Ein Menschenauflauf vor dem Moskauer Basmanny-Gericht am Mittwoch, den 23. August, etwa 300 Leute haben sich hier versammelt, viele Prominente sind darunter. Drinnen sitzt der bekannte Regisseur Kirill Serebrennikow. Die prominente Unterstützung hilft ihm nicht: Serebrennikow steht bis 19. Oktober unter Hausarrest.
Betrug in Millionenhöhe lautet der Vorwurf gegen den berühmten und umstrittenen Theatermann. Die ehemalige Chefbuchhalterin belastet ihn.
Serebrennikow leitet das Moskauer Theater Gogol Center, eine Art Experimentierbühne, staatlich gefördert. Er ist international bekannt für seine innovativen Regiearbeiten, im Oktober soll seine Inszenierung der Oper Hänsel und Gretel in Stuttgart Premiere feiern, sein aktueller Film Der die Zeichen liest ist in Cannes ausgezeichnet worden.
Schon im Mai hatten maskierte und bewaffnete Männer das Gogol Center durchsucht, die Polizei inspizierte auch die Wohnung Serebrennikows. Putin soll laut Medienberichten die Beamten als Duraki (dt. Dummköpfe) bezeichnet haben.
Im Juli erregte der Regisseur erneut Aufsehen, als sein Ballett Nurejew am Moskauer Bolschoi Theater kurz vor der Premiere verschoben wurde. Anfang der Woche wurde Serebrennikow schließlich in der Nacht festgenommen, während er in St. Petersburg an seinem neuem Film Leto (dt. Sommer) arbeitete.
Seine Festnahme und der Hausarrest lösen heftige Debatten aus, nur wenige glauben an die Vorwürfe. Viele Prominente, etwa die Schriftsteller Boris Akunin und Ljudmila Ulitzkaja, ergriffen Partei für ihn, waren teilweise im Gericht anwesend. Die berühmte Publizistin Irina Prochorowa hatte sogar erklärt, eine Kaution in beliebiger Höhe für Serebrennikow zu zahlen.
Warum ausgerechnet Serebrennikow? Soll hier ein Exempel statuiert werden? Ein missliebiger, international renommierter Kreativer mundtot gemacht werden? Und wer steckt dahinter? dekoder bringt Stimmen aus russischen Medien.
Facebook/Andrej Loschak: Ins Gesicht gerotzt
Für Andrej Loschak, Gründer und ehemaliger Chefredakteur von Takie Dela, ist klar, weshalb die Behörden gegen Serebrennikow vorgehen, wie er auf Facebook schreibt:
Die erste Aule – die Bolotnaja-Prozesse – haben wir geschluckt. Zu ihnen erschienen im besten Fall ein paar Dutzend Menschen. [...] Die Verhaftung von Kirill werden wir auch schlucken. Nach einigen Achs und Ohs werden wir in unseren privaten Alltag zurückkehren, wie es auch 2012 der Fall war.
Первый харчок - процессы над "болотниками" - мы проглотили. На них приходило в лучшем случае несколько десятков человек. [...] Арест Кирилла тоже проглотим. Поохаем тут и вернемся в частную жизнь, как это случилось в 2012-м.
erschienen am 22.08.2017
Colta: Verrat am Kollegen
Auch der international berühmte Geiger Gidon Kremer hat sich nun zu dem Fall geäußert, Colta druckt seine Stellungnahme ab:
Allein der Rang des Künstlers impliziert eine bestimmte Moral, und ich bin überzeugt, dass Kirill Serebrennikow diese auch verkörpert.
erschienen am 24.08.2017
Facebook/Boris Akunin: Nicht ohne Putins Segen
Ein weiterer von vielen Prominenten, die den Fall kommentierten, ist Star-Autor Boris Akunin. Kurz nach der Festnahme Serebrennikows in St. Petersburg, aber noch vor dem Hausarrest, zieht er auf Facebook historische Parallelen:
Darum lasst uns die Dinge beim Namen nennen. Den Regisseur Meyerhold hat nicht der NKWD festgenommen, sondern Stalin. Den Regisseur Serebrennikow hat nicht das Ermittlungskomitee festgenommen, sondern Putin. Gut wäre, es würden nur PR-Ziele verfolgt, um anschließend größtmögliche Gnade zu zeigen und den weltbekannten Regisseur unter Hausarrest zu stellen oder mit Meldeverpflichtung zu entlassen. Denn wenn nicht, so hieße das, dass Russland in ein neues Stadium übergegangen ist, in dem neue Regeln gelten.
Поэтому давайте называть вещи своими именами. Режиссера Мейерхольда арестовало не НКВД, а Сталин. Режиссера Серебренникова арестовал не Следственный комитет, его арестовал Путин. И хорошо еще, если с PR-целью затем явить высочайшую милость и выпустить всемирно известного режиссера под домашний арест или подписку. Потому что если нет — значит, Россия перешла на новую стадию существования, где будут действовать новые правила.
erschienen am 22.08.2017
RIA Nowosti: Weshalb automatisch Opfer?
Weshalb sollte ein Künstler immer gleich Opfer sein, fragt Viktor Marachowski in seiner Analyse für die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti:
erschienen am 23.08.2017
Echo Moskwy: Konflikt innerhalb der Gesellschaft
Alexander Baunow, Chefredakteur bei Carnegie.ru, schreibt im Blog auf Echo Moskwy von einem innergesellschaftlichen Konflikt:
[...] in den Augen eines Teils der Gesellschaft und, sagen wir mal, der patriotisch eingestellten politischen Elite [...], ist Vielfalt nicht vorgesehen. Ein solches Theater wie das Gogol Center, solche Stücke, wie sie Serebrennikow inszeniert, ein solches Ballett wie Nurejew im Bolschoi-Theater – all das hat es nicht zu geben.
[...] в глазах части общества и, соответственно, политической верхушки, ну, скажем так патриотически настроенной, [...] разнообразия быть не должно. Такого театра как Гоголь-Центр, таких спектаклей, которые ставит Серебренников, такого балета как «Нуриев» в Большом театре быть не должно.
erschienen am 23.08.2017
Facebook/Dimitri Bykow: Wichtiges Signal
Dimitri Bykow dagegen ist sicher, dass Putin zumindest unterrichtet ist – und mit dem Fall eine eindeutige Message gesendet werden soll, wie er in einem Interview sagte und auf Facebook schreibt:
Hier wird aus meiner Sicht ein doppeltes Signal gesendet: Erstens glaube ich, dass hiermit dem Westen noch einmal gezeigt wird, dass hier niemand auf seine Meinung angewiesen ist. Der Westen verleiht Serebrennikow demonstrativ Theaterpreise, Russland erniedrigt ihn demonstrativ und öffentlich.
Dabei ist seine Schuld nicht bewiesen. Er läuft nicht vor der Untersuchung weg, sein Pass wurde ihm weggenommen, und dennoch setzen sie ihn fest. Das ist eine dreiste öffentliche Demonstration dafür, dass sie auf das Recht pfeifen, auf den Künstler und auf das ganze Land – wir tun das, was wir wollen.
Das Zweite ist sogar noch bedauerlicher, das Signal an die kreative Intelligenzija: Sie muss darüber nachdenken, was ihre Meinungen denn eigentlich wert sind.
Тут, на мой взгляд, сигнал идет двоякий. Во-первых, я думаю, что это лишний раз показывает Западу, что от его мнения здесь никто не зависит. Запад демонстративно присуждает Серебренникову театральные премии, Россия демонстративно и публично унижает его. Причем вина его не доказана, и от следствия он не бегает, и загранпаспорт у него был отобран, а его, тем не менее, сажают. Это наглая публичная демонстрация абсолютно наплевательского отношения и к праву, и к художнику, и ко всей стране — что хотим, то и воротим.
Ну, а второе, что еще более печально — это сигнал творческой интеллигенции призадуматься о том, чего стоят все еe мнения.
erschienen am 23.08.2017
Kommersant FM: Talent tut nichts zur Sache
Der berühmte Regisseur Andrej Kontschalowski verteidigt auf Kommersant FM das Vorgehen gegen Serebrennikow:
Hier haben die Ermittler und Staatsorgane offensichtlich etwas gefunden. Und was, wenn sie nun mal etwas gefunden haben? Ich kann außer Mitgefühl und Bedauern für die Menschen, die da Fehler gemacht haben, nichts empfinden. Zu sagen, was für ein talentierter Regisseur oder Künstler Serebrennikow ist, tut hier nichts zur Sache.
erschienen am 22.08.2017
Facebook/Sergej Medwedew: Völlig kafkaesk
Dem kremlkritischen Politologen und Historiker Sergej Medwedew scheint es auf Facebook so, als fände sich Kirill Serebrennikow plötzlich in einem Kafka-Stück wieder:
Weiter gefasst, greift hier eher die Metapher der Verwandlung. Eines nicht so wunderschönen Tages, entdecken wir, dass sich in unserer Wohnung ein riesiges, grimmiges Insekt eingenistet hat, eine zehn Meter lange Raupe mit zig Ringen, liegt in Wohnzimmer, Flur und Küche und mampft unaufhörlich etwas. Wir haben uns schon an sie gewöhnt, quetschen uns an ihr vorbei in eine Küchenecke.
Zuweilen schnappt sich die Raupe einen der Bewohner, alle regen sich ein Weilchen auf, schlagen Krach, doch dann verstummen sie und quetschen sich weiter vorbei, denn so läuft es bei uns nun mal. Diese Raupe kann einen Magnitski umbringen, einen Senzow und Koltschenko anknabbern, sich einen Uljukajew packen, und nun siehe da, einen Serebrennikow, ja im Prinzip jeden – aber wir haben uns schon daran gewöhnt und begreifen sie als wohnungseigenes Spezifikum.
Но если шире, то тут скорее метафора "Превращения". В один не очень прекрасный день мы обнаруживаем, что с нами в одной квартире поселилось огромное мерзкое насекомое, десятиметровая гусеница из множества колец, лежащая в гостиной, коридоре и кухне, и постоянно что-то жующая. Мы уже привыкли к ней, ходим бочком, на кухне сидим в тесноте. Иногда гусеница схватывает кого-то из жильцов квартиры, все недолго возмущаются, шумят, но потом стихают и продолжают ходить бочком, потому что так у нас заведено. Эта гусеница может убить Магнитского, зажевать Сенцова и Кольченко, схватить Улюкаева, теперь вот Серебренникова, да собственно любого, но мы уже привыкли и воспринимаем ее как особенность планировки.
erschienen am 23.08.2017
dekoder-Redaktion