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Covid-19: Augen zu und durch

Herdenimmunität schon im August? Glaubt man russischen Politikern, dann werden bis dahin 70 Prozent der Menschen in Russland geimpft und die Einschränkungen aufgehoben sein. Dabei liegt die Impfquote derzeit bei nur rund fünf Prozent, die Mehrheit der Russen (62 Prozent) will sich laut Umfragen nicht gegen Covid-19 impfen lassen.

Wie kommt dann ein solcher offizieller Optimismus zustande? Die für den Gesundheitsschutz zuständige Behörde Rospotrebnadsor glaubt etwa, dass es in Russland keine dritte Welle geben wird: Die Immunitätsrate steige, sowohl durch die Geimpften als auch durch diejenigen, die schon infiziert waren. Die Anzahl der Letzteren beziffert der unabhängige Demograf Alexej Rakscha auf rund 35 Prozent. Was jedoch mit einer so hohen Durchseuchung einhergeht: Von April 2020 bis April 2021 beträgt die Übersterblichkeit laut Rakscha rund eine halbe Million Menschen, fast alle Todesfälle stehen im Zusammenhang mit Covid-19. Auch andere Forscher, wie der Tübinger Datenwissenschaftler Dmitry Kobak, kommen auf ähnliche Zahlen

Die Übersterblichkeit ist damit in Russland so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt. Halbherzig beschlossene und kaum durchgesetzte Corona-Einschränkungen werden oft als Grund dafür genannt, aber auch das marode Gesundheitssystem: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben in Russland vier bis fünf Prozent, in Deutschland liegt er bei etwa zwölf Prozent. 

Auch das Onlinemedium Projekt hat sich auf die Suche nach den Gründen für die hohe Übersterblichkeit gemacht – und eine erschreckende Bilanz des Corona-Jahres 2020 gezogen. dekoder bringt die Analyse mit den Daten der Übersterblichkeit von Dmitry Kobak.

Источник Projekt

„Man ging davon aus, dass wir zu nichts taugen, niemand sind und nichts können. Aber wir konnten. Und zwar besser als andere Länder.“ Mit diesen Worten zog Wladimir Putin eine in seinen Augen erfolgreiche Bilanz aus einem Jahr Kampf gegen Corona.

Mitte Februar 2021, als er das sagte, lagen die Sterberaten für das Jahr 2020 in Russland und anderen Ländern bereits vor. Den Zahlen nach war Russland weltweit einer der Außenseiter in diesem Kampf: Im vergangenen Jahr starben in Russland 2.124.000 Menschen. Das sind 20 Prozent beziehungsweise 321.000 Menschen mehr, als es ohne Coronavirus gewesen wären. Es starben doppelt so viele wie nach offiziellen Angaben an dem Virus gestorben sind.

Quelle: Dmitry Kobak/Github

Woran sind all diese Menschen gestorben? 

Rosstat hat mit dem Ausbruch der Epidemie im April 2020 aufgehört, die Zahlen zu den Todesursachen zu veröffentlichen, obwohl die früher monatlich herausgegeben wurden. Wir können uns also nur auf offizielle Aussagen verlassen. Laut Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa hängt die Übersterblichkeit zu 81 Prozent mit dem Coronavirus zusammen – demzufolge hätte das Virus also mindestens 260.000 Opfer gefordert.

Wo sind die meisten Menschen gestorben? 

Anfang 2020 schränkte Ramsan Kadyrow als einer der ersten regionalen Regierungschefs die Einreise in die Tschetschenische Republik ein und verhängte eine strikte Quarantäne. Doch die kaukasischen Traditionen waren stärker.

Bereits im Mai waren traditionelle Hochzeitsfeiern wieder erlaubt, obwohl Großveranstaltungen offiziell verboten blieben. Und im September, als die Zahlen in Russland erneut stiegen und sich die zweite Coronawelle anbahnte, vergnügte sich Kadyrow persönlich auf der Hochzeit seines Neffen. Die zahlreichen Gäste trugen, wie Kadyrow selbst, keine Schutzmasken. Drei Wochen später besuchte das tschetschenische Oberhaupt im Kreise seiner Vertrauten und des tschetschenischen Mufti die Beisetzung des an Covid verstorbenen Dumaabgeordneten Wachi Agajew – wieder ohne Masken oder Einhaltung der Abstandsregeln.

Ganz ähnlich sah es in Dagestan aus. Im Juli, kurz nachdem die Einschränkungen gelockert worden waren, hielt man in der Republik eine Flottenparade ab. „Gerade erst hat man im städtischen Krankenhaus von Machatschkala eine Abteilung mit 750 Betten geschlossen. Gleich morgen früh wird sie wieder aufgemacht“, schrieb Israfil Israfilow, Assistent des Chefarztes, nach der Parade auf seinem Telegram-Kanal.

Tschetschenien war 2020 bei der relativen Übersterblichkeit der (traurige) Spitzenreiter unter den russischen Regionen. Zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten gehören außerdem andere nordkaukasische Regionen, aber auch einige dichtbevölkerte Regionen im europäischen Teil Russlands und Sibirien. Auf den hinteren Plätzen rangieren abgelegene und dünn besiedelte Gebiete: Burjatien und Magadan oder die Halbinsel Tschukotka im äußersten Nordosten Russlands.



 

Relative Übersterblichkeit: Sterbedaten in Russland 2020 verglichen mit prognostizierten Werten auf Grundlage von Sterbedaten der Vorjahre (Angaben in Prozent), Quelle: Dmitry Kobak (Berens Lab, Universität Tübingen). Mehr zur Methodik auch in den Russland-Analysen.

Warum haben ausgerechnet diese Regionen so viele Verluste zu beklagen?

Auf dem Höhepunkt der Pandemie fehlte es vor allem an Einsatzkräften und Betten: „Wir haben genug Krankenwagen, aber niemanden, der sie fahren kann“, konstatierte Dimitri Asarow, Gouverneur der Oblast Samara, im November 2020 ratlos.

Im Oktober waren in Samara drei Mal so viele Notrufe eingegangen wie im September; die Menschen beklagten, dass sie über 24 Stunden auf einen Krankenwagen warten müssen.

Die Regionen waren unterschiedlich gut für eine Pandemie gewappnet: Die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ging teilweise um das Zwei- oder Mehrfache auseinander. So standen Anfang 2020 in Inguschetien und Tschetschenien [in Tschetschenien lag die relative Übersterblichkeit nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 47 Prozent, in Inguschetien bei rund 32 Prozent, s. Grafik oben – dek]  44 bis 55 Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner zur Verfügung, während es auf der Halbinsel Sachalin und in Magadan [wo die relative Übersterblichkeit äußerst gering ist, s. Grafik – dek] über 100 waren.

Am Ende waren genau die Regionen, die am Anfang der Epidemie am schlechtesten mit medizinischem Personal und Krankenhausbetten ausgestattet waren, die mit den meisten Opfern.

So hatte zum Beispiel die Oblast Samara Anfang 2020 bei der Verfügbarkeit von examiniertem Krankenpflegepersonal auf Platz 63 von 85 russischen Regionen gelegen, bei der Anzahl der Betten pro Einwohner auf Platz 72. [Die relative Übersterblichkeit der Oblast Samara liegt nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 27 Prozent, s. Grafik – dek]. 
Tatarstan [eine Region mit einer hohen relativen Übersterblichkeit von rund 28 Prozent, entsprechend der Daten von Dmitry Kobak, s. Grafik – dek], rangierte vor der Epidemie auf Platz 81 bei der Anzahl der Betten. Und der Spitzenreiter Tschetschenien hatte sowohl bei der personellen Ausstattung der Notdienste als auch bei den Krankenhausbetten pro Einwohner Platz 83 von 85 eingenommen.

Der Abbau von stationären Kapazitäten wurde in Russland in den 2000er und 2010er Jahren durchgeführt und war gewollt: Das Gesundheitsministerium war der Meinung, dass „moderne Behandlungsmethoden es heute ermöglichen, dem Patienten ambulant die gleiche Hilfe zukommen zu lassen, die früher eine langwierige stationäre Behandlung erfordert hatte“. Dabei waren in abgelegenen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte die Normen für die Anzahl der Krankenhausbetten höher als in zentralen Regionen. In der Folge standen dichtbevölkerte Gebiete in Zentral- und Südrussland, der Wolga-Region und im Nordkaukasus zu Beginn der Corona-Epidemie schlechter da als die Randgebiete des Landes. Die Regierung musste handeln.

Warum halfen die zusätzlichen Mittel nicht?

Die Zentralregierung versuchte die Regionen bei der Vorbereitung auf die Epidemie zu unterstützen. Eine der ersten Maßnahmen im Frühjahr 2020 war die Bereitstellung von Geldern für die Ausstattung der Krankenhäuser: insgesamt 65 Milliarden Rubel [damals rund 800 Millionen Euro – dek] für Instandsetzung, medizinische Geräte, Umrüstung von Abteilungen zu Corona-Zentren und die Einrichtung von „Coronabetten“. Später wurden noch einmal 9 Milliarden Rubel [damals rund 110 Millionen Euro – dek] allein für die Ausstattung mit Betten bereitgestellt.

Das Problem war, dass das meiste Geld längst nicht diejenigen Regionen bekamen, die am schlechtesten dastanden. Die Höhe der Subventionen richtete sich nach der Einwohnerzahl – und so landeten die größten Summen in den Regionen Moskau, Sankt Petersburg und Krasnodar.

Dabei hätten die föderalen und regionalen Behörden ausreichend Zeit gehabt, den Problemregionen gezielt zusätzliche Mittel für Extrabetten zur Verfügung zu stellen. Im Frühjahr und Frühsommer traf die Epidemie nur eine Handvoll meist zentraler Regionen. Aber die Entscheidungsträger auf allen Ebenen orientierten sich bei der Ressourcenverteilung an den damals geltenden Normen – ein Bett pro eintausend Einwohner in den Millionenstädten und 0,5 Betten in Städten mit geringerer Einwohnerzahl. Es wurde schnell klar, dass das ein Fehler war – die Betten reichten nicht aus.

In der sibirischen Oblast Omsk wurden im verhältnismäßig ruhigen Juli zum Teil nicht einmal Intensivpatienten stationär behandelt. So verweigerte man einer älteren Frau aus Omsk innerhalb von vier Tagen drei Mal die Aufnahme ins Krankenhaus. Erst nach weiteren zwei Tagen brachte man sie in die Klinik, wo sie schließlich verstarb. In jenem Monat überstieg die Sterblichkeit das Mittel der letzten Jahre um 28 Prozent, genau so ein Zuwachs hielt sich auch in den Monaten August und September.

All das brachte allerdings weder die Behörden der Oblast Omsk noch das Gesundheitsministerium dazu, die Anzahl der Betten aufzustocken; das geschah erst im Oktober. In der Folge gehörte Omsk zu den am schwersten vom Coronavirus betroffenen Regionen.

Obwohl die allgemeine Sterblichkeit im Juli in jeder dritten Region die offiziellen Werte der vorhergehenden Jahre um zehn Prozent überstieg, sahen sich die Behörden durch den langsamen Anstieg der Patientenzahlen dazu veranlasst, die Betten, die während der ersten Welle eingerichtet oder umgerüstet worden waren, massenweise wieder umzufunktionieren. Das führte dazu, dass die Ausstattung mit Coronabetten auf dem niedrigsten Stand im ganzen Zeitraum der Pandemie war, als die zweite Welle das Land traf.

Die Patientenzahlen stiegen so rasant, dass man mit den Betten nicht mehr hinterherkam. So wuchs zwischen dem 14. September und dem 24. Dezember die Zahl der Neuerkrankten um das 6-fache an, während sich die Anzahl der Betten lediglich um das 2,2-fache erhöhte.

Wie die Regierung die Bekämpfung der Pandemie den Regionen überließ

Seit Mitte September stieg die Zahl der Neuinfizierten in Russland täglich an. Anfang Oktober kamen aus den Regionen massenhaft Klagen über mangelnde medizinische Hilfe – keine Krankenwagen, stundenlange Wartezeiten vor den Polikliniken, keine stationären Aufnahmen. Die Angehörigen eines 48-jährigen Mannes aus Nowosibirsk erzählten, dass sie eine Woche lang auf eine Blutuntersuchung oder einen Arzt gewartet hätten und dann zwei Tage lang vergeblich versuchten, einen Krankenwagen zu rufen. Der Mann starb im Krankenhaus, einen Tag nach seiner Einweisung.

Einer der Gründe für die Probleme im Herbst war vermutlich, dass die Regierung die Gouverneure Anfang November dazu verpflichtete, nicht etwa über die Anzahl der Hospitalisierungen oder Todesfälle wöchentlich Bericht zu erstatten, sondern über die Anzahl der freien stationären Betten. Das Niveau durfte 20 Prozent nicht unterschreiten. Wie man diese Vorgaben erreicht – ob man mehr Betten schafft oder weniger Patienten aufnimmt –, blieb den Regionen selbst überlassen. Bald häuften sich Klagen, dass man in den Regionen sogar Schwerkranke abweisen würde, zum Beispiel weil noch CT-Untersuchungsergebnisse fehlen würden.

In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen

Auch in die Polikliniken, die nach dem Willen der Regierung alle Nicht-Intensivpatienten aufnehmen sollten, war kein Reinkommen. In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen. Warten musste man draußen. Genau so sah es in Kasan, Nishni Nowgorod, Samara und in anderen Großstädten aus.

Am 26. Oktober entschied das Gesundheitsministerium, dass mittelschwer erkrankte Patienten zu Hause behandelt werden dürfen. Aber auch das brachte nicht viel: Die Ressourcen in den Krankenhäusern waren schnell erschöpft, und bei der Regierungsversammlung am 16. November konstatierte Gesundheitsminister Michail Muraschko, dass in mehr als der Hälfte der Regionen die Stationen zu 90 Prozent ausgelastet seien. Nach wie vor reichte der Platz nicht einmal für die Intensivpatienten.

Was war mit der Quarantäne?

Es wäre logisch anzunehmen, dass man der zweiten großen Corona-Welle im Herbst aktiv mit Quarantänemaßnahmen begegnet wäre. Aber während sich die Lage stetig verschlechterte (im November und Dezember gab es täglich dreimal mehr Neuinfizierte als im Mai, auf Krankenwagen wartete man teilweise mehrere Tage), wurden weder landesweit noch in den einzelnen Regionen Beschränkungen ähnlich dem Lockdown im Frühjahr eingeführt.

In vielen Regionen waren die Maßnahmen eher halbherzig: Die Gastronomie durfte tagsüber öffnen, in Vergnügungszentren wurden Kinderspielzimmer geschlossen, älteren Menschen wurde empfohlen, zu Hause zu bleiben. Aber da es kaum Kontrollen gab, hielt sich auch kaum jemand an die Empfehlungen.

Paradoxerweise waren die Einschränkungen in den Ballungszentren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten. So wurde beispielsweise in Kysyl im südlichen Sibirien, einer Stadt mit 119.000 Einwohnern, im Sommer der öffentliche Nahverkehr eingestellt, während man in den Großstädten auf solch drastische Maßnahmen verzichtete. In Omsk [die achtgrößte Stadt Russlands mit rund 1,2 Millionen Einwohnern – dek] wurde das Tragen von Mund- und Nasenschutz erst zum 1. November verpflichtend, und selbst diese Maßnahme bezeichnete Gouverneur Alexander Burkow noch als „durchaus harte, ja sogar harsche Entscheidung“.

Einschränkungen in den Ballungszentren waren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten

Ähnlich sah es im Bildungssektor aus. Während in Tschita in Südostsibirien die Schulen in den Distanzunterricht wechselten, gingen in Sankt Petersburg, Pensa [rund 550 Kilometer Luftlinie entfernt von Moskau – dek], Tschetschenien, Tatarstan und Dagestan die Kinder weiter zur Schule, nur vereinzelt gab es kurzzeitige Quarantänemaßnahmen.

Die Entscheidung der Gouverneure gegen den Lockdown wurde von der Landesregierung und Präsident Putin gestützt. Ende Oktober rief Putin beim Forum Rossija Sowjot die Regionen dazu auf, „gerechtfertigte, punktuelle Lösungen“ zu finden, die es erlauben „die größtmögliche Sicherheit der Menschen sowie einen kontinuierlichen Arbeitsbetrieb von Unternehmen und Organisationen zu gewährleisten“.

Abgesehen von dem Ressourcendefizit und der hohen Bevölkerungsdichte haben die Regionen mit der höchsten Übersterblichkeit aber noch etwas anderes gemeinsam: eine extrem niedrige offizielle Zahl von Corona-Toten. Demzufolge hat das Coronavirus in Tatarstan, Mordowien, der Oblast Pensa und Tschetschenien praktisch keine Opfer gefordert – offiziell war das Virus dort lediglich für fünf bis sieben Prozent der gesamten Übersterblichkeit verantwortlich. Liegt dieser Wert in den Regionen unter zehn Prozent, dann, so sagt Gesundheitsexpertin Gusel Ulumbekowa, sei dies ein Zeichen dafür, dass diese offiziellen Daten „statistische Fehler“ enthalten.    

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Das russische Gesundheitssystem

Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.

Sowjetische Plakate aus dem Jahr 1971. Quelle: 22-91.ru Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1

Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin

Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.

Das sowjetische System 

Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“

Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.

Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2

Gesundheit unter Marktbedingungen 

Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.

Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.

Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.

Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis 

Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.

Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4

Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.

Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5

Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6

Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.


Quelle: FOM

Und die Onkologie? 

Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.

Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.

Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.

Nicht der Staat allein 

Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.

Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.

Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.

Prinzip Eigenverantwortung 

Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.


1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266.
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University  
3.Kremlin.ru: Poslanie Federal'nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii (3 aprelja 2001 goda)  
4.Rbc.ru: Čislo bol'ničnych koek v Rossii v 2016 godu umen'šilos' na 23 tys.
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok.  
6.Ebd.
7.A.D. Kaprin, V.V. Starinskij, G.V. Petrova (2019): Sostojanie onkologičeskoj pomošči naseleniju Rossii v 2018 godu.
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Korruption ist in Russland weit verbreitet – sowohl in Politik und Wirtschaft als auch im Alltagsleben. Korruption, die nicht zuletzt durch niedrige Gehälter befördert wird, kommt in zahlreichen Variationen vor: gegenseitige Gefälligkeiten, Tausch unter der Hand, Abzweigung staatlicher Mittel, Bestechungsgelder und vieles mehr. Da die Korruption systemischen Charakter angenommen hat, ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie wirksam bekämpft werden kann.

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