Andrej Chadanowitsch, 1973 geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter zeitgenössischer belarussischer Lyrik. Seine Dichtkunst zeichnet sich durch Wortspiele, Humor, ihre stilistische Experimentierfreude und sensorische Tiefenschärfe aus. Auch hat er Gedichte und Werke von englischen, französischen oder polnischen sowie ukrainischen Lyrikern wie Serhij Zhadan oder Juri Andruchowytsch ins Belarussische übersetzt. Er betreibt zudem einen populären YouTube-Kanal, in dem er Klassiker der belarussischen Literatur und Kultur vorstellt, aber auch gesellschaftspolitische Themen diskutiert. Dieser Kanal wurde von den Machthabern in Belarus im Oktober 2023 als „extremistisch“ klassifiziert, also quasi verboten.
Chadanowitsch hat wie viele belarussische Kulturschaffende seine Heimat infolge der Repressionen verlassen müssen und lebt nun im Ausland. In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft beschäftigt er sich mit Literatur und Schriftstellern, die in Belarus verboten wurden. Dabei stößt er auf geradezu unheimliche Hinweise darauf, wie nahe sich Literatur und Realität kommen können.
беларуская версія
Warum werden heutzutage in Belarus Bücher und Autorenlesungen, Kunstausstellungen und Musikkonzerte verboten? Warum landen Dichter und Denker wieder und wieder hinter Gittern? Warum besteht ein Großteil unseres heutigen Schrifttums – genau wie der der hundertjährigen Klassiker – aus Gefängnisliteratur? Warum wird die belarussische Sprache diskriminiert, marginalisiert und letztlich noch konsequenter vernichtet, als zu Sowjetzeiten – und das in einem Land, das immerhin Belarus heißt?
Manche sagen: Weil bei uns ein ewiger und gnadenloser Kulturkampf herrscht, in dem sich eine der beiden Kulturen für überlegen hält und die andere zu unterwerfen und zu zerstören versucht. Andere sagen, man müsse eher von einem Krieg sprechen, den etwas gegen unsere Kultur führt, das der Kultur völlig entledigt ist. Ich möchte hier keine endgültigen Schlüsse ziehen, sondern beschränke mich darauf, zwei Leitgedanken zu entfalten. Zum einen, wohin die Angst vor Kultur und der Hass auf Bücher führen können. Zum anderen, wozu diese Kultur und diese Bücher manchmal fähig sind.
1) Calibanismus
Nein, diese Zwischenüberschrift ist kein Tippfehler.
Oscar Wildes Aphorismus, die Kunst würde nicht das Leben, sondern den Betrachter spiegeln, fand ich immer hübsch, aber auf paradoxe Weise überspitzt. So spricht der Schriftsteller in diesem Zusammenhang von der Wut des shakespeare’schen Caliban, der im Spiegel sein Abbild erkennt (oder eben nicht).
Heute weiß ich, dass der Meister des Paradoxen keineswegs übertrieben hat. Denn jetzt haben die Belarussen diesen Caliban mit eigenen Augen gesehen, mehr noch – wir haben es mit dem Phänomen eines Staats-Calibanismus zu tun: Eine aus lauter Calibans bestehende Minsker Staatsanwaltschaft hat im August eine Reihe von literarischen Werken als „extremistisch“ verurteilt.
Auf der Liste landeten sowohl zeitgenössische Werke als auch Klassiker des 20. und sogar des 19. Jahrhunderts. Es kommt selten vor, dass längst verstorbene Autoren verurteilt werden; darunter beispielsweise der bekannte Dramaturg Winzent Dunin-Marzinkewitsch (1808-1884), nach dem zahlreiche Straßen in Belarus benannt sind und dessen Denkmäler die Stadtzentren zieren. Bislang musste das nicht einmal geändert werden – man fand eine elegantere Lösung für das Problem: Nicht das ganze Buch wurde als verbrecherisch eingestuft, sondern nur ein Fragment daraus, nämlich zwei Gedichte und das Vorwort zum Buch, das von einem zeitgenössischen Literaturwissenschaftler verfasst wurde. Fast wie im Club der toten Dichter: Und jetzt, liebe Studenten, reißen Sie alle zusammen die Seiten dieses Vorwortes aus Ihren Büchern, los, nicht so schüchtern, und vergessen Sie auch diese zwei Gedichte nicht, schön sauber entfernen!
Manchmal ist das Motiv, nämlich der Hass des Regimes auf den Autor, offensichtlich. Wie bei unserem Zeitgenossen Uladsimir Njakljajeu, der nicht nur als Dichter bekannt ist, sondern auch als politische Person, die 2010 für das Präsidentenamt kandidierte. Just am Wahltag wurde er von vermummten Geheimdienstmitarbeitern überfallen und musste in der Notaufnahme versorgt werden, von wo er dann entführt wurde; seine Angehörigen wussten tagelang nicht, ob er am Leben war. Njakljajeu saß derweil im Gefängnis des KGB; nach 40 Tagen Haft stand er noch mehrere Monate unter Hausarrest. Obwohl der Dichter an der Wahlkampagne 2020 nicht direkt beteiligt war, wurde er mehrfach zu Verhören abgeholt und faktisch aus dem Land getrieben. Jetzt lebt er bereits seit zwei Jahren in der Emigration (und das nicht zum ersten Mal in seiner Biografie). Ganz klar, ein Extremist!
Ebenfalls für „extremistisch“ erklärt wurde ein Buch von Laryssa Henijusch, einer Schriftstellerin und Emigrantin, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam aus der Tschechoslowakei in die UdSSR zurückgeholt und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, von denen sie achteinhalb tatsächlich verbüßte. Doch sie ließ sich nicht brechen, schrieb Gedichte zur Unterstützung anderer Häftlinge, die diese als „Glukose“ bezeichneten, so sehr halfen sie. Nach ihrer Freilassung weigerte sie sich, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen und verbrachte ihr gesamtes Leben unter geheimdienstlicher Aufsicht. Bis heute wurde sie nicht rehabilitiert, das Urteil wurde lediglich auf die Haftstrafe reduziert, die sie tatsächlich abgesessen hat. Kein Zweifel, eine Extremistin!
Oder das Buch der Exil-Poetin Natallja Arsennewa, deren patriotisches Gedichtgebet Mahutny Bosha (dt. O mächtiger Gott) zur inoffiziellen Hymne mehrerer Generationen der belarussischen Opposition wurde, seinen größten Ruhm aber während der belarussischen Straßenmärsche 2020 erlangte. Es war dieses Gedicht, das bei Protestauftritten von maskierten Musikern und Sängern an belebten Plätzen vorgetragen wurde, dem Vorläufer des berühmten Wolny chor (dt. „Freier Chor“). Selbstverständlich muss die Autorin dieses durch und durch extremistischen Werks auch selbst eine Extremistin sein!
Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020
Als man mit denen fertig war, begann der interessanteste Teil: Der Staatsanwalts-Caliban trat selbst vor den Spiegel. Denn an fünfter Stelle in der Liste der extremistischen Literatur erscheint eine Sammlung von Werken der, so möchte man meinen, für das Regime absolut harmlosen Schriftstellerin Lidsija Arabei. Als ich das las, fiel ich fast vom Stuhl, denn ich war seinerzeit mit ihren Kinderbüchern aufgewachsen und konnte darin beim besten Willen nichts Anstößiges erkennen. Ein paar Tage später fiel mir das „verurteilte“ Buch in die Hände, ich blätterte es aufmerksam durch – und wäre wieder fast vom Stuhl gekippt, denn ich entdeckte eine Erzählung namens Der weiße Spitz.
Hier sei mir ein kleiner Exkurs in die Hundewissenschaft erlaubt. Es ist nämlich so, dass das drittbeliebteste Motiv für Witze und Memes in Belarus ein weißer Spitz ist, gleich nach dem illegitimen Präsidenten und seinem unehelichen Sohn. Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020 als Haustier und – wie es schien – einziger treuer Freund Lukaschenkas. Wenige Monate vor der jüngsten Wahlfälschung und dem Ausbruch der Proteste und Repressionen und auf dem Höhepunkt der Pandemie.
Der Diktator, der als einer von wenigen Politikern weltweit offen die Existenz des Coronavirus leugnete, pflanzte im April 2020 vor laufenden Fernsehkameras friedlich Kiefernbäumchen und hielt dabei ein Körbchen mit einem kleinen weißen Hund. Sofort fanden sich Verschwörungstheoretiker, die behaupteten, diese beiden – Hündchen und Diktator – wollten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vom Problem der Epidemie ablenken.
In einem anderen Fernsehbeitrag hackte Lukaschenka Holz, und neben ihm lief wieder fröhlich bellend der weiße Spitz herum. Später saß er (der Spitz, nicht Lukaschenka) herrschaftlich auf dem Tisch und naschte von Tellerchen, während sein Freund ausländischen Journalisten ein Interview gab. Am Dreikönigstag bot der Politiker dem Hündchen gar an, gemeinsam mit ihm vom geweihten Wasser zu trinken. Doch der weiße Spitz lehnte zu seinem großen Bedauern ab. Kurzum, Belarus hatte nun neben „Koljas Papa“ und „Kolja“ selbst einen dritten gehypten Medienstar.
Und hier kommt Lidsija Arabeis Erzählung ins Spiel. Stellen wir uns einmal die Reaktion der Calibans aus der Staatsanwaltschaft vor, als sie im Inhaltsverzeichnis des Buches diesen furchtbaren Titel entdecken. Sie schlagen den Band an der entsprechenden Seite auf und überzeugen sich davon, dass es keine Halluzination war, sondern der Text tatsächlich mit den Worten „Der weiße Spitz“ beginnt und zudem noch viel schrecklicher endet, nämlich mit den Worten: „Verrecken soll er“. Dass dieser Fluch nicht dem Spitz und auch nicht seinem Herrchen gilt, interessiert da niemanden mehr …
Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten!
Der Text stammt von 1975 und versetzt uns nach Minsk im Winter 1943, unter Nazibesatzung und Hungersnot, wo der Schwarzmarkt die einzige Überlebenschance ist. Eine Frau bringt eine große Kasserolle mit heißen, dampfenden Kartoffelpuffern ... Das belarussische Zensorenherz beginnt freudig zu schlagen, beruhigt sich fast, doch dann taucht leider der vermaledeite weiße Spitz auf, und dann heißt es auch noch, er habe sein Herrchen verloren.
Wie kann das sein – das Herrchen verlieren? Das hieße ja, auch sie, die Staatsbeamten, die als Einzige das Unerlaubte suchen und ihn beschützen können, blieben ohne Arbeitgeber? Was sollten sie dann tun? Ihre Empathie mit dem Protagonisten der Erzählung wächst ins Unermessliche, doch was geschieht dann mit dem Spitz? Ich zitiere besser die „Extremistin“ Lidsija Arabei:
„Da wandte sich der Hund der Frau zu, der Herrscherin über die Kartoffelpuffer, und als würde er sich an etwas erinnern, stellte er sich auf die Hinterpfoten und machte Männchen.
Er tat es lange und ausdauernd, gleichsam stolz, es so lange in einer so unbequemen Haltung auszuhalten. Seine Augen blickten unterwürfig und ehrlich, voller Freude und Hoffnung ...
Seine Pfoten hingen schlaff herunter und zitterten, genau wie seine rosige Zunge; aus dem Maul tropfte Speichel, der Hund hielt sich tapfer, sein ganzer Anblick sagte: Schaut her, wie ich mich anstrenge, wie ich es euch recht machen will, habe ich dafür etwa keine Belohnung verdient?
‚Verschwinde!‘, rief die Frau schließlich und drohte mit der Gabel.“
Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten! Aber dann lesen die Staatsbeamten das Finale: Das Hündchen kennt offenbar ein Gefühl, das stärker ist als Hunger. Als plötzlich ein Besatzer vorbeiläuft, beginnt das Hündchen ihn aus voller Kehle anzukläffen. Schließlich bekommt der Soldat in der Feindesuniform Angst und zieht von dannen. Das gefällt den Belarussen auf dem Markt so sehr, dass das Hündchen eine unerwartete (und doch so lang ersehnte!) Belohnung erhält:
„Das Hündchen stand noch lange da und kläffte ihm nach, bellte mit all seinem Hundezorn, bis zur Heiserkeit, bis zur Verzweiflung. Als es sich ein wenig beruhigt hatte, hörte es hinter sich eine unbekannte Stimme:
‚Hier hast du, Hündchen ...‘
Da landete neben ihm im Schnee ein Stückchen warmer, duftender Puffer.
Und die Stimme fügte hinzu:
‚Was für ein kluges Hündchen! Verrecken sollst du ...‘“
Die echten Kenner von Lidsija Arabeis Werk mögen vielleicht eine andere Erklärung für ihren „Extremismus“ vorschlagen. Sie mögen darauf hinweisen, dass es im Buch Erzählungen über die Epoche des Stalinismus und die Repressionen gibt, über die Verurteilungen der „Volksfeinde“ und die Trennung von Familien, als Kindern entweder befohlen wurde, sich von den „Verbrechereltern“ loszusagen oder sie neue Namen und Familiengeschichten bekamen, damit die Eltern sie nach ihrer Rehabilitierung nicht wiederfinden konnten. Es gibt die Erzählung Der kalte Mai, in dem die Arbeit der Geheimdienste beschrieben wird, die die Menschen zwingen, ihre eigenen Verwandten auszuspionieren und sie zu verraten. Ich stimme ihnen zu und ergänze, dass sich die heutigen Diener des diktatorischen Regimes als Nachfolger und Stammhalter der stalinschen Henker verstehen, weshalb Repressionen wieder zum Tabuthema geworden sind.
Und doch stelle ich mir lieber vor, wie unsere Calibans gerade an der Erzählung vom weißen Spitz hängenbleiben, an dem Gedanken, dass jedes Herrchen unausweichlich stirbt und seine Diener dann brotlos zurückbleiben, dass ihr Männchenmachen mit dem Ausruf „Verschwinde!“ enden kann. Und dass es schon lange an der Zeit ist zu entscheiden, ob man weiter Männchen machen soll oder doch den Besatzer anbellen. Vermutlich kam ihnen genau bei diesem Gedanken der Zorn auf die Autorin. Und er wird sie nie mehr verlassen.
2) Briefe der Hoffnung
Die Werke des großen belarussischen Schriftstellers Uladsimir Karatkewitsch (1930-1984) brennen noch nicht auf dem Scheiterhaufen, werden noch nicht in Speziallager der Bibliotheken verbannt und sind auch noch nicht als „extremistisch“ eingestuft. Doch sein wichtigster Roman, Kalassy pad sjarpom twaim (dt. Die Ähren unter deiner Sichel) verschwand dieses Jahr plötzlich vom Schullehrplan. Vielleicht, weil sich die belarussischen Staatscalibans in seinem Spiegel zweifelsfrei erkannten und die Gefahr sahen. Denn das Werk ist der geistigen und intellektuellen Abhärtung der belarussischen Elite gewidmet, jener jungen Generation, die am antirussischen Aufstand von 1863 beteiligt war. Ein Aufstand, der von den imperialen Truppen brutal niedergeschlagen und dessen Anführer – darunter auch Kastus Kalinouski, den der Schriftsteller in seinem Roman auftreten lässt – vernichtet wurden. Vielleicht hat Karatkewitsch keinen dritten Band verfasst, um den Mord an seinen geliebten Helden nicht beschreiben zu müssen.
Der Roman erlangte Kultstatus, genau wie die anderen Werke des Schriftstellers – zu Sowjetzeiten standen die Menschen in langen Schlangen nach jedem neuen Werk Karatkewitschs an. (Er selbst sagte einmal: „Man muss so schreiben, dass die Leute deine Bücher aus den Bibliotheken klauen. Das habe ich geschafft.“) Die Leserinnen und Leser, besonders Jugendliche, waren so stark beeindruckt, dass sie sich für die belarussische Geschichte und Kultur zu interessieren begannen und oft – auch wenn sie in russischsprachigen Familien aufwuchsen – ins Belarussische wechselten.
Im Jahr 2020, im Vorfeld der Wahlfälschungen, Massenproteste und brutalen Repressionen, zitierten die belarussischen Internetnutzer besonders gerne eine Stelle aus dem Roman, in der die reaktionäre Epoche des russischen Imperiums in der Mitte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen charakterisiert wird:
„Es war eine furchtbare und schwere Zeit. Das ganze unermessliche Imperium erstarrte und verknöcherte unter dem schrecklichen politischen Frost, der es schon im sechsundzwanzigsten Jahr fest im Griff hatte. Jedem, der versuchte, aus voller Brust zu atmen, fror die Lunge ein. [...] Glücklich war niemand. Alles wurde dem Abgott der Staatsmacht geopfert.“
Der Schlüsselbegriff hier ist „im sechsundzwanzigsten Jahr“, denn genau so lange herrschte zu diesem Zeitpunkt der illegitime Präsident über Belarus. Nach der erneuten Wahlfälschung und der Niederschlagung des Aufstands 2020 durch das Regime nahmen die Repressionen in ungesehenem Ausmaß zu, die letzten Reste der Rechtsstaatlichkeit hörten auf zu funktionieren, und die Präsenz des russischen Imperiums in Belarus wurde immer offensichtlicher.
Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden.
Der Beginn von Putins Krieg in der Ukraine zeigte, dass es kein politisch unabhängiges Belarus mehr gab, und die Diktatorenmarionette, fast gänzlich dem russischen Aggressor unterstehend, nur noch eine einzige Freiheit besaß: das eigene Volk uneingeschränkt zu terrorisieren. Tausende politische Gefangene, von denen einige unter ungeklärten Umständen in Haft starben; Hunderttausende Belarussen, die ihr Land verlassen mussten, während der Rest zu innerer Emigration verdammt wurde. Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden. Und immer öfter ist zu hören, in Belarus herrsche „die wilde Jagd“.
Dieses Bild führt uns wieder zu Karatkewisch und seinem historischen Thriller König Stachs wilde Jagd (Dsikaje palawannje Karalja Stacha). Warum sich Literatur und Realität immer wieder so nah kommen, könnte man ewig diskutieren. Liegt es an der Hellsichtigkeit des Schriftstellers oder seiner Fähigkeit, universell zu formulieren und dadurch nie an Dringlichkeit zu verlieren? Oder an der Geschichte selbst, die sich im Kreis dreht und keinen Ausweg aus dem ewigen Albtraum bietet? So oder so, jeder Belarusse, der bei klarem Verstand ist, spürt, dass Karatkewitschs Geschichte wieder aktuell geworden ist. Der koloniale Druck; der Verfall der „Elite“, die das eigene Volk unterjocht und dabei einem fremden Herren dient; die Mechanismen der Angst, die lähmt und unfrei macht; aber auch die kulturelle Rolle der Intellektuellen, die uns die von den Aggressoren und Besatzern schon fast ausgelöschte Erinnerung zurückgeben. Die Macht der Machtlosen, der gewaltfreie Widerstand, der eines Tages vielleicht nicht mehr genügen und keinen anderen Ausweg zulassen wird, als Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Die „sanfte Macht“ von Liebe und Freundschaft, die im tiefsten Dunkel vor dem Wahnsinn bewahren. Die Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller, die unter demselben Feind leiden. In Karatkewitschs Geschichte geht es, genau wie heute, um die Belarussen und die Ukrainer.
Als junger Mann kam Karatkewitsch aus Belarus an die Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität, wo er sich unter dem Einfluss befreundeter Kyjiwer Intellektueller, die sich für die ukrainische Kultur begeisterten, für die belarussische Kultur zu interessieren begann. In dieser Zeit reifte sein Roman heran, durch den sich das Motiv der belarussisch-ukrainischen Einheit zieht, und dessen Schlüsselfigur, der junge Intellektuelle Andrej Swezilowitsch, ein ehemaliger Student der Kyjiwer Universität, autobiografische Züge trägt. Hier ein Dialog zwischen Swezilowitsch und dem Protagonisten des Romans, Andrej Belarezki:
„Weswegen hat man Sie exmatrikuliert, Pan Swezilowitsch?“
„[...] Es begann damit, dass wir beschlossen, das Andenken Schewtschenkos zu ehren. Wir Studenten waren, wie bekannt, unter den ersten. Man drohte uns, dass die Polizei in die Universität einziehen würde.“ Ihm stieg die Röte ins Gesicht. „Wir meuterten. Ich rief, wenn sie das in unseren heiligen Mauern wagen, würden wir diese Schande mit Blut abwaschen, und die erste Kugel werde dem gelten, der den Befehl dazu erteilte. Dann strömten wir aus dem Gebäude, es gab einen Aufruhr, ich wurde festgenommen. Als die Polizei nach meiner Nationalität fragte, antwortete ich: ‚Schreib auf: Ukrainer‘.“
„Sehr gut gesagt.“
„Ich weiß, das war sehr unvorsichtig gegenüber denjenigen, die sich zum Kampf erhoben hatten.“
„Nein, das ist auch gut für sie. Eine solche Antwort ist ein Dutzend Kugeln wert. Und es bedeutet, dass wir alle einen gemeinsamen Feind haben.“ 1
In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung?
Die jungen Belarussinnen und Belarussen, die 2006, inspiriert vom ukrainischen Maidan, ihre Zelte auf dem Minsker Oktoberplatz aufstellten und ihn in Kalinouski-Platz umbenannten, hatten zweifellos Karatkewitsch gelesen. Und auch jene haben ihn gelesen, die heute für die Ukraine im Kalinouski-Regiment kämpfen.
Als man in der Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges nachvollziehbarerweise begann, Straßen umzubenennen, startete Wjatscheslaw Lewyzki, ein ukrainischer Lyriker, Übersetzer und Karatkewitsch-Experte, eine Initiative, mit der er schließlich erreichte, dass die Dobroljubow-Straße in Kyjiw in Karatkewitsch-Straße umbenannt wurde.
„Ich hoffe“, so schrieb der Dichter, „dass dieses Toponym wenigstens etwas dazu beiträgt, die Missverständnisse zwischen Ukrainern und Belarussen, die sich den Diktaturen in ihrem Land widersetzen, zu nivellieren. Ich möchte, dass diese Umbenennung ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Kalinouski-Korps und dessen Mut ist, gegenüber den belarussischen Partisanen und allen freiheitlich denkenden Belarussen, die die Möglichkeit finden, den Ukrainern zu helfen.“
In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung? Dafür gibt es jetzt gleich zwei Opern auf der Grundlage von Karatkewitschs Erzählung König Stachs wilde Jagd. Die erste stammt aus der Feder des Komponisten Uladsimir Soltan und feierte bereits 1989 im Minsker Opernhaus Premiere. 2021 kehrte sie nach einer Pause auf die Bühne zurück, erweitert um Archivmaterial des Komponisten, mit neuem Bühnenbild und Spezialeffekten im klassischen Horror-Stil. Den wichtigsten Gruseleffekt trug allerdings das Leben selbst bei, als die Operninszenierung von der calibanistischen Zensur getroffen wurde.
Aus dem Libretto verschwand ein zentraler Satz, der Ruf, mit dem die Reiter der wilden Jagd die Palastherrin erschrecken: „Raman im zwanzigsten Glied, komm heraus!“ Vielleicht, weil am 11. November 2020, auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, „Unbekannte“ Raman Bandarenka getötet hatten, der in den Innenhof seines Hauses gekommen war, nachdem er im Telegram-Chat geschrieben hatte: „Ich gehe raus!“ Seine maskierten Mörder erinnerten auffällig an die Antihelden aus Karatkewitschs Buch.
Die zweite Version der Oper entstand 2023, und ich hatte das Glück, an der Entstehung des Libretto mitzuwirken. Die Musik komponierte Volha Padhajskaja, Regie führten Mikalaj Chalesin und Natallja Kaljada, es dirigierte Wital Aleksjajonak. Die Uraufführung fand im Londoner Barbican Centre statt, und man hätte sich nur schwer ein besseres Ensemble für die heutige Zeit ausdenken können: belarussische Schauspielerinnen und Schauspieler des Belarus Free Theatre, das in der erzwungenen Emigration weitermacht, standen gemeinsam mit Opernsängern und -sängerinnen aus der Ukraine auf der Bühne.
Die belarussischen Theaterschauspieler sprachen den Text, die Ukrainer sangen – in belarussischer Sprache. In einer Zeit der Herausforderungen, Traumata, Verletzungen und künstlichen Spaltungen war es für die Belarussen sehr wichtig, das zu hören. Und ich denke, auch für die Ukrainer war es gut zu sehen, dass die Ukraine dem beliebten belarussischen Schriftsteller so viel bedeutete.
Der Autor des Librettos hatte die Freude und Ehre, mit den Ukrainern an der belarussischen Aussprache zu arbeiten. Unsere Sprachen ähneln sich in der Lexik stark, phonetisch sind sie aber völlig unterschiedlich, so dass man leicht ausmachen kann, wenn ein Ausländer spricht. Doch das musische Gespür der ukrainischen Künstler wirkte Wunder – und um ihre Aussprache auf der Bühne hätten sie selbst viele Belarussen beneidet.
Ich weiß nicht, welchen Anteil die hervorragende Komponistin und welchen die brillanten Sängerinnen Tamara Kalinkina und Alena Arbusawa daran hatten, aber die Figur der Nadseja Janouskaja wirkte auf der Opernbühne stärker, emanzipierter und strahlender als es die eher blasse Figur der Heldin in der Buchvorlage tut. Ihre Partien waren für meinen bescheidenen Geschmack die unvergesslichsten des Abends. Vielleicht war es nach den Protesten von 2020 und der Rolle, die die Frauen dabei spielten, auch gar nicht anders möglich.
Zur Premiere reisten Belarussen aus verschiedenen Städten, Ländern und gar Kontinenten an, es kamen Belarussen und Ukrainer aus London. Den Großteil des Publikums machten aber dennoch die Briten aus. Alle vier Spieltermine waren ausverkauft. Am Ende jedes Mal die Rufe: „Slawa Ukraini!“ und „Shywe Belarus!“ Und natürlich die Antworten: „Ruhm den Helden!“ und „Ewig lebe es!“ Ein paar Mal fand auch ein gewisses Kriegsschiff eines anderen Landes Erwähnung.
Jeden Zuschauer erwartete auf seinem Sitz ein Brief der Hoffnung – eine Postkarte, gestaltet und beschrieben von ukrainischen Kindern, die der Krieg getroffen hatte. Das eine hatte sein Haus verloren, das andere seinen Vater an der Front, das dritte beide Eltern bei einem Raketenangriff. Doch die Briefe beklagten nicht den Schmerz, sondern wurden vielmehr von dem Wunsch getragen, dem Lesenden Hoffnung zu geben – vielleicht hatte auch er es nicht leicht. Es waren Briefe voller Herzlichkeit, hier und da sogar mit einer Prise Humor.
„Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas Neues zu finden.“ – Lew, 14 Jahre.
„Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da!“ – Sascha.
„Tu Gutes, und es kehrt zu dir zurück.“ – Walik, 9.
Und Artjom aus dem Gebiet Cherson schrieb: „Gib niemals auf. Respektiere deine Familie. Wenn du sie nicht respektierst, komme ich und reiße dir ein Ohr ab.“
Der Saal des Barbican hat 1.500 Plätze, das macht bei vier Vorstellungen also insgesamt 6.000 Briefe.
Ich habe vier davon und bewahre sie gut auf.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.