Im Februar 1956 verurteilte Nikita Chruschtschow in einer Geheimsitzung auf dem XX. Parteitag Stalins Herrschaft als eine Zeit des Massenterrors und der Geschichtsfälschung. Der damit eingeleitete Entstalinisierungsprozess wurde weltweit in der metaphorischen Umschreibung Tauwetter bekannt und führte zu radikalen Korrekturen im erstarrten Darstellungskanon. Das kollektive Schicksal, dem sich das Individuum fügte – ein wichtiges Merkmal des sowjetischen Films seit den 1920er Jahren – wurde durch Einzelschicksale verdrängt. Filmhelden bekamen zum ersten Mal das Recht auf eigene Erfahrungen, die sich mit der kollektiven nicht zwingend deckten. Ihre Intimisierung kam im Schwarzweiß eines dokumentarischen Realismus daher, der unmerklich das Objektive durch das Subjektive austauschte.
Initialisiert hat diesen Prozess der bekannteste Film des Tauwetters, Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen, 1957) von Michail Kalatosow, der 1958 in Cannes die Goldene Palme gewann – ein Jahr vor Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour, in dem es um eine ähnliche private Aneignung der großen Geschichte ging.1
Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln
Im Gegensatz zum Kanon der sowjetischen Kriegsfilme erscheint in Die Kraniche ziehen statt der gewohnten treuen Kriegsbraut eine untreue – ein keineswegs heroisches Mädchen. Die 18-jährige Veronika liebt den Ingenieur Boris, der sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger meldet. In einer Bombennacht gibt sie sich dessen Cousin, dem Pianisten Mark, hin und heiratet ihn, ohne zu wissen, dass Boris an der Front gefallen ist. Ihre Verzweiflung über diesen Entschluss, den sie als Verrat an ihrer Liebe, ja an sich selbst auffasst, treibt sie fast in den Selbstmord. Sie verlässt Mark, arbeitet in einem Lazarett und hofft, jeder Vernunft zum Trotz, dass Boris zurückkehrt. Als im Mai 1945 die ersten Züge mit Frontheimkehrern eintreffen, geht sie, weiß gekleidet wie eine Braut, zum Belarussischen Bahnhof, bleibt jedoch in der jubelnden Menge allein.
Die verunsicherten Kritiker
Kalatosow verfilmte ein Erfolgsstück von Viktor Rosow (Wetschno Shiwije, dt. Die ewig Lebenden), das während des Krieges geschrieben und 1956 am neuen Moskauer Theater Sowremennik (dt. Zeitgenosse) uraufgeführt wurde. Seine Sprengkraft allerdings zeigte das Sujet erst im Film.
Die Darstellung der jungen Tatjana Samoilowa und die starke visuelle Sprache des Films stoßen die hier erwartete Geschichte von Schuld und Reue um: Veronika lebt ihr Leben und nicht das der erwarteten Norm, sie trifft ihre eigene Wahl und wird von den Filmautoren dafür nicht verdammt, sondern poetisiert.
Die einheimische Kritik war zwar von dem Film begeistert, wusste jedoch lange Zeit nicht, wie sie die Heldin interpretieren sollte. Die Fachzeitschrift Iskusstwo kino empfahl den Film als Werk „über die Liebe zum Volk und die Treue zu ihm“ und hoffte, dass er den „Sinn für zivile Heldentaten eröffnen werde“.2 Dem Drehbuchautor Rosow wurden dramaturgische Fehler vorgeworfen, da die Verhaltensweise der Heldin der Logik widerspreche; der jungen Veronika wurde ein Weg „in das große Leben“ der Gemeinschaft gewünscht.3
Untreue Braut statt opferbereites Mädchen
Möglicherweise konnten die damaligen Kritiker und Zuschauer einen Bruch nicht verarbeiten: Die Ambivalenz, die von der Figur der Veronika ausging, wich ab von den angebotenen Typisierungen: untreue Braut, nicht opferbereites Mädchen. Die Rätselhaftigkeit ihrer Individualität stand in krassem Gegensatz zu klar konzipierten Menschen, die auf jede komplizierte Frage eine einfache Antwort wussten. Veronika dagegen blieb sich selbst ein Rätsel. Sie gibt im Film weder die untreue Braut noch die gefallene Frau, weder ein Opfer des Krieges noch eines der Umstände, sondern eine Liebende, deren Glaube an ihr Gefühl stärker ist als der an die Realität.
Das Geheimnisvolle ihrer Individualität wurde durch metaphysische Bande betont, die die Parallelmontage und die Dramaturgie zwischen den Liebenden etablierten: In dem Augenblick, da Veronika sich Mark hingibt, trifft eine zufällige Kugel Boris. In dem Moment, da Veronika sich unter den Zug werfen will, zwingt das Schicksal sie, ein Kind zu retten, das obendrein Boris heißt. Die Dramaturgie des metaphysischen Zufalls widersetzte sich den üblichen Motivierungen.4
Kalatosow baute auf bewusste Wiederholungen und Variationen der Schlüsselszenen, also auf poetische und nicht prosaische Verbindungen. Dreimal kommt die Szene auf der Treppe vor, auf der Veronika und Boris sich nicht voneinander lösen konnten. Später stürzt Veronika im zerbombten Haus dieselbe Treppe empor, um die Tür nicht in ihre Wohnung, sondern in den Abgrund aufzustoßen. In seinem Todestraum läuft Boris dieselbe Treppe hoch, um Veronika oben im Brautkleid zu treffen.
Zweimal begegnet Veronikas Blick dem Zug der Kraniche am Himmel. Ihr Blick von oben wiederholt sich in der Szene des Abschieds, der die Liebenden trennt, und am Ende, als die Menschenmasse die verlorene Veronika in sich aufnimmt.
Die Emanzipation der Gefühle, die Loslösung des Persönlichen vom Allgemeinen, spürten auch die deutschen Kritiker in Ost und West, die den Film zum „individuellsten“ aller Kriegsfilme erklärten.5
Das Individuelle und das Kollektive
Die Subjektivierung der Erfahrung wurde durch die Individualisierung der filmischen Perspektive unterstützt. Der Kameramann Sergej Urussewski setzte eine entfesselte Handkamera ein, die im ununterbrochenen „Mitlauf“ die Bewegung der Heldin suggerierte, er fand ausgefallene Blickwinkel, die Veronikas Perspektive vermitteln sollten. Dieses subjektivierte Bild wurde außerdem durch den Ton verstärkt, der sich aus der Überlagerung von Geräuschen, Dialogfetzen und Musik zusammensetzte.
So ließen ausdrucksstarke Einstellungskompositionen, die die Raumverhältnisse deformieren, sowie das expressionistische, kontrastreiche Licht- und Schattenspiel Veronikas psychische Schocks erahnen. Die bei der Bombardierung zerstörte Wohnung wurde durch die Zerstörung der Bildkomposition wiedergegeben, das schwindende Bewusstsein des sterbenden Boris' über von unten aufgenommene, sich im Kreis drehende, mehrfach belichtete Baumkronen.
Auch die Massenszenen bekommen dank der bevorzugten Weitwinkelobjektive mit ihren Tiefenschärfen eine neue Dimension: Der virtuos langanhaltende Einsatz der Handkamera ohne Schnitte verlagerte die Montage in die Einstellung und schuf den eigenartigen nervösen Rhythmus des Films.
Das Gesicht der Samoilowa zeichnet Urussewski wie eine Schwarzweißgrafik mit Licht (und Schatten) – jenseits kommerzieller Fotogenität und Erotik.
Der unvermittelte Wechsel von der subjektiven zur objektiven Perspektive, von Nahaufnahmen zu Totalen von ganz oben herab, ergänzt die verwirrte Sicht der Veronika um den totalen Blick auf ihre kleine Figur – mitten im Chaos schwerer Lastwagen oder in der Menge auf dem Bahnhof.
Diese raffinierten visuellen Verunsicherungen betonen die Verzweiflung der Heldin, wobei die aufgepeitschte Emotionalität des Films mitunter an Kitsch grenzte.
Das Weibliche und das Männliche
Die subjektive Sicht, das expressionistische Licht sowie der synkopische Schnittrhythmus waren Veronika gegeben und weiblich kodiert, Boris' Geschichte dagegen in das Schicksal der Gemeinschaft eingeschrieben und mit neutralen Totalen verknüpft. Wegen dieser Gemeinschaft war er bereit, sein Leben zu opfern. Doch im Augenblick seines Todes und ihres Selbstmordversuchs wird diese Teilung aufgehoben.
Den Film treibt ein starkes, nicht realisiertes Verlangen voran. Die Liebesszene zwischen Veronika und Mark in einer Bombennacht wurde gewöhnlich als Vergewaltigung oder Sündenfall interpretiert. Doch Kalatosow hatte hier nichts anderes als das klassische Motiv der Verbindung von Eros und Tanatos, Liebe und Tod benutzt. Die Szene variierte das Thema der leidenschaftlichen unerfüllten Liebe, das die Beziehung von Boris und Veronika bestimmte, der Braut des Toten, die einmal der Hypnose eines Lebenden erliegt.
Expressionismus und Neorealismus
Die Kraniche ziehen wurde innerhalb von nur sechs Monaten abgedreht, ein Rekord für die damalige Zeit. Im Film alternierten betont expressive und ruhige neorealistische Szenen. Auf die Alltagsszene im Lazarett folgte der Selbstmordversuch, gedreht und geschnitten wie im Stummfilm. Der auseinandergebrochene Raum mit der umgestürzten Horizontlinie wurde aus extrem kurzen, losen Fragmenten zusammengesetzt. Die Reißschwenks lösten die Formen auf. Kalatosow verband diese verschiedenen Stile frei miteinander, und obwohl die neorealistischen Szenen – der Dialoge wegen – längere Einstellungen erforderten, war die Gesamtlänge der expressiven und naturalistischen Episoden im Film ausgeglichen.
Dieser Film wurde über Nacht zu einem Ereignis, das sich durch nichts angekündigt hatte.6 Auch keiner der späteren Filme von Regisseur Kalatosow oder Kameramann Urussewski erreichte jemals wieder die Kraft der Kraniche, Tatjana Samoilowa spielte nie wieder eine Rolle so suggestiv wie die der Veronika, obwohl sie mehrere internationale Angebote bekam,7 in denen sie ihre Unwiederholbarkeit reproduzieren sollte.
Text: Oksana Bulgakowa
Veröffentlicht am 09.06.2017