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Corona-Politik: Eine einzige Misere

Die frühe Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik V hatte im vergangenen Jahr wegen der Missachtung der üblichen Standards hohe Wellen geschlagen – nun prüft die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, ob er nicht bald auch in Europa eingesetzt werden könnte. Eine wissenschaftliche Studie hatte eine Wirksamkeit von über 90 Prozent belegt.
Ein solcher Erfolg auf wissenschaftlicher Ebene bringt die heftige Kritik an der Corona-Politik des russischen Staates, wie sie etwa Sergej Schelin in seinem Beitrag auf Rosbalt äußert, jedoch nicht zum Verstummen: Intransparenz, inkonsequente Maßnahmen und das In-Kauf-Nehmen vieler Todesopfer – eine Abrechnung.

Источник Rosbalt

Die offizielle Haltung Wladimir Putins und seiner Agitatoren zur Covid-19-Situation ist trotz aller Schwankungen vor allem eins: absolut selbstgefällig. Als die russischen Behörden vom Beginn der Pandemie erfuhren, konnten sie das Auftauchen des Coronavirus angeblich sofort bremsen, trafen gewissenhafte Vorkehrungen, schützten dann das Volk mit Social Distancing – und die Katastrophe war angeblich quasi besiegt. Und jetzt, wo sie doch wieder da ist, wehren sie mit sicherer Hand ihren neuerlichen Angriff ab. Von Anfang an und bis zum heutigen Tag läuft in Russland alles besser als „bei unseren Partnern“. 

In diesen schönen Worten steckt kein Körnchen Wahrheit. 

Ende 2020 gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt, abgesehen von ein paar lateinamerikanischen Staaten, in denen die Zahl der Todesopfer [je Tausend Einwohner – dek] aufgrund der Pandemie noch höher ist. 

Die offizielle Statistik der Covid-Opfer ist fast überall unzuverlässig. Daher ist ihr realer Messwert die sogenannte Übersterblichkeit. Für Russland, wo die Sterberate bis zum ersten Quartal 2020 stetig zurückging, ist dieser Messwert als Anstieg der allgemeinen Sterblichkeit von April bis Dezember 2020 im Vergleich zu demselben Zeitraum 2019 definiert.
     

„Die Übersterblichkeit zeigt das wahre Ausmaß der Covid-Pandemie in Russland“ Quelle

Rosstat gibt die Berichte mit extremer Verzögerung heraus, vor allem jetzt. Daher kann die Übersterblichkeit in den neun Covid-Monaten 2020 vorerst nur näherungsweise angegeben werden. Nach Einschätzung des Demografen Alexej Rakscha beträgt sie rund 300.000. Den fragmentarischen Daten nach, die uns trotz der Hindernisse aus den Regionen erreichen, sind fast alle Fälle von Übersterblichkeit auf Covid zurückzuführen.      

Pandemie und Politik

Wie sieht das im Vergleich zu anderen Ländern aus? Schlecht, beziehungsweise sehr schlecht. Auf 1000 Einwohner ist die Übersterblichkeit in Russland 2020 doppelt so hoch wie in den besonders stark betroffenen USA; zweieinhalbmal so hoch wie in Schweden, das sich eine Zeit lang seiner Verharmlosung der Infektion rühmte; siebenmal höher als in Deutschland (für alle diese Länder sind das ebenfalls nur ungefähre Schätzungen).      

300.000 Tote bedeuten, dass im Zeitraum von April bis Dezember 2020 die Sterblichkeit in Russland im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf das 1,23-Fache gestiegen ist. Und im November, mit 75.000 bis 80.000 zusätzlichen Todesfällen der schlimmste dieser Monate, auf das 1,55-Fache. Das sind die Durchschnittswerte. In manchen Gegenden des Landes ist es wesentlich ärger. 

Abgesehen davon ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Bezeichnet man ihre Bekämpfung durch unseren Staat als unzureichend, so nennt man einfach eine offensichtliche Tatsache beim Namen. Diese Misere besteht aus mehreren Punkten:

1. Selbstbetrug auf allen Ebenen

Um eine Pandemie zu bekämpfen, muss man zumindest wissen, was passiert. Doch die Chefetage hat bis heute nicht wirklich den Dreh raus, wie man Daten sammelt, nicht einmal für sich selbst. 

Die täglichen Berichte des Rospotrebnadsor mit den Zahlen der Neuinfektionen haben mit der Wirklichkeit meistens überhaupt nichts zu tun. Und die von derselben Behörde auf der Website стопкоронавирус.рф veröffentlichte Sterbestatistik [derzeitiger Stand: rund 77.000 – dek] tut nicht mal so, als wäre sie vertrauenswürdig. So berichtet Rosstat mit mehrmonatiger Verspätung von einer doppelt so hohen Zahl jener, die an oder mit Covid gestorben sind. Doch auch diesen Informationen sollte man nicht mehr Glauben schenken als sonstigen Berichten von Rosstat über Todesursachen in Russland, die seit 2012 an die Vorgaben der Mai-Dekrete angepasst werden.    

Was die Führungsebene angeht, so bezieht sie ihre Informationen aus einem der Öffentlichkeit unzugänglichen, speziell an sie adressierten Monitoring des Gesundheitsministeriums. Diese Zahlen übersteigen die des Rospotrebnadsor um ein Vielfaches, bleiben dabei aber eindeutig unvollständig: Es sind nämlich nur die Zahlen der nach stationärer Behandlung Verstorbenen erfasst, die aus den Regionen gemeldet werden, die diese Zahlen zum Teil bewusst fälschen. 

Innerhalb der Machtvertikale belügt man sich gegenseitig nicht weniger als man die Untergebenen belügt. Über verlässliche Daten verfügt niemand, nicht einmal der Führer.     

2. Das Versagen des Polizeistaatеs

Unser Regime kokettiert damit, dass es angeblich alle Bereiche des Lebens durchdringt und hundertprozentige Kontrolle über die Staatsbürger ausübt.  

In der Politik ist das möglicherweise gar nicht so frei erfunden, obwohl es auch da in letzter Zeit ständig Fehler gibt. Aber als es darum ging, Coronainfizierte und ihre Kontaktpersonen ausfindig zu machen, zu isolieren und ihre Aufenthaltsorte zu tracken, da erlitten die Bespitzelungsverfahren des Regimes sofort Schiffbruch – und das im März, als die Behörden angeblich so gut auf die Abwehr der Pandemie vorbereitet waren.  

Und versucht haben sie es ja. Nur leider erfolglos. Das, was irgendwo in Taiwan wie am Schnürchen läuft, überfordert den russischen Polizeistaat mit seiner millionenschweren Überwachungsmaschinerie offenbar ...

3. Die Selbstenthebung des Führers

Fast die gesamte Anti-Covid-Aktivität von Wladimir Putin fand im Frühling statt. Von Ende März bis Mitte Mai hat er sogar ein paarmal in den sauren Apfel gebissen – und sich durchgerungen, kurze Reden an die Nation zu halten. 

Dann wurde verkündet, die Krankheit sei besiegt, und diese These ist bis heute in Kraft.

Als die Herbstwelle der Pandemie begann, die viel heftiger war als die im Frühjahr, hatte sich Putin schon eine andere Rolle ausgesucht: Die Verantwortung wurde entgegen aller unserem System zugrundeliegenden Prinzipien auf Regionalverwaltungsleiter, medizinische Bürokraten und Gesundheitsbehörden abgeschoben.   

Gelegentlich sah das Publikum auf den Bildschirmen, wie der Führer diensteifrigen Berichten lauscht und seinen Untergebenen weise Ratschläge gibt, ihren Vortragsstil verbessert, ohne auch nur für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen oder Fehler zuzugeben. Sogar ein so wirksames PR-Instrument wie die Bestrafung, wenn sich jemand etwas hatte zu Schulden kommen lassen, wurde sehr selektiv und höchstens auf Ebene regionaler Gesundheitsbehörden angewandt. 

Der Mobilisierungsgrad der Behörden war daher viel niedriger, als möglich gewesen wäre. Ganz zu schweigen von verwirrenden Signalen an die Bürokratie, die darauf hindeuten, dass das Staatsoberhaupt in die Angelegenheiten rund um die Pandemie kaum involviert ist: So mussten sich die Sankt Petersburger Beamten, die versuchten, den Tourismus zum Jahreswechsel einzudämmen, Appelle des Führers an die Russen anhören, öfter mal nach Sankt Petersburg zu fahren. Und die Normalbürger, die zum Tragen von Masken verdonnert werden, sehen, dass ihr Führer immer ohne herumläuft.     

4. Das Rätsel des Frühlings-Lockdowns

Aus heutiger Sicht scheinen die „arbeitsfreien Tage“ (so etwas Ähnliches wie ein Lockdown), die bei uns im Frühling eineinhalb Monate lang galten, irgendwie unlogisch. Für unsere Führung stehen seit Urzeiten wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks. 

Möglicherweise waren da einfach ein paar Zufälle zusammengekommen – Putins Besuch in einem Covid-Krankenhaus (bis heute der einzige), die Erkrankung von einigen seiner Untergebenen und Bekannten, das Vorbild europäischer Länder und die damalige allgemeine Atmosphäre von Ratlosigkeit, die in Panik umschlug.  

Jedenfalls bekamen die durch den Arbeitsstopp Geschädigten um ein Vielfaches weniger finanzielle Unterstützung, als sie hätten kriegen können. Fast alle Verluste wurden dem Volk aufgebürdet. Die strenge Einhaltung dieses Prinzips machte es unmöglich, Betriebe abermals flächendeckend stillzulegen – weder Personal noch Besitzer könnten es sich leisten, ein weiteres Mal auf ihre Einnahmen zu verzichten. 

5. Das Paradox des ausgebliebenen Lockdowns im Herbst

Die zweite Covid-Welle erwies sich als tödlicher als die erste. Während die (anhand der Übersterblichkeit bestimmte) Zahl der Todesopfer im Frühling und in der ersten Sommerhälfte rund 70.000 betrug, waren es von September bis Dezember rund 220.000.  

Ein Lockdown ist, auch wenn regional beschränkt, eine Holzhammermethode, die wahllos verschiedene Interessen trifft. Doch die Praxis europäischer Länder zeigte, dass man auf diese Art Infektionsausbrüche in den Griff bekommen kann. Auch in Russland gab es inzwischen weitaus mehr Gründe für die teilweise Schließung von Unternehmen und Betrieben als im Frühling. 

Allerdings wurde bis mindestens Mitte November fast gar nichts unternommen. Abgesehen von ein paar formalen Gesten, die kaum jemand ernstnahm. 

Für unsere Führung stehen wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks

Die Covid-Leugner, die im Nachhinein das „schwedische Modell“ bejubeln, vergessen seltsamerweise, auch vom Vorgehen unseres Regimes begeistert zu sein. Die Hälfte des Herbstes ging es nämlich durchaus „schwedisch“ vor, und die Signale, die es an seine Untertanen sandte, erweckten den Eindruck, dass bei uns lauter Covid-Dissidenten an der Macht sind.     

In Russland überlagerten sich die Passivität und Gier der oberen Etagen mit der Misswirtschaft der unteren, und das aus der Not entstandene „schwedische“ Szenario hatte bei uns weitaus fatalere Folgen. Die waren so offensichtlich, dass im Spätherbst ein Teil der russischen Regionen doch noch wirkliche Einschränkungen beschloss – in der Regel schlecht durchdachte Maßnahmen, die vor allem Branchen ohne starke Lobby schwer trafen und die eigenen Leute verschonten. Zudem wurde das irrwitzige Prinzip, für entstehende Einbußen nicht aufzukommen, auch jetzt nicht revidiert.  

Trotz der beachtlichen Zahl von Todesopfern in den eigenen Reihen zieht Russlands Führungselite nicht an einem Strang und ist auch kein bisschen von dem Wunsch erfüllt, dem Volk im Kampf gegen die Katastrophe den Weg zu weisen. Dasselbe muss auch über den Herrscher gesagt werden, dessen berühmt-berüchtigte Coolness und Abgebrühtheit in der Stunde der Gefahr plötzlich irgendwohin verschwunden sind.   

Dem Volk bleibt nichts anderes übrig, als auf seine Überlebenskünste zurückzugreifen und auf die Hilfe jenes Teils der medizinischen Versorgungsstrukturen zu hoffen, die das Regime noch nicht „optimiert“, entprofessionalisiert und korrumpiert hat.

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Das russische Gesundheitssystem

Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.

Sowjetische Plakate aus dem Jahr 1971. Quelle: 22-91.ru Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1

Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin

Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.

Das sowjetische System 

Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“

Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.

Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2

Gesundheit unter Marktbedingungen 

Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.

Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.

Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.

Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis 

Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.

Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4

Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.

Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5

Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6

Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.


Quelle: FOM

Und die Onkologie? 

Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.

Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.

Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.

Nicht der Staat allein 

Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.

Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.

Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.

Prinzip Eigenverantwortung 

Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.


1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266.
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University  
3.Kremlin.ru: Poslanie Federal'nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii (3 aprelja 2001 goda)  
4.Rbc.ru: Čislo bol'ničnych koek v Rossii v 2016 godu umen'šilos' na 23 tys.
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok.  
6.Ebd.
7.A.D. Kaprin, V.V. Starinskij, G.V. Petrova (2019): Sostojanie onkologičeskoj pomošči naseleniju Rossii v 2018 godu.
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