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Krieg im Kindergarten

Seit September 2022 beginnt die russische Schulwoche mit den sogenannten Gesprächen über das Wichtige – verpflichtende Unterrichtseinheiten, bei denen es um die „militärische Spezialoperation“, den „kollektiven Westen“ und generell eine „patriotische Erziehung“ geht. Doch die beschränkt sich nicht nur auf den Schulbereich: Tarnanzüge, Gewehre und Schmetterlingsminen zum Ausmalen – Irina Nowik berichtet für 7x7 über eine fortschreitende Militarisierung an russischen Kindergärten.

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In einem Raum mit großen Fenstern tanzen 15 Kinder. Sie schwenken bunte Tücher in drei Farben: weiß, blau und rot. An einem der Fenster hängt die russische Trikolore. Es spielt ein munteres Kinderlied der Band Wolschebniki dwora (dt. Die Zauberer vom Hof):

„Lass über der Welt wehen deine Fahnen
Wir tragen alle deinen stolzen Namen,
Russland, wir sind alle deine Kinder, 
Und das heißt, wir werden siegen!“

Und der Refrain: „Russland, deine Kinder sind wir. Russland, deine Stimmen brauchen wir.“

Dieses Video hat die Redaktion von Olga bekommen. Ihre Tochter Polina (beide Namen auf Wunsch der Mutter geändert) ist fünf und lebt mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder in Sankt Petersburg, wo sie die Vorschulgruppe eines staatlichen Kindergartens besucht.

Auf einem anderen Video, das Olga uns schickt, sieht man die Väter in Trainingsanzügen marschieren. Im Hintergrund läuft das Armeelied U soldata wychodnoi (dt. Der Soldat hat heute frei) in der Interpretation des sowjetischen Vokal- und Instrumentalensembles Plamja.

Beide Videos hat die Petersburgerin während einer Feier aufgenommen, die anlässlich des 23. Februars, zum Tag des Vaterlandsverteidigers, im Kindergarten ihrer Tochter stattfand. Nach den Neujahrsferien hatte die Erzieherin in den Elternchat geschrieben, dass es an diesem Tag eine offene Unterrichtsstunde im sportlich-patriotischen Stil geben würde und alle Kinder mit Fliegermütze und tarnfarbenem T-Shirt kommen müssten.

Papa muss in der Armee dienen – und der Sohn auch

Olga war geschockt von dieser Ankündigung und antwortete im Chat, dass sie dagegen sei. Ausnahmslos alle anderen Eltern waren aber dafür und überwiesen dem Elternkomitee Geld für die Mützen.

Polina wollte gerne an der Feier teilnehmen. Um ihre Tochter nicht zu enttäuschen, besorgte Olga eine weiße Mütze und ein blaues T-Shirt und flocht ihr weiß-blaue Bänder in die Zöpfe. „Ich zog sie extra in den Farben der weiß-blauen Flagge an. Ich weiß nicht, ob das irgendwem von den Eltern oder Erziehern aufgefallen ist.“

Die Väter nahmen an den Spielen teil, die Mütter schauten zu und machten Fotos. Alle Aktivitäten drehten sich um das Motto, dass Papa in der Armee dienen muss – und der Sohn auch. Eine der Aufgaben für die Väter bestand darin, anstelle eines Gewehrs einen Fleischwolf auf Zeit zusammenzubauen.

Im Kindergarten Planeta detstwa (dt. Planet der Kindheit) in Ujar bei Krasnojarsk feierte die jüngste Gruppe Karamelki (dt. Bonbons) ebenfalls den 23. Februar. „Die Kinder sagten mit Liebe, Hingabe und Stolz Gedichte über Vaterlandsverteidiger auf, sangen das Lied My soldaty, brawyje rebjata (dt. Wir Soldaten, tapfere Burschen) und spielten mit den Vätern die Spiele Maskirowka (dt. Tarnung), Saminirui pole (dt. Miniere das Feld) und Soberi bojepripassy (dt. Sammle die Munition ein)“, schrieb die Kindergartenleitung in die Gruppe im sozialen Netzwerk VKontakte.

Auch in den älteren Gruppen des Kindergartens fanden solche Veranstaltungen statt. Die Vorschulklasse Zwetnyje ladoschki (dt. Bunte Händchen) bekam Besuch von einem Veteranen des Afghanistan-Kriegs, Juri Prichodkin. „Sowohl die Teilnehmer als auch die Fans (die Mütter) waren ergriffen, und die Jungen wurden motiviert, in den Reihen der russischen Armee zu dienen“, kann man in derselben Gruppe nachlesen.

Lernen, wie man eine Kalaschnikow zerlegt

An einem anderen Tag bekamen die Kindergartenkinder von Angehörigen der Junarmija, der Jugendarmee, gezeigt, wie man eine Kalaschnikow zerlegt.

„Unser Kindergarten will seine Vorschulkinder für die Junarmija begeistern. Den Kindern hat es gut gefallen, wir haben die Vorschulgruppen ausgewählt, weil sie damit schon was anfangen können. Das war eine Vorbereitung auf den Tag des Vaterlandverteidigers. Es war ein Erfolg auf ganzer Linie, die Kinder haben so etwas zum ersten Mal gesehen. Natürlich möchten sie den strammen, tapferen Soldaten nacheifern“, berichtet die Leiterin des Kindergartens, Irina Kossuchowa.

Es gibt da so einen Buchstaben

In den Kindergärten gab es schon Kriegspropaganda bevor in den Schulen die patriotischen Unterrichtsstunden Gespräche über das Wichtige eingeführt wurden. Bereits am 17. März 2022, knapp einen Monat nach Kriegsbeginn, wurden im Dorf Kurtamysch, Oblast Kurgan, erstmals Kindergartenkinder in Z-Form aufgestellt. Im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen und in den Oblasten Omsk und Samara mussten die Kinder Bilder von Panzern und Soldaten malen. In Chakassien mussten sich die Kinder allen Ernstes hinknien und Z-Bilder hochhalten. Das Symbol trug die Farben des Georgsbands, daneben stand: „Wir lassen die Unseren nicht im Stich.“

Die Eltern sind oft nicht einverstanden mit solchen Veranstaltungen, aber nicht alle haben den Mut, sich gegen das System zu stellen, besonders nach der Geschichte mit Mascha Moskaljowa, einer Fünftklässlerin, deren Vater wegen einer Antikriegszeichnung seiner Tochter zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt wurde. Eine Lehrerin hatte sich über die Schülerin beschwert. Eine weitere Fünftklässlerin aus Moskau, Warwara Galkina, wurde vom Schuldirektor persönlich denunziert, weil sie die Heilige Javelin vor dem Hintergrund einer blau-gelben Flagge als Profilbild hatte. Warwaras Mutter musste zur Polizei und die Wohnung der Familie wurde einer Hausdurchsuchung unterzogen. Über Denunziationsfälle bei Vorschulkindern ist bisher nichts bekannt, aber das bedeutet nicht, dass man in der Zukunft davor gefeit ist.

Anfang April 2022 beschloss offenbar die Leitung eines Kindergartens in Tscheboksary, dass es mit Bildern und Liedern nicht getan ist, und trug den Kindern und deren Eltern auf, für die russischen Soldaten Geschenke zu sammeln. Auf der Liste standen Schokolade, Kekse und andere Süßigkeiten, außerdem Konserven, Zahnpasta, Zahnbürsten, T-Shirts und Socken.

Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen

Der Pädagoge und Gründer des Instituts für informelle Bildung Dima Sizer ist überzeugt, dass derartige Propaganda-Veranstaltungen den Kindern einen ungesunden Patriotismus einimpfen können: „Was wir den Kindern im Alter von fünf oder sechs Jahren vorlegen, begleitet sie in der Regel ihr Leben lang. Leider ist es so, dass man Kindern eine bestimmte Einstellung zu Menschen, zu ihrem Land, ihrer Familie einpflanzen kann. Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen“, sagt Sizer gegenüber der 7x7.

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs nimmt die Militarisierung der patriotischen Veranstaltungen und Aktivitäten immer weiter zu. Im Kindergarten Oduwantschik (dt. Pusteblume) in dem burjatischen Dorf Syrjansk gab es eine feierliche Einweihung einer Gedenkecke mit Fotos von im Ukraine-Krieg gefallenen Vätern. An der Eröffnung nahmen Ehefrauen und Verwandte der Soldaten teil.

In der Region Perm zeigten Veteranen, die in Afghanistan und Tschetschenien gekämpft haben, den Kindern, wie man mit Gewehren schießt. In gleich mehreren Kindergärten der Oblast Belgorod bekamen die Kinder Ausmalbilder, auf denen sie Schmetterlingsminen und Gegenstände erkennen sollten, in denen man diese Minen nicht verstecken kann. Das war Teil eines speziellen Leitfadens für Vorschulkinder zum Verhalten bei einem Artilleriebeschuss.

Schmetterlingsminen beziehungsweise PFM-1 sind hochexplosive Minen, die gegen Infanteristen eingesetzt werden. Wer auf eine solche Mine tritt, wird sofort in die Luft gesprengt. Einem Bericht von Human Rights Watch zufolge sollen im ukrainischen Isjum solche Minen sowohl von den russischen als auch von den ukrainischen Streitkräften gelegt worden sein, obwohl ihr Einsatz gegen das völkerrechtlich verankerte Verbot von Antipersonenminen verstößt.

Anstatt den Kindern von alldem zu erzählen, präsentierte man es ihnen in spielerischer Form. In dem Ausmalbuch waren außerdem Übungen zu den verschiedenen Sprengstofftypen und Merkverse wie dieser zu finden:

„Hörst du's knallen, renne schneller
mit den Großen in den Keller“

Diese Leitfäden wurden offenbar erstellt, um die Kinder auf die Lebensrealität im Grenzgebiet vorzubereiten. Die Eltern beschwerten sich, dass man auf diese Weise ihren Töchtern und Söhnen die Kindheit wegnehmen würde.

Glorifizierung von Helden

Die Forschung kennt keine vergleichbaren Beispiele der Militarisierung aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges. Was jedoch nicht bedeutet, dass die sowjetische Propaganda nicht auch mit Kindern gearbeitet hat, sie ist bloß anders vorgegangen.

In erster Linie erzählte man Kindern, dass alle Kapazitäten an die Front gehen müssten. Stalin sagte: „Das Land muss seine Helden kennen“, und so wurden während des Kriegs Helden glorifiziert – tatsächliche und ausgedachte, wie zum Beispiel die 28 Panfilowzy. Der Historikerin Tamara Eidelman zufolge war der Grundgedanke, dass ein Held jemand ist, der sein Leben „für die Heimat, für Stalin“ hergibt, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, während Stalin als der große Beschützer vor den Faschisten gezeichnet wurde. Zwischen Faschisten und Deutschen wurde ein Gleichheitszeichen gemacht; das wichtigste Gefühl des Sowjetmenschen war der Hass auf sie. Wladimir Putin spricht heute von einer „übermäßigen Dämonisierung Stalins“ und vermittelt die gleiche Idee: Er beschütze Russland vor den „ukrainischen Faschisten“.

So wie sowjetische Kinder Briefe an Veteranen des Zweiten Weltkriegs geschrieben haben, sollen jetzt im Rahmen der Aktion Brief an den Soldaten russische Kinder Briefe an Soldaten verfassen, die in der Ukraine kämpfen. In einem Kindergarten in Ufa wurden dafür Bilder und Grußkarten gebastelt. Von manchen Kindern dort ist der eigene Vater an der Front. In den sozialen Netzwerken beschwerten sich Eltern, dass ihre Kinder gezwungen würden, an der Aktion teilzunehmen.

Die verschiedenen Institutionen des Bildungssystems wählen dabei das Format, das sie für ihre Schützlinge als am besten geeignet und am interessantesten erachten. Ein offizielles Programm, das im ganzen Land einheitlich für den Patriotismus-Unterricht gelten würde, gibt es nicht.

Vor dem 23. Februar 2023 hat es in Polinas Kindergartengruppe keine Militärveranstaltungen gegeben. Die offene Stunde, zu der alle in Fliegermützen kommen mussten, war das erste derartige Ereignis seit Beginn des Krieges. Als Polinas Mutter Olga die Erzieherinnen fragte, warum sie diese Feier überhaupt veranstalten würden, antwortete man ihr, die Kinder der Vorschulgruppe seien jetzt alt genug, „das alles zu wissen“. Olga hält die offene Stunde für eine persönliche Initiative von einer Erzieherin, der sich dann das Elternkomitee angeschlossen habe mit dem Vorschlag, eine Sammelbestellung für die Fliegermützen aufzugeben.

„Ich sagte, meine Tochter braucht keine Mütze, und gab kein Geld dazu“, erzählt Olga.

Ihren Standpunkt hat Olga nicht nur im Elternchat klargemacht, sondern auch direkt gegenüber der Erzieherin. Die reagierte gelassen, aber je näher der 23. Februar rückte, desto öfter fragte sie nach, ob Olga nicht vielleicht doch eine Mütze kaufen wolle. Sie argumentierte, dass die Kinder ohne sie nicht am Wettlauf teilnehmen könnten: Die Jungen und Mädchen sollten bis zu ihrer Fliegermütze rennen, sie aufsetzen und wieder zurückrennen.

Amulettpuppen für die Soldaten an der Front

Solche Veranstaltungen werden immer mehr, und sie nehmen immer kreativere Formen an. Während die Mobilisierten teure Ausrüstung, Visiere, Wärmebildkameras, Quadrocopter, Nachtsichtgeräte und Ferngläser aus eigener Tasche kaufen müssen, beschlossen die Erzieherinnen des Kindergartens Nr. 50 in Sennaja, Oblast Saratow, das Sicherheitsproblem auf ihre Weise zu lösen: Sie ließen die Kinder Amulettpuppen für die Soldaten basteln. „Diese Püppchen sollen den Soldaten positive Energie, Wärme und Schutz vermitteln. Damit alles gut ausgeht und unsere Jungs gesund und munter wieder nach Hause zurückkehren“, liest man in der Ankündigung.

Dima Sizer zweifelt nicht an der Entscheidungsautonomie des Vorschulpersonals: „Eine einheitliche Doktrin wäre zumindest nachvollziehbar, man könnte sie meiden und sich nach anderen Formen der Erziehung umsehen, die es immer noch gibt und die auch im Gesetz verankert sind“, sagt Sizer. „Aber wenn ein Kind aus dem Kindergarten kommt und erzählt, dass eine Erzieherin sich etwas ausgedacht hat, nur weil sie der ganzen Welt vorauseilt in Sie-wissen-schon-was, dann sind wir, verzeihen Sie den Ausdruck, wirklich am Arsch.“

Seit 2012 gab es für das Vorschulalter 21 verschiedene Lehrpläne. Ein Kindergarten konnte selbstständig ein oder mehrere fertige Programme auswählen oder nach dem Muster eines staatlichen Modells sogar selbst eines schreiben. Am 28. Dezember 2022 verabschiedete das Bildungsministerium der Russischen Föderation einen Erlass über das „einheitliche föderale Programm für Vorschulerziehung“. Die Ausarbeitung hat gerade mal einen Monat gedauert. Das Ziel des Dokuments sei „die Schaffung einer einheitlichen Vorschulbildung in Russland“. Der Fokus der Beamten liegt dabei vor allem auf der patriotischen Erziehung, auch vom traditionellen Flaggenhissen ist die Rede. Das Programm soll den Verfassern zufolge den Grundstein für „Staatsbürgerschaft und Patriotismus“ legen.

Noch ist das neue Programm nicht landesweit in Kraft, aber in Nowosibirsk hat man die Eltern bereits vorgewarnt, dass sich ab September 2023 alle staatlichen Kindergärten danach richten werden.

Die Urenkel der großen Sieger

Der gemeinsame Lehrplan wird als Doktrin dargestellt, was eigentlich nicht stimmt. Das Dokument schreibt zum Beispiel nicht ausdrücklich vor, dass die Kinder Z-förmig aufzustellen sind. Laut Dima Sizer ein wichtiges Detail: „Kindergärten und Schulen haben noch immer einen großen Handlungsspielraum. Erziehung funktioniert generell so, dass sie sehr von den Akteuren abhängt. Was im Klassenzimmer passiert, ist immer noch das, was der Lehrer macht, und nicht das, was das Ministerium vorschreibt. Nicht unbedingt der Widerstand des Lehrers, sondern seine Haltung, die Art und Weise, wie er dieses Programm umsetzt.“

 

Putin besuchte im September 2023 neue Kindergärten und Vorschulen. / Foto © Mikhail Klimentyev/Sputnik Russia/imago images

Wo die Einen eine Möglichkeit zum Manövrieren sehen, führen die Anderen Befehle von oben aus. So fand Ende April in der Region Krasnodar eine Militärparade statt, an der mehrere Kindergärten aus Jeisk teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Motto Wir sind die Urenkel der großen Sieger. Zusätzlich zu den russischen Trikoloren wehte eine rote Flagge mit Hammer und Sichel. Zur Blasmusik marschierten Kinder und Erzieher in den Uniformen der verschiedenen Truppen: Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Alle Kinder trugen Uniformen. Bürgermeister Roman Bublik verkündete „den Beginn einer glorreichen Tradition“ – die Parade soll nun jährlich stattfinden.

Julia Galjamina, Politikerin, Bürgerrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Bewegung Mjagkaja sila (dt. Soft Power), glaubt, dass auf das Denken in der frühen Kindheit weniger die Propaganda als die Atmosphäre wirkt. Wenn beispielsweise im Kindergarten ein Kult des Sterbens und Tötens propagiert wird, dann beeinflusst das die moralische Entwicklung des Kindes negativ.

Im September 2022 hat die Leitung des Kindergartens Mosaika (dt. Mosaik) in der Region Perm 98.600 Rubel in die Ausarbeitung, Herstellung und Installation von Plakaten und sogenannten patriotischen Ecken im öffentlichen Raum gesteckt. In diesen Ecken kann man die russische Symbolik kennenlernen oder Postkarten aus seiner Heimatregion bewundern.

„Etwas von der Propaganda wird ganz sicher bei den Kindern hängenbleiben“, meint Psychologin Anastassija Rubzowa. „Was genau, können wir nicht vorhersehen. Wir wissen nur, dass Kinder noch mehr als Erwachsene zu Fragmentierung, Polarisierung oder Schwarzweißdenken neigen. Für sie existiert nur der gute Held oder der schlechte Bösewicht, da gibt es keine Grautöne. Die Propaganda festigt diese Polarisierung. Kinder, die damit aufwachsen, neigen auch später dazu, die Realität stark zu vereinfachen, sie künstlich in Schwarz und Weiß aufzuteilen.“

Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden

Jewgeni Roisman, ehemals Bürgermeister von Jekaterinburg und nun politischer Häftling, sagte bereits 2017 zum Thema patriotische Erziehung: „Plötzlich meinen alle, uns Patriotismus beibringen zu müssen … Sie laufen rum und erklären: Wir sorgen für die militär-patriotische Erziehung der Jugend. Meine Guten, wollt ihr nicht lieber für eine pazifistisch-patriotische Erziehung der Jugend sorgen? Nein, wollen sie nicht, denn Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden. Das ist eine totale Verdrehung: Sie reden von Heimatliebe, dabei wollen sie in Wirklichkeit kämpfen.“

Nach Ansicht der Psychologin Anastassija Rubzowa wirkt sich Krieg auf Kinder wie auf Erwachsene immer destruktiv aus. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine merkt Rubzowa einen sprunghaften Anstieg der Angst. Man wisse nicht, welche Gefahren wann und wo lauern. Die Eltern würden dieses Gefühl auf die Kinder übertragen, die unruhiger werden, schlechter schlafen, schlechter lernen und öfter krank werden, was wiederum den Eltern noch mehr Kummer bereite. Das sei eine Endlos-Spirale.

Die Situation bedrohe nicht nur die Sicherheit der Eltern, sondern auch den psychisch-emotionalen Zustand des Kindes, bei dem die Botschaft ankommt, seine Familie wäre von mehreren feindlichen Ringen umzingelt. Rubzowa erklärt: „Der innere Kreis besteht aus Bekannten, Lehrern, Klassenkameraden, Arbeitskollegen der Eltern, es gibt aber auch einen äußeren Kreis – das ist wohl der furchterregende Westen, das böse Amerika, von dem alle im Fernsehen reden. Das Kind wächst mit dem Weltbild auf: ‚Die Welt ist ein furchteinflößender Ort, an dem man keine Freunde hat.‘ So wird es kaum zu einem kooperativen Erwachsenen werden.“

„Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist. Und wenn wir unsere Kinder auf tickenden Zeitbomben aufwachsen lassen, werden sie traumatisiert sein. Deshalb müssen wir als Erwachsene die Verantwortung dafür übernehmen und die Tragödie, die in der Zukunft passieren kann, minimieren“, sagt Julia Galjamina.

Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist

Was können Eltern tun, um ihre Kinder bestmöglich von der Propaganda abzuschirmen? Auf diese Frage hat 7x7 unterschiedliche Antworten bekommen.

„In den letzten Monaten habe ich öfter ein Beispiel angeführt: Eine Frau kommt von der Arbeit nach Hause und sagt zu ihrem Mann: ‚Mein Chef belästigt mich sexuell. Er hat mir unter den Rock gefasst, aber nur ein paar Mal. Sonst ist er ein netter Chef, und das Büro ist gleich über die Straße.‘ Ich würde mich wundern, wenn der Mann erwidert: ‚Bleib da, sag nichts, es ist doch so praktisch.‘ Warum sagen wir über unsere Kinder: ‚Es wurde ja nur einmal vergewaltigt, ist doch nicht so schlimm, dafür ist der Kindergarten gleich um die Ecke.‘ So kann das doch nicht funktionieren“, sagt Dima Sizer.

Julja Galjamina äußert sich weniger kategorisch. Sie meint, Eltern können und sollen ihren Kindern erklären, dass Menschen eben verschiedene Meinungen haben und sie nicht einverstanden sind mit dem, was im Kindergarten gesagt wird.

Zum 9. Mai bereitet Polinas Kindergartengruppe ein Konzert vor. Diesmal hat die Erzieherin Olga gefragt, ob Polina daran teilnehmen will, und Olga auf ihren Wunsch hin das Programm gezeigt. Die Kostüme sind diesmal keine Tarnanzüge und Fliegermützen, dafür ist ein „Georgsbändchen am Revers (links)“ obligatorisch.

„Das geht halbwegs in Ordnung, keine Zetts und kein Moshem powtorit (dt. Wir können das wiederholen). Ich habe zugestimmt“, sagt Olga.

In Polinas Kindergarten hängen wenigstens keine Zetts, meint Olga. Im Kindergarten ihres Sohnes, den er bis letztes Jahr besuchte, hingen ausgedruckte Plakate mit Schriftzügen wie Sa swoich (dt. Für die Unseren) oder Swoich ne brossajem (dt. Wir lassen die Unseren nicht im Stich). Olga vermutet, dass es eine Initiative der Kindergartenleitung war – die Plakate hingen nicht nur im Gruppenraum, sondern auch am Eingang und im ganzen Gebäude.

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Bantiki – Haarschleifen

Der erste Schultag am 1. September war ein wichtiger Tag im Leben sowjetischer Kinder und wurde im ganzen Land als festlicher Tag begangen. In der Stalinzeit zeigten Gemälde und Postkarten die Kinder auf dem Weg ins neue Schuljahr, mit Schultaschen und Blumensträußen für die Lehrerin. Die von Fotografen zu den rituellen Anlässen am Anfang und Ende des Schuljahres aufgenommenen Fotos sowjetischer Schülerinnen und Schulklassen vermitteln den Eindruck von feierlicher Ordnung. Die Kinder sind in ordentlichen Schuluniformen zu sehen, die Mädchen in weißen Schürzen und mit weißen Haarschleifen – die gegen Ende der Sowjetunion immer größer wurden. 

Unverzichtbar, wenn der Fotograf kam: Die prächtigen weißen Schleifen im Haar der Mädchen / Foto © Konstantin Boronin/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

Die riesigen weißen Haarschleifen sowjetischer Schülerinnen waren Ikonen einer idealisierten sowjetischen Kindheit, die Wohlstand, Fortschritt und Glück ausstrahlte. Alle vorbildlichen kleinen Mädchen in den sowjetischen Bildwelten trugen sie. Die Schleifen fixierten ein Ideal des „süßen kleinen Mädchens“ in Verbindung mit einer behüteten, glücklichen Kindheit.1 

Ikonen einer idealisierten sowjetischen Kindheit

Haarschleifen wurden Ende der 1940er Jahre Teil der sowjetischen Schulkleidung. In der durch die Kriegserfahrungen und Verluste erschütterten Nachkriegs-Sowjetunion war die Schuluniform Teil der Rückkehr zu vertrauten Ordnungen, auch der Geschlechterrollen.2 Schleifen sind dekorativ und fallen auf, egal ob in den Haaren, auf Hüten, an Schuhen oder Kleidern. Sie gelten als weiblich und verspielt.3 Zunächst handelte es sich im Schulkontext um schmale Bänder, die in die Haare geflochten wurden. Aber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Tauwetterzeit wuchsen auch die Haarschleifen zu riesigen Chiffongebilden auf den Köpfen der Mädchen.4 Hier konnten sich gerade bei den Kleinen die Mütter austoben, und es herrschte Konkurrenz. Unverzichtbar waren die Prachtschleifen, wenn der Fotograf kam.

Persönliche Note und eigensinniges Handeln

Die Haarschleife markierte „die moralische Verortung des Subjekts als ‚gutes‘, ‚ordentliches‘, ‚sozialistisches Mädchen‘.“5 Sie anzulegen bedeutete, von einer Sphäre in eine andere zu wechseln, in der bestimmte Regeln galten, die man zumindest äußerlich befolgen musste. Die an sich banalen Haarschleifen bargen damit auch Potenziale, wenn die Mädchen sie richtig einzusetzen verstanden. Sie eröffneten Möglichkeiten für eigensinniges Handeln in der Art, wie und welche Schleife man trug, ob man ohne ging oder sich einfach die Haare kurz schnitt. Mädchen oder auch ihre Eltern konnten damit ausdrücken, wie weit sie dazugehören oder sich abgrenzen wollten. Manche fanden die Ungetüme aus weißem Tüll kleinbürgerlich und kitschig.6 Schon kleine Mädchen lernten also, normative Erwartungen zu erfüllen, ohne die damit einhergehende Disziplinierung zu verinnerlichen.7

Die Haarschleife war, neben Schürze, Manschetten und Kragen, das variabelste Element der sowjetischen Schuluniform für Mädchen. Sie sollte zu besonderen Anlässen weiß, im schulischen Alltag schwarz oder dunkelbraun sein.8 Material, Breite des Bandes und Platzierung waren nicht definiert. Die Bänder konnten breit oder schmal sein, das Material Seide, Kapron, Chiffon oder Atlas. Haarschleifen konnten groß oder klein sein, in die Haare geflochten, am Ende eines Zopfes auf dem Rücken tanzen oder oben auf dem Kopf sitzen. Der Phantasie und modischen Trends waren hier am wenigsten Grenzen gesetzt.9 

Das etwas „Andere“ als Statussymbol

Haarschleifen gehören wie die Blumen für die Lehrerinnen noch heute zu den Bildern des 1. September / Foto © Pjotr Kassin/Kommersant

Schuluniformen dienten der äußeren Disziplinierung und Zähmung der Körper und waren zugleich Teil der politischen Sozialisation. Sie sollten zwar sichtbare soziale Unterschiede auslöschen. Aber von Anfang an war den Schuluniformen das ganze Spektrum der Möglichkeiten von Konformität bis Überschreitung der durch sie definierten Zwänge und Grenzen eingeschrieben.10 Das etwas „Andere“ galt immer als Statussymbol. Das konnten selbst genähte Schürzen sein oder Spitzenkrägen, Manschetten und ganze Uniformen aus anderen Städten und Republiken.11 In Leningrad galt es beispielsweise als besonders schick, eine Uniform aus Riga zu tragen. Das war eine eigensinnige Praxis, die die Grenzen des Erlaubten auslotete und zugleich Teil der Gruppe blieb: Ein anders geschnittenes Kleid wurde als Ausbruch aus der staatlichen Normierung, als Selbstermächtigung empfunden. Im Alltag genügte es, wenn der Gesamteindruck und die Rocklänge stimmten. Sie markierten die Grenzen des Spektrums.12 

In der Alltagsvariante mit dunkler Schürze, Strümpfen und Schleife konnte man spielen und toben, weil Flecken weniger auffielen. Die Festtagsvariante verlangte Disziplin, vorbildliches Auftreten und Mitwirkung bei den offiziellen Ritualen: Für die Klassenfotos waren weiße Strümpfe, Schürze und Schleife Pflicht, wer sie nicht hatte, musste hinten stehen, wo es nicht auffiel, oder sich fehlende Requisiten von einer Parallelklasse ausleihen.13

Essiggeruch und angesengte Haarschleifen

Die Erinnerungen an die Schuluniformen sind untrennbar mit Sinneseindrücken wie dem Geruch nach Essig und versengten Haarschleifen verbunden. Essig brauchte man, um die braunwollenen Schulkleider aufzubügeln, und die Enden der Kapronschleifen wurden angesengt, damit sie nicht ausfransten.14 

Die Erinnerungen an die Haarschleifen sind ambivalent, die Prozedur des mütterlichen Frisierens in der morgendlichen Hektik war für einige von „Sehnsucht, Schmerz, Frustration und Scham begleitet“.15 Auf der anderen Seite standen die Schleifen für erste romantische Gefühle, denn in den ersten Schuljahren weckten sie das Interesse der Jungen, die den Mädchen hinterherrannten und sie herunterrissen – oder die Trägerinnen dieser Zeichen weiblicher Anmut aus der Ferne stumm verehrten. Vielleicht weckt deshalb der Anblick der Haarschleifen auf den Fotos bei vielen nostalgische Erinnerungen an die behütete sowjetische Kindheit. In den „wilden 1990er“ Jahren boten die großen Haarschleifen als Symbol dieser Kindheit den Erwachsenen einen imaginären Zufluchtsort.16 Schließlich überstanden die Haarschleifen auch die offizielle Abschaffung der Schuluniformen 1992 und gehören wie die Blumen für die Lehrerinnen auch heute noch zu den Bildern des 1. September.


1.Millei, Zsuzsa/Piattoeva, Nelli /Silova, Iveta and Aydarova, Elena (2018): Hair Bows and Uniforms: Entangled Politics in Children’s Everyday Lives, in: Silova, Iveta/Piattoeva, Nelli/Millei, Zsuzsa (eds.): Childhood and Schooling in (Post)Socialist Societies, Cham, S. 145-162, S. 151-152 
2.Leont’eva, Svetlana (2008): Sovetskaja školnaja forma: Kanon i povsednevnost, in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 47–79, S. 50 und 52 
3.Rudova, Larissa /Balina, Marina (2008): Razmyšlenija o škol’nom forme (po materialam proizvedenij detskoj i avtobiografičeskoj literatury), in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 25–47, S.  41-42 zu den Schleifen 
4.Millei et al., S. 151 
5.Millei et al., S. 154 
6.Kelly, Catriona (2007): Children’s World: Growing up in Russia 1890-1991, New Haven, London, S. 379-380 
7.Millei et al., S. 145-162 
8.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40 
9.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40-41 
10.Craik, Jennifer (2005): Uniforms Exposed: From Conformity to Transgression, Oxford; vgl. auch die bei de La Fe, Loraine (2013): Empire's Children: Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami 
11.ebd., S. 58 
12.grundlegend dazu Rudova/ Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme und Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma 
13.Millei et al., S.155 
14.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 67 
15.Millei et al., S. 153 
16.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 41 
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