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Sowjetische Schuluniformen – Normierung und Eigensinn

Ehemalige Sowjetbürgerinnen und -Bürger erinnern sich an die sowjetischen Schuluniformen, an die kratzenden Wollkleider, die roten Halstücher, die Gerüche, das Nähen der Schürzen, die Haarschleifen. Doch wovon sprechen sie eigentlich, wenn sie von „der Uniform“ reden? Ein Blick auf die Geschichte dieser Einheitskleidung zeigt, dass sie keine war.

Rückblickend wird die Uniform als Überstülpen staatlicher Werte und der Umgang damit häufig als Kampf um das Recht auf individuelle Freiheiten dargestellt.1 Das verstellt den Blick auf die breite Akzeptanz und das Spiel mit Varianten entlang der Grenzen, das Ansehen innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen brachte: Man konnte Uniformen aus anderen Republiken anziehen, mit den Accessoires spielen und die Uniform auf lässige Weise tragen, um Coolness zu demonstrieren und die Lehrer zu provozieren. 

Im sowjetischen Alltag war die Uniform, trotz der lebhaften sinnlichen Erinnerungen an sie, nie ganz einheitlich: Es gab regionale Unterschiede, die Einführung neuer Uniformen verlief zeitlich versetzt, es gab Festtags- und Alltagsvarianten, und in Zeiten des Defizits war die Uniform für den Alltag einfach zu schade oder schlicht nicht aufzutreiben. Die Schuluniform überlagerte sich mit der Pionieruniform, weil das rote Halstuch oft auch zur Schulkleidung getragen wurde. Außerdem musste sowieso häufig improvisiert werden, und die Aneignung der sperrigen Uniform führte auch ein Stück weit zu deren Individualisierung – sei es durch andere Knöpfe, unterschiedlichen Schnitt oder die Lage der Taschen. Hinzu kamen freie Elemente wie Krägen, Manschetten und Haarbänder bei den Mädchen. Gerade diese kleinen Accessoires waren jedoch neben der Schürze zentrale Kennzeichen der Uniform. Im Ergebnis war keine Uniform genau wie die andere. Im Alltag war wichtig, dass der Gesamteindruck und die Rocklänge stimmten.2

Die chronologische Erzählung von der Abschaffung der „bourgeoisen“ Schuluniformen im Jahr 1918 über die Wiedereinführung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu mehrfachen Wechseln vor allem der männlichen Uniformen löst sich bei Betrachtung der Dokumentenlage auf: Es gab keine zentralen Dekrete und GOST-Prüfstellen-Dokumente zu den sowjetischen Schuluniformen. Die Alltagspraktiken zeigen ein Spektrum paralleler Vorstellungen und Entwicklungen. 

Kleine Chronologie der Schuluniformen

In den 1920er und 1930er Jahren gab es zwar keine Uniformen, wohl aber Vorstellungen von einer für die Schule angemessenen Kleidung. Diese Vorstellungen waren von vorrevolutionären Traditionen geprägt. Zugleich waren eine gezielte Hygienepolitik und bestimmte Ordnungsvorstellungen Teil des sowjetischen Modernisierungsprojektes.3 Die materielle Situation ließ an eine flächendeckende Einführung einheitlicher Kleidung nicht denken. Dennoch gab es Normvorstellungen, und die politischen Trends forderten eine sichtbare Zuweisung von traditionellen Geschlechterrollen. Beides verfestigte sich dann bereits Mitte der 1930er Jahre, als die Schürze für Mädchen zunächst an Moskauer Schulen „üblich“ wurde.4 

Nach 1945, also nach den Kriegserfahrungen und Millionen Toten bedeuteten die Schuluniformen mit ihrer klaren geschlechtsspezifischen Ausprägung einen Schritt zurück zu vertrauten Ordnungen.5 Änderungen konnten wegen der Mangelsituation nur nach und nach umgesetzt werden: Die in Moskau 1945 für Erstklässlerinnen eingeführte Uniform setzte sich in den Regionen erst rund zehn Jahre später durch. 
Die Mädchen trugen dunkelbraune Kleider mit weißen Schürzen an Feiertagen und dunklen an Arbeitstagen, dazu Kragen, Manschetten und Haarschleifen. Kragen und Schürze wurden in der Schule über dem einfachen dunklen Kleid getragen und verbanden die Mädchen symbolisch mit der häuslichen Sphäre: Der chalat (Kittelschürze) war und ist ein Kleidungsstück, das sowjetische Frauen bei der Hausarbeit tragen.6 Die Schürze stellte auch den Bezug zu pflegerischen Tätigkeiten her. Die sowjetische Schuluniform ähnelte derjenigen vorrevolutionärer Mädchengymnasien.

Schürzen und Schleifen für die Mädchen, Militärjacken für die Jungs

In den unteren Klassen der Moskauer Jungenschulen wurde 1950–51 eine gegürtete Militärjacke (gimnastjorka) mit Stehkragen als Uniform eingeführt.7 Unionsweit gab es einheitliche Schuluniformen erst ab 1954. Während des Tauwetters wurden sie 1962 durch einen grauen Anzug ersetzt. Auf Klassenfotos der folgenden Jahre trugen einige noch die alte gimnastjorka, andere bereits den grauen Anzug.8 Knapp zehn Jahre später wurde dieser „Bürokratenanzug“ von einer sportlichen kurzen Jacke und Hosen in Blau abgelöst.9 Regionale Unterschiede verstärkten sich bis Ende der 1970er Jahre: In Taschkent gab es zeitweise eine blaue Sommeruniform mit kurzen Ärmeln,  in Usbekistan trugen die Mädchen lange Röcke. In Estland gab es für die Jungen einen schwarzen Anzug mit blauem Hemd, Ende der 1970er Jahre sogar Jeanshosen und Jeanshemd als Schuluniform. Verschiedene Hersteller legten auch bei den Uniformen in der RSFSR die Details unterschiedlich aus, so dass es zu sichtbaren Differenzen kam. 

Schul- und Pionieruniformen sollten einen sowjetischen Habitus schaffen. Die Kinder machten die Uniformen aber auch zum Spielfeld eigensinnigen Handelns / Foto © Konstantin Boronin/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

Zur Uniform wurde schon ab den 1920er Jahren das Pionierhalstuch getragen, auch von den Mädchen. Ab den 1950er Jahren, als die Mitgliedschaft bei den Pionieren quasi obligatorisch war, war es offizieller Teil der Schuluniform. Das Tragen oder Nichttragen des Halstuches galt als Zeichen von Konformismus oder Auflehnung.10

Normierung und Eigensinn

Uniformen stiften Gemeinschaft, grenzen die Gruppe nach außen ab und bezeichnen innere Hierarchien. Sie dienen der äußeren Disziplinierung und Zähmung der Körper und haben Einfluss auf das Verhalten. Schul- und Pionieruniformen sollten einen sowjetischen Habitus schaffen.11 Die Kinder machten die Uniformen aber auch zum Spielfeld eigensinnigen Handelns. Mit der Einheitskleidung setzten Prozesse der inneren Abgrenzung und Individualisierung ein, etwa durch Details. Dabei half der Umstand, dass es jeweils um den Gesamteindruck einheitlicher Kleidung ging und einzelne Elemente der Uniformen variabel waren.

Die Mädchenuniform umfasste zahlreiche Varianten von Kleid mit Schürze, Manschetten und Kragen. Die Haarschleife sollte weiß, schwarz oder dunkelbraun sein,12 aber in Bezug auf Material, Breite des Bandes und Platzierung war sie nicht definiert. Das Kleid konnte tailliert geschnitten sein, die Form des Rockes variierte ebenso wie Sitz und Form der Taschen. Erinnert werden neben der Pflege der Uniform und den damit verbundenen Gerüchen auch die Umstände ihres Erwerbs oder ihrer Herstellung. Wichtig waren kleine Besonderheiten. Das etwas „Andere“ galt immer als Statussymbol, etwa Accessoires oder Uniformen aus anderen Städten und Republiken.13 Diese eigensinnige Praxis lotete die Grenzen des Erlaubten aus: Ein anders geschnittenes Kleid wurde als Ausbruch aus der staatlichen Normierung und als Selbstermächtigung empfunden. Man konnte das System mit seinen eigenen Regeln überlisten, indem man sich der Direktorin gegenüber mit dem Hinweis verteidigte, das sei eine sowjetische Schuluniform, nur eben aus Riga.

Auch die Schürzen waren in Stoffqualität und Zuschnitt Statusobjekte. Lage und Art der Taschen, auch die Breite der Träger unterlagen modischen Trends. Grundlage solcher Distinktionspraktiken war das sowjetische System von Produktion und Handel mit seinen Defiziten und lokalen Versorgungsunterschieden. Es gab exklusive Geschäfte wie das Detski Mir oder Berjoska sowie die Möglichkeit, eine Schneiderin zu engagieren. Viele Mütter und ältere Schülerinnen nähten die Schürzen selbst.14 Die Schürze wurde in den 1970er Jahren zunehmend als unzeitgemäß empfunden. Versuche älterer Schülerinnen, ohne zu gehen, konnten noch in der späten Breshnew-Zeit Sanktionen nach sich ziehen.15 Erst 1984 gab es eine Änderung der Mädchenuniform von Braun zu Dunkelblau und vom Kleid zu Rock, Jacke und Weste. Und mit der Perestroika war bis Ende der 1980er Jahre auf breiter Front der Widerstand gegen die Uniformen gewachsen. 

Von Anfang an war den sowjetischen Schuluniformen das ganze Spektrum der Möglichkeiten von Konformität bis Überschreitung der durch sie definierten Zwänge und Grenzen eingeschrieben.16 Die Uniform ist Teil des Prozesses, den Körper zu zähmen, die äußeren mit inneren Mechanismen der Kontrolle zu verbinden. Gerade der kindliche Körper ist durch die Entwicklung, durch Wachstum und Veränderung der Proportionen starken Wandlungsprozessen ausgesetzt. Selbst die Uniform konnte dem Auge die Heterogenität des kindlichen Kollektivs nicht verbergen. Die ungezähmt wachsenden Körper sprengten sie. Kinder in zu kleinen oder abgenutzten Uniformen glichen – gewollt oder ungewollt – den negativen Helden der Kinderliteratur, den besprisornyje und den „Wiederholern“ in ihren abgewetzten, verblichenen, unordentlichen Uniformen.17

Als die Uniform uncool wurde

Innerhalb der Grenzen des Spektrums des „Gesamteindrucks“ und zwischen Schul- und Pionieruniform war einiges möglich. Als die Uniform uncool wurde, ließen Mädchen die Schürze weg, Jungen trugen zivile Hosen zur Jacke. Erst gegen Ende der 1980er Jahre wurden die Grenzen wirklich anarchisch durch Praktiken des Punk und der Zerstörung überschritten. Schließlich wurde die Uniform ganz ins Lächerliche gezogen und gegen Schulschluss im Sinn der Punk-Mode abgeändert, Ärmel herausgetrennt, Sprüche aufgemalt, Schürzen zerrissen und Röcke extrem gekürzt. Die Abschaffung der sowjetischen Schuluniformen 1992 bedeutete nicht für alle die lang ersehnte Freiheit:  Viele Kinder sahen plötzlich, „wie arm wir waren“. Viele Eltern und Lehrkräfte bedauerten daher den Schritt. 

Die sowjetischen Schuluniformen haben ein Nachleben in der Gegenwart. Die Mädchenuniform dient als sexy Party-Garderobe für Lolitas.18 Aber auch als Teil der Schulfolklore tauchen die weißen Schürzen und Haarschleifen weiterhin auf. Denn der 1. September wird in Russland und auch in der Ukraine als „Tag des Wissens“ feierlich begangen. Viele Kinder erscheinen an ihrem ersten Schultag in sowjetisch inspirierten Uniformen und mit Blumen für die Lehrerin.


1.Leont’eva, Svetlana (2008): Sovetskaja školnaja forma: Kanon i povsednevnost, in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 47–79, S. 48 
2.Grundlegend dazu Rudova, Larissa / Balina, Marina (2008): Razmyšlenija o škol’nom forme (po materialam proizvedenij detskoj i avtobiografičeskoj literatury), in: Teorija Mody. Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 25–46, und Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma 
3.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 50 
4.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 40 
5.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 50 und 52 
6.Vainshtein, Ol’ga  (1996): Female Fashion, Soviet Style, in: Goscilo, Helena /Holmgren, Beth (Hrsg.): Russia – Women – Culture, Bloomington, S. 64–93 
7.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 50f. 
8.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 52 
9.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 29 ff. 
10.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 55 
11.Zu Uniformen und Habitus vgl. Craik, Jennifer (2005): Uniforms Exposed: From Conformity to Transgression, Oxford; vgl. auch de La Fe, Loraine  (2013): Empire's Children: Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami 
12.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 40 
13.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 58 
14.Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 60-62 
15.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 30 
16.Craik, Uniforms Exposed 
17.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 38f. 
18.Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 30 
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