen liefen aber schon in den Jahren davor. Als Ausgangspunkt wird oft der 1. Dezember 1934 genannt, der Tag an dem Sergej Kirow, Chef der Leningrader Parteiorganisation und Sekretär des ZK der KPdSU, ermordet wurde (die Rolle, die Stalin bei diesem Mord spielte, ist bis heute nicht endgültig geklärt). 

    In den Jahren danach stieg nicht nur die Zahl der Verhaftungen, es fanden darüber hinaus in Moskau „offene Gerichtsprozesse“ [Schauprozesse – dek] gegen ehemalige Angehörige der Parteispitze statt, gegen den „rechts-trotzkistischen Block“. Es erfolgte ein großangelegter Kaderwechsel im Bereich der Staatssicherheit (Genrich Jagoda wurde als Volkskommissar [des Inneren] durch Nikolaj Jeschow abgelöst). 
    In der Presse wurde viel darüber geschrieben, dass die Repressionen verschärft werden müssen. Eine neue Welle des staatlichen Terrors wurde vorbereitet: Es wurden Lager errichtet, in die zukünftige „Feinde“ geschickt werden sollten; es wurden spezielle Kommissionen gebildet, die die Strafverfahren gegen diese Menschen bearbeiten sollten. 

  3. 3. Und welche Rolle spielte die außenpolitische Lage?

    Zu der Frage, warum die größten Repressionen ausgerechnet 1937 stattfanden, gibt es vielfältige Erklärungen. Neben der inneren Logik der Ereignisse selbst – Jeschow wurde bereits im September 1936 Leiter des NKWD und bereitete dann fast ein Jahr lang sein Ministerium auf die Massensäuberungen vor – wird zu Recht oft auf die große Rolle der außenpolitischen Lage verwiesen, auf den Verlauf des Krieges in Spanien, wo die Kommunisten durch Frankos Armee eine Niederlage erlitten, auf das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschland und auf das von allen gespürte Näherrücken eines neuen großen Weltkrieges

    Vor diesem Hintergrund verstärkten sich in der UdSSR Spionomanie, die Suche nach inneren Feinden – bei denen eben jene sogenannten Ehemaligen (vermeintliche „Kulaken“, Priester, Esery [Sozialrevolutionäre] …) ganz oben auf der Liste standen – wie auch deren Umgebung, ihre Familien, Freunde und Arbeitskollegen.

    Ein weiterer, nicht minder wichtiger Grund ist das Verwaltungssystem selbst, das in der UdSSR in den 20 Jahren seit der Revolution entstanden war. Da die bürgerlichen und politischen Rechte in keinster Weise gewährleistet waren, es keine wirklichen Wahlen der staatlichen Organe und keine Meinungsfreiheit gab, blieb der Terror wichtigstes Mittel für sozialen Wandel. Gewalt wurde zur Gewohnheit. 

  4. 4. Wie reagierte die Gesellschaft auf diese Gewalt?

    Die Repressionen sorgten zwar für Schrecken, wurden aber als etwas Unabdingbares, als Teil des Alltags aufgefasst. In dieser Hinsicht ragen die Ereignisse von 1937 allein durch ihre Dimension und Intensität heraus, schließlich hatte es ja bereits den Roten Terror und die Kollektivierung/Entkulakisierung gegeben sowie in der ersten Hälfte der 1930er Jahre den im Zuge der Industrialisierung organisierten Hunger in der Ukraine, in Kasachstan und im Wolgagebiet. Der Große Terror ist in dieser Hinsicht lediglich eine weitere Episode in einer Reihe der bisherigen Ereignisse.

  5. 5. Wie viele Opfer gab es?

    In der heißen Phase des Großen Terrors, von August 1937 bis November 1938 (als Jeschow abgesetzt wurde), sind über 1.700.000 Menschen aufgrund politischer Anklagen verhaftet worden. Von ihnen wurden über 700.000 Personen erschossen. Und das ist nur das Minimum der statistischen Opferzahl-Schätzung, da zur gleichen Zeit weiterhin Menschen verschickt und „auf administrativem Wege“ deportiert wurden (mindestens 200.000 Personen); Hunderttausende wurden als „sozial schädliche Elemente“ verurteilt. 

    Viele Paragraphen des Strafgesetzbuches jener Zeit (beispielsweise, wenn jemand sich zur Arbeit verspätete oder blau machte), konnten in ihrer Ausrichtung auch als politische Paragraphen eingesetzt werden. Somit ließe sich die Opferstatistik der Vorkriegszeit um mindestens einige Hunderttausend erweitern.

  6. 6. Warum wird oft gesagt, dass die Dimensionen des Terrors übertrieben dargestellt werden?

    Behauptungen, die Dimensionen des Terrors der Jahre 1937 und 1938 seien „übertrieben“, entspringen in der Regel zwei Vorstellungen: Angezweifelt wird die angeblich „gefälschte“ Statistik – obwohl eine große Zahl der regionalen Verhaftungspläne und Stalinschen Erschießungslisten heute bereits veröffentlicht und in vielen Regionen Nekrologe, Gedenkbücher für die Opfer erschienen sind, die sich auf Archivunterlagen stützen. Daneben – und sogar noch häufiger – wird in Zweifel gezogen, dass es einen „politischen“ Gehalt der Beschuldigungen gegeben hat: Viele meinten, wenn jemand verhaftet wurde, dann wird da auch etwas gewesen sein.

  7. 7. Die wird man ja nicht einfach so verhaftet haben?! Da wird jemand schon schuldig gewesen sein!

    Hauptmerkmal des sowjetischen politischen Terrors der 1930er Jahre war seine grundlegende Irrationalität und Unberechenbarkeit. Hierin unterscheidet er sich beispielsweise vom Terror der Nationalsozialisten, dem er oft vergleichend gegenübergestellt wird. 

    Es stimmt zwar, dass die Zugehörigkeit zu einer der „falschen“ Bevölkerungskategorien für die Betroffenen Gefahr bedeutete, andererseits wurden auch Hausmeister und Lokführer verhaftet, wie auch Hausfrauen, Sportler und Künstler – kurzum: Es konnte jeden treffen. 

    Nur ein ganz kleiner Anteil der Verhafteten war tatsächlich an nicht genehmen Aktivitäten beteiligt (ob nun jede Handlung, die von der Politik der Partei abwich, ein Verbrechen darstellt, ist noch eine ganz andere Frage). Alle Übrigen zählten zur Mehrheit der gewöhnlichen, gesetzestreuen Bürger. 

    Da die Ermittlungen zu den Verfahren mit Hilfe von Folter geführt wurden (mit physischer Gewalt, Drohungen gegen Familienangehörige, Schlafentzug in Form von allnächtlichen Verhören und Schlafverbot am Tage), lag der Anteil der „Geständigen“ bei nahezu hundert Prozent. Die Geständnisse dienten als äußerst wichtiges Argument für eine Schuld der Betroffenen, genauso wie die Aussagen von bereits verhafteten oder erschossenen Bekannten und Kollegen.

  8. 8. Stimmt es, dass die Säuberungen in erster Linie die Parteiführung selbst trafen?

    Von den 1,7 Millionen Opfern politischer Repressionen standen lediglich rund 100.000 auf die eine oder andere Weise in einer Beziehung zur Partei der Bolschewiki. Dabei handelte es sich entweder um Mitglieder des Komsomol oder gewöhnliche Parteimitglieder, oder aber – in geringer Zahl – um leitende Parteikader. 

    Zweifellos bestand eines der Ziele Stalins in der Vernichtung der alten Bolschewiki und Revolutionäre, doch in Wirklichkeit waren viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits in zweit- und drittrangige Rollen abgeschoben worden und stellten in der Partei keine wirkliche Opposition dar. 

    Die Vorstellung vom Großen Terror als Terror gegen die Partei ist in der Ära Chruschtschow entstanden, als man bemüht war, die „treuen Gefolgsleute Lenins“ als Hauptopfer der Stalinschen Verbrechen zu deklarieren, während nebenbei die Dimensionen der Repressionen heruntergespielt wurden.

  9. 9. Warum wird Stalin die Schuld an den Repressionen gegeben, wo sich doch die Bürger selbst gegenseitig denunziert haben?

    Ein weiterer, sehr verbreiteter Mythos über die Repressionen sind die „drei Millionen Denunziationen“ (bisweilen werden zwei genannt, manchmal vier). Dass verbreitet schriftlich denunziert wurde, war Teil der allgemeinen politischen Hysterie. Es steht außer Zweifel, dass das bei den Massenverhaftungen eine Rolle gespielt hat, doch sind sehr viel mehr Menschen schlicht und einfach nach Listen verhaftet worden, nach im Voraus abgesegneten Plänen, in denen alle „unzuverlässigen“ Bürger der verschiedenen Ebenen aufgeführt wurden. 

    Zudem sind viele Anzeigen unter riesigem psychischem Druck geschrieben worden: Bereits in der Ermittlungsphase schwärzten die Betroffenen ihre Angehörigen an. Sehr oft standen sie vor der Wahl zwischen der (oft illusorischen) Aussicht zu überleben und dem Zwang, eine Aussage gegen jemand anderen zu unterschreiben. 

    Die Denunziationen sind Teil einer weiteren, sehr wichtigen Frage, nämlich der nach der bürgerlichen Verantwortung der Gesellschaft für den staatlichen Terror. Die Erkenntnis, dass viele an der Ausübung des Terrors beteiligt waren, ist sehr wichtig. Allerdings können die Repressionen auch nicht als reine „Initiative von unten“ betrachtet werden.

  10. 10. Hat Stalin persönlich die Befehle zur Hinrichtung gegeben oder doch nicht?

    Selbstverständlich. Von den 383 Listen, die zur persönlichen Gegenzeichnung durch Mitglieder des Politbüros verfasst wurden – den sogenannten Stalinschen Erschießungslisten – hat Stalin 357 persönlich unterschrieben. Die Gesamtzahl der nach diesem Listenverfahren Verurteilten beträgt rund 44.500. Die ganz überwiegende Mehrheit von ihnen wurde erschossen. 

    Darüber hinaus ist die gesamte Architektur des Terrors höchstpersönlich von Stalin und dessen Umgebung entworfen worden. Umgesetzt wurden die Repressionen unter Stalins unmittelbarer Kontrolle: Ihm wurde über den Stand der Verhaftungskampagnen Bericht erstattet, er ergänzte die Listen um einzelne Personen, und er las die Verhörprotokolle.

  11. 11. Wie war das System der Registrierung der Verhaftungen und Erschießungen aufgebaut?

    Im Unterschied zu vielen der früheren Repressionskampagnen wie denen des Roten Terrors und der Entkulakisierung sind die umfangreichen Operationen des Großen Terrors recht gut dokumentiert. Neben den erwähnten Stalinschen Erschießungslisten sind viele Schlüsseltexte erhalten geblieben, die vor Ort verfasst wurden und in denen gebeten wurde, jene Verhaftungspläne zu präzisieren oder auszuweiten, die aus der Hauptstadt eingegangen waren. 
     
    Die Zahl der Verhaftungen war festgelegt, über die Anzahl der Verhaftungen wurde Bericht erstattet; die Ermittler lieferten sich untereinander einen sozialistischen Wettbewerb über erledigte Verfahren. Und die archivierten Ermittlungsakten der 1937 und 1938 Verhafteten sind mit dem Vermerk „Aufbewahren für alle Zeit“ versehen: Jeder, der es will, kann hingehen und detailliert den Gang der meisten Verfahren gegen die verhafteten (und rehabilitierten) Opfer des Großen Terrors nachlesen.

  12. 12. Kam es denn vor, dass sich bei jemandem, der verhaftet wurde, dann herausstellte, dass man sich geirrt hatte, und er dann freigelassen wurde?

    Geschichten über wundersame Freilassungen und Rettungen bereits verhafteter Menschen stammen in der Regel aus den 1920er Jahren und der ersten Hälfte der 1930er Jahre. 1937/38 waren im Verlauf der Ermittlungen keine Freisprüche vorgesehen: Der Beschuldigte hatte weder das Recht auf einen Anwalt, noch auf eine Revision seines Falles (sehr häufig wurden die Urteile noch am Tag der Verkündung vollstreckt; gefällt wurden sie von Gerichten oder außergerichtlichen Troikas [Dreierkollegien]).
     
    Ein Teil der Personen, die unter Jeschow verhaftet wurden, ist 1939 wieder freigekommen; das wird bisweilen als Berija-Amnestie bezeichnet. Denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer das Glück hatten, vor dem November 1938 ihr Urteil noch nicht erhalten zu haben, gelang es manchmal, eine Revision zu erreichen. Besonders dann, wenn beim Verfahren der Ermittler gewechselt hatte oder es formal noch nicht zu Ende geführt worden war. 
    Allerdings wurden viele dieser Hunderttausenden später wieder verhaftet, während des Krieges oder 1947/48, kurz nach Kriegsende.

  13. 13. Wie viele Menschen wurden wegen ihrer Beteiligung an den Erschießungen bestraft? Gab es überhaupt ein Sanktionierungssystem für Tschekisten?

    Den Statistiken zufolge, die uns vorliegen, sind in dem Jahr nach der Absetzung Jeschows mit ihm rund 1000 Mitarbeiter des NKWD verhaftet worden. Wie auch in den grausamsten Momenten der Kollektivierung wurde der Terror auf Fälle „lokaler Exzesse“ zurückgeführt. Beschuldigt wurden die konkreten Täter. 
    Gleichwohl sind längst nicht alle Tschekisten bestraft oder von ihren Posten entfernt worden. Viele der unmittelbaren Täter des Großen Terrors arbeiteten während des Krieges weiter, erhielten militärische Auszeichnungen für „politische Arbeit in der Armee“ und kehrten als Helden aus dem Krieg zurück.

  14. 14. „Natürlich tut es einem um die Menschen leid, aber dafür ist der Gulag effektiv gewesen“ – stimmt das?

    Wir haben es hier mit einem gigantischen und sehr komplexen, vielschichtigen System zu tun, das nicht erst 1937 entstand, sondern erheblich früher, Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre. Der Gulag bestand nicht nur aus politischen Häftlingen, es gab dort auch gewöhnliche Strafgefangene, und darüber hinaus die Wachen und die Lagerleitungen. 

    Auch in den Lagern war die Zeit des Großen Terrors mit massenhaften Erschießungen und sehr schweren Überlebensbedingungen verbunden (an einigen Orten ist es nur während des Krieges noch schlimmer gewesen, als es nämlich überhaupt nichts zu essen gab). 

    Man könnte jetzt natürlich versuchen herauszufinden, wann genau mehr gebaut wurde, was hätte gebaut werden müssen und was sinnlos gewesen ist … Gleichwohl bleibt die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Gulag eine ethische: Welcher Koeffizient von eingesetzter Sklavenarbeit und welche Zahl an Toten wäre für uns „effizient“ im Verhältnis zu der Menge an gebauten Fabriken und Städten? 

    Darüber hinaus ist die Wirtschaft des Gulag von der modernen Forschung analysiert worden und steht dabei in keiner Weise als „erfolgreich“ da. Es kommt extrem selten vor, dass Zwangsarbeit effizienter ist als freie Arbeit.


*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Autor: Sergej Bondarenko
Übersetzer: Hartmut Schröder
Veröffentlicht am: 30.10.2018

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Archipel Gulag

Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

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Der Große Terror

„Zwischen dem Parteiausschluß und meiner Verhaftung vergingen acht Tage. Während dieser Tage blieb ich zu Hause und schloß mich in mein Zimmer ein. Ich nahm den Telefonhörer nicht ab. Ich wartete … Und alle meine Lieben warteten auch. Worauf warteten wir? Wir erklärten einander, daß wir auf den Urlaub meines Mannes warteten, […]. Sobald er beurlaubt ist, wollen wir nach Moskau fahren um weiter zu kämpfen. […] Aber insgeheim wußten wir ganz genau, daß alles das nicht eintreten würde, daß wir auf etwas ganz anderes warteten.“1

So erinnert sich die Journalistin und Autorin Jewgenija Ginsburg in ihren Memoiren2 an das Warten auf ihre Verhaftung. Es ist das Jahr 1937, der Höhepunkt des Großen Terrors, den das sowjetische Regime unter der Herrschaft Josef Stalins zunächst gegen die Eliten der Kommunistischen Partei entfacht, dann zunehmend gegen die gesamte Bevölkerung. Ginsburg wird im Februar 1937 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und als eine angebliche Trotzkistin zu zehn Jahren Haft verurteilt. Insgesamt wurden zwischen 1936 und 1938 rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, knapp die Hälfte davon ermordet.3

Als einer der Auslöser für den auch als große Säuberungen bezeichneten Terror gilt die Ermordung des Ersten Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirow am 1. Dezember 1934. In diesem Zusammenhang werden zunächst vor allem Leningrader Parteifunktionäre verhaftet, aber dann „zog die Affäre immer weitere Kreise, wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.“4 Für Ginsburg beginnt, wie für Millionen ihrer Landsleute, eine Zeit der Verunsicherung und des bangen Wartens. Eine Zeit, für die der britische Historiker Robert Conquest in seiner 1968 erschienenen Monografie den Begriff Großer Terror einführt.5

Altgediente Bolschewiki werden inhaftiert, einstige Vorbilder als „Volksfeinde“ entlarvt. Im Jahr 1936 kommt es in Moskau zu einem ersten Schauprozess, bei dem Grigori Sinowjew und andere bolschewistische Veteranen ihren Verrat an der Partei einräumen und zum Tode verurteilt werden – die Geständnisse waren unter Folter erpresst worden.6 Sowjetische Medien berichten ausführlich von diesem und den folgenden Schauprozessen: „Die Zeitungsblätter ätzten, verwundeten und vergifteten das Herz, wie der Stachel eines Skorpions. Nach jedem Prozeß wurde die Schlinge enger gezogen.“7

Fünf, vier, drei, zwei: Auf dem Originalbild von 1926 ist Stalin mit seinen Weggefährten abgebildet, v.l.n.r.: Nikolaj Antipow, Josef Stalin, Sergej Kirow, Nikolai Schwernik und Nikolai Komarow. Nach und nach entzieht ihnen Stalin seine Gunst, Antipow und Komarow fallen 1937 bzw. 1938 dem Großen Terror zum Opfer. Das Bild wird parallel dazu beschnitten und retuschiert. Am Ende steht Stalin nur noch mit seinem Günstling Kirow da, der 1934 unter ungeklärten Umständen von einem Attentäter erschossen wurde.

Die Repressionen beschränken sich längst nicht mehr auf Moskau, sie schwappen auch in die sowjetische Provinz über. Jewgenija Ginsburg wird im Februar 1937 in Kasan wegen der angeblichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Untergrundorganisation verhaftet. Im August 1937 wird sie zu zehn Jahren Isolationshaft8 verurteilt, die später in Lagerhaft umgewandelt werden wird. Ihre Erleichterung über das Urteil ist groß: „Plötzlich wird es um mich hell und warm. Zehn Jahre? Das bedeutet: Leben!“9

Ginsburgs Freude lässt sich nur aus dem zeitlichen Kontext heraus erklären: Bei geschätzt 680.000 Todesurteilen, die zwischen 1936 und 1938 gefällt wurden,10 erscheinen zehn Jahre Gefängnis für ein nicht begangenes Verbrechen tatsächlich als mildes Urteil.

Jeschowschtschina

Neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei geraten auch andere Gesellschaftsgruppen ins Visier der sowjetischen Organe: Die Rote Armee wird ebenso „gesäubert“ wie die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten. Eine nochmalige Verschärfung der ohnehin angespannten Situation ergibt sich durch den von NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichneten und einen Tag später vom Politbüro bestätigten Befehl № 00447 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“.11 Damit kann praktisch jeder Sowjetbürger zum sogenannten „Volksfeind“ erklärt werden.

Für die einzelnen Republiken, Gebiete und Kreise der Sowjetunion legt der Befehl Kontingente fest – um den Plan zu erfüllen, kommt es massenhaft zu willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen.12 Dem Befehl № 00447 folgt eine Operation, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten in der Sowjetunion richtet: gegen Polen, Deutsche, Koreaner und andere.13 Organisiert und ausgeführt wird diese – wie die Repressionen zuvor und danach – durch den NKWD, gebilligt durch das Politbüro unter der Führung Stalins, der zahlreiche Listen mit Todesurteilen selbst unterzeichnet.14

Ein Ende der Massenrepressionen deutet sich ab dem Sommer 1938 an. Im November 1938 wird NKWD-Chef Jeschow durch Lawrenti Berija ersetzt.15 Der Sturz Jeschows bringt zwar ein Ende der Massenrepressionen, in einen Rechtsstaat verwandelt sich die Sowjetunion jedoch keineswegs. Bis zu Stalins Tod 1953, und in abgeschwächter Form auch darüber hinaus, werden Operationen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, vermeintliche „Volksfeinde“ und „anti-sowjetische Elemente“ organisiert und durchgeführt.

1937 in der Erinnerungskultur

Zur Rechenschaft gezogen wird dafür auch nach dem Ende der Sowjetunion niemand. Eine 2007 anlässlich des 70. Jahrestages des Großen Terrors veröffentlichte Meinungsumfrage besagt, dass eine Mehrheit der russischen Bevölkerung keinen Sinn in einer juristischen Verfolgung möglicher Organisatoren und Ausführenden der Repressionen sehe. Fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten sprach sich dafür aus, diese „in Ruhe zu lassen“, da die Repressionen bereits zu lange her seien. Lediglich 26 Prozent befürworteten ein juristisches Verfahren.16

 


Quelle: Lewada-Zentrum

Dass die Ergebnisse im Jahr 2017 anders ausfallen würden, kann bezweifelt werden. Auch Stalin selbst erfreut sich wieder hoher Beliebtheitswerte: 46 Prozent der vom Lewada-Zentrum im Januar 2017 befragten Russen gaben an, Stalin mit „Begeisterung“, „Verehrung“ oder „Sympathie“ zu begegnen, im März 2016 hatte dieser Wert bei 37 Prozent gelegen. Allerdings stieg auch die Zahl derjenigen an, die dem Diktator mit einem unguten Gefühl, „Angst“ oder „Hass“ begegneten: von 17 auf 21 Prozent.17

Jewgenija Ginsburgs Gefängnishaft wird 1939 in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt, die sie in unterschiedlichen Lagern des Gulags an der Kolyma verbringt. Erst 1953 darf sie nach Zentralrussland reisen, 1955 wird sie vollständig rehabilitiert. Sie wird weder ihren älteren Sohn, der 1944 bei der deutschen Belagerung Leningrads starb, noch ihren Mann, der kurz nach ihr verhaftet wurde, wiedersehen.


Zum Weiterlesen:
Memorial Krasnojarsk: „Der Große Terror“: 1937-1938: Kurz-Chronik
Schlögel, Karl (2008): Terror und Traum: Moskau 1937, München

1.Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens, Reinbek bei Hamburg, S. 42
2.Die Memoiren sind im italienischen Tamisdat erschienen. Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens (Teil 1), Reinbek bei Hamburg und Ginsburg, Jewgenia (1980): Gratwanderung (Teil 2), München/Zürich
3.Bonwetsch, Bernd (2014): Gulag: Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953: Einführung und Dokumente, in: Landau, Julia/Scherbakowa, Irina: Gulag Texte und Dokumente 1929–1956, S. 30–37, hier S. 36. Vor der Öffnung der sowjetischen Archive kursierten wesentlich höhere Zahlen.
4.Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 11
5.Conquest, Robert (1993): Der Große Terror: Sowjetunion 1934–1938, München. Der Begriff knüpft an den bereits zu Bürgerkriegszeiten gebrauchten Terminus des Roten Terrors an, der seinen Ursprung wiederum in der Französischen Revolution hat.
6.vgl. Baberowski,Jörg  (2012): Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München, S. 247
7.Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 27
8.Isolationshaft ist in diesem Fall nicht gleichzusetzen mit Einzelhaft. Die meiste Zeit ihrer zweijährigen Gefängnisstrafe verbrachte Ginsburg gemeinsam mit einer weiteren Gefangenen in einer Zelle, von den anderen Häftlingen waren sie weitgehend isoliert. Dennoch gelang es ihnen, etwa über Klopfzeichen, miteinander zu kommunizieren.
9.Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 156
10.vgl. Fußnote 5
11.Eine deutsche Übersetzung des Befehls № 00447 sowie eine umfangreiche Darstellung und Analyse der Operation findet sich in Binner, Rolf /Bonwetsch,Bernd /Junge, Marc (2009): Massenmord und Lagerhaft: Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin
12.vgl. und siehe dazu ausführlich ebd.
13.siehe dazu ausführlich Baberowski: Verbrannte Erde, S. 341–354, außerdem Martin,Terry (2000): Terror gegen Nationen in der Sowjetunion, in: Osteuropa: Unterdrückung, Gewalt und Terror im Sowjetsystem, Nr. 6 (2000), S. 606–616 sowie Polian,Pavel (2003): Soviet Repression of Foreigners: The Great Terror, the Gulag, Deportations, in: Dundovich, Elena/Gori, Francesca/Guerctti, Emanuela (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Mailand, S. 61–103
14.Stalins Verantwortung für die Massenrepressionen wird durch Studien belegt, die historisches Quellenmaterial auswerten. Besondere Beachtung hat die Monografie Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt von Jörg Baberowski gefunden, auf die bereits verwiesen wurde. Zur Kritik an Baberowski siehe die Ausgabe Im Profil: Stalin, der Stalinismus und die Gewalt der Zeitschrift Osteuropa (4/2012).
15.Jeschow wird im April 1939 verhaftet und im Februar 1940 erschossen.
16.levada.ru: Obščestvennoe Mnenie – 2007 – hier: S. 258
17.RBC: Ljubov rossijan k Stalinu dostigla istoričeskogo maksimuma za 16 let. Die in dem Artikel verwendeten Umfragedaten stammen vom Lewada-Zentrum.
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Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

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Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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