Sechs Jahre, nachdem die Diskussionen hochgekocht waren, wie nützlich oder schädlich das „Einheitsgeschichtsschulbuch“ sei, stellt sich heraus, dass diese Schwalbe noch keinen Sommer macht: Selbst wenn es nun [drei] empfohlene Lehrbücher gibt, können den Schülern unverfälschte Versionen von Geschichte vermittelt werden – alles hängt allein von den Neigungen und dem Engagement des Lehrers und von seinen Methodikbüchern ab. Und gegen Neigungen und Methodiken ist, wie Ogonjok herausfand, bislang noch kein Kontroll-Kraut gewachsen.
Unerwarteter Effekt
„Die konzeptuelle Ausarbeitung eines neuen Lehr- und Methodik-Kompendiums zur russischen Geschichte sollte einen Konsens von professionellen Historikern, Lehrern und dem Staat festschreiben“, erläutert Galina Swerewa, Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kulturtheorie der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen UniversitätDie Rossiski gossudarstwenny gumanitarny Uniwersitet (kurz RGGU, dt. „Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität“) ist eine 1991 gegründete Universität in Moskau. Sie hat mehrere Zweigstellen, insgesamt sind rund 30.000 Studenten an der RGGU eingeschrieben. 2014 deckte die Online-Community Dissernet systematische Plagiatsfälle an der Uni auf. Laut Kritikern verlief die Uni-interne Aufklärung der Fälle inkonsequent. 2016 kam es an der RGGU zu einem erneuten Skandal, als mehreren Professoren gekündigt wurde. Die Hintergründe dieser Entlassungswelle blieben unklar. (RGGU). „2016 bildeten sich die Konturen einer gemeinsamen Position heraus: Zum einen war man übereingekommen, dass sich eine allgemeingültige Vorstellung über die wichtigsten Entwicklungsetappen des russischen Staates herstellen lässt, und dass – aufgepasst! – ,die verbreitetsten Ansichten in Zusammenhang gesetzt werden können‘ mit den wichtigsten Ereignissen unserer Geschichte. Zweitens einigte man sich darauf, dass man einander ausschließende Interpretationsstränge historischer Ereignisse durchaus vermeiden könne.
Es gehörte großes Geschick dazu, auf dieser Grundlage ein Lehrbuch zu verfassen, schließlich hatten die Autoren alles in „Zusammenhang“ zu bringen und Widersprüche auszuschließen. Was ist dabei herausgekommen? Eine Art Telefonbuch, ein leerer Raum von Text mit einer Aneinanderreihung von Namen, Daten und ‚Standpunkten‘. Also musste man sich überlegen, wie die Schüler zu unterrichten wären. Und hier kam die Methodik ins Spiel …“
Vieles hängt nun vom Lehrer ab
„In nächster Zeit werden im Internet und in großer Auflage gedruckte Methodik-Hefte erscheinen, zu jeder der 20 ,schwierigen Fragen unserer Geschichte‘. Sie sind von unserem Team entwickelt worden“, berichtet Alexander Tschubarjan, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung neuer Lehrbuchrichtlinien. „Ein Lehrer kann natürlich auch andere Methodik-Hefte nutzen, die ihm interessanter erscheinen. Wir können ihm etwas empfehlen. Wir können aber nicht verfolgen, ob er die Empfehlungen umsetzt. Außerdem, das möchte ich hervorheben, haben die neuen Standards für den Geschichtsunterricht in der Schule dazu geführt, dass sich die Rolle des Schulbuches im Unterrichtsgeschehen erheblich verringert hat, während gleichzeitig die Rolle des Lehrers stärker geworden ist. Von dessen Einschätzungen hängt nun sehr viel ab.“
Wenn man das jemandem 2013 gesagt hätte, dass die Idee eines Einheitsgeschichtslehrbuches den überraschenden Effekt hat, dass die „Interpretations-Anforderung“ an den Lehrer steigt, hätte einem das kaum jemand geglaubt.
Zu Beginn des Projekts hatten alle auf das vereinheitlichende Potenzial gehofft (und es gefürchtet). In Wirklichkeit hat sich das Einheitslehrbuch weniger als ein hochgezogener Damm erwiesen denn als Schutzschirm, der die angsteinflößende Vielfalt an Sichtweisen auf die Geschichte Russlands verdecken soll.
Inspiziert man die didaktischen Materialien zur Geschichte, die in einer großen Buchhandlung zur Auswahl stehen, so lassen sie sich (grob) in vier Gruppen unterteilen: in „vermittelnde“, prosowjetische, monarchistische und „aktuell politische“ Werke. In der Regel gelten Lehrer und auch Hochschulstudenten als Leserschaft dieser Lehrwerke, doch können sie praktisch an jeden adressiert sein. Die Reichweite des Vertriebs hängt eher vom Lobbypotenzial ihrer Macher ab.
Diplomatische Geschichtsschreibung
Eines der respekteinflößendsten Werke sind die Schwierigen Fragen der Geschichte Russlands: Vom 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts eines Autorenkollektivs der Moskauer Pädagogischen Hochschule. Gattungsmerkmal der „vermittelnd“ ausgerichteten Lehrmaterialien ist die Formulierung „einerseits … andererseits“. So begegnen uns in dem weniger bekannten Begleitbuch von Juri Schestakow, einem Historiker einer Außenstelle der Staatlichen Technischen Don-Universität (das Buch hat immerhin zwei Neuauflagen erfahren), meisterlich geschmiedete Wechselwirkungen, die die Mobilisierung in den 1930er Jahren gehabt hätte: „Einerseits zwang dieser Weg dem Volk einen hohen Preis auf (MassenrepressionenAls Großen Terror bezeichnet man die staatlichen Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung zwischen 1936 und 1938. Der Begriff wurde durch die gleichnamige Monographie des britischen Historikers Robert Conquest geprägt. Während des Großen Terrors wurden Schätzungen zufolge rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, etwa 680.000 von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Die Repressionen erfolgten in mehreren Wellen. Waren zunächst vor allem hohe Parteikader betroffen, gerieten im Laufe der Zeit immer neue Gesellschaftsgruppen ins Visier der Sicherheitsorgane. Eine juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen fand bis heute nicht statt. Mehr dazu in unserer Gnose , LeibeigenschaftAls die Lebensmittelversorgung in der noch jungen und bürgerkriegsgebeutelten Sowjetunion immer kritischer wird, beschließt Stalin 1929 die Kollektivierung der Landwirtschaft: Die Bauern werden enteignet und ihr Besitz in staatlichen Kolchosen zusammengeschlossen. In der Folge kam es insbesondere ab 1932/33 zu einer der größten europäischen Hungersnöte mit bis zu sechs Millionen Opfern. Mehr dazu in unserer Gnose in den KolchosenDas Wort bezeichnete in der Sowjetunion eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Es setzt sich zusammen aus den Anfängen der Wörter „kollektiv“ (kollektiwny) und „Wirtschaft/Haushalt“ (chosjaistwo). Seit 1929 wurde die Landwirtschaft mit Zwangskollektivierungen in Kolchosen organisiert. Die Betriebe waren formal selbstverwaltet, die Produktionsmittel gehörten dem Kollektiv. Die Leiter der Kolchosen wurden allerdings von der Partei eingesetzt, und der Boden gehörte dem Staat. , niedriger Lebensstandard, fehlende bürgerliche Freiheiten und so weiter). Andererseits waren die sozialen Kosten teilweise niedriger als in den Ländern mit Marktwirtschaft (fehlende Arbeitslosigkeit, kostenloses Bildungs– und Gesundheitssystem, geringe Kommunalabgaben, garantiertes Konsum-Minimum und so weiter).“
Die rote Geschichtsschreibung
In den prosowjetisch ausgerichtetender Begleitbüchern sind alle Schattierungen des Roten vertreten, von dubiosen Werken bis hin zu wissenschaftlich anerkannten Arbeiten wie beispielsweise denen des Historikers Lennor OlschtynskiLennor Olschtynski (geb. 1926) ist ein russischer Historiker und Kriegsveteran. Er diente insgesamt 36 Jahre in der Sowjetischen Marine. Nach seiner Dissertation 1976 lehrte er als Dozent an der Akademie für Militärwissenschaften in Leningrad. Heute lehrt er als Professor an der Fakultät für Geschichts- und Kulturwissenschaften der Staatlichen Universität für Lebensmittelproduktion in Moskau. Er verfasste zahlreiche Arbeiten zur russisch-sowjetischen Geschichte sowie einige Lehrbücher für Studierende und SchülerInnen höherer Klassen. .
Als kleines Stilbeispiel mag das im Internet intensiv beworbene Material von Jewgeni Spizyn dienen, einem „Geschichtslehrer mit 20-jähriger Berufserfahrung“, der die Herausgabe seines mehrbändigen Werkes über Crowdfunding finanzierte:
„Was die sogenannten ErschießungslistenAls Stalinsche Erschießungslisten werden Verzeichnisse mit Personen bezeichnet, die laut Stalin oder anderen Mitgliedern des Politbüros verurteilt werden mussten. Laut Menschenrechtsorganisation Memorial waren in diesen Listen insgesamt 45.000 Menschen aufgeführt, die meisten von ihnen wurden erschossen. anbelangt, so läuft hier eine ganz direkte Fälschung seitens sämtlicher eingefleischter Antistalinisten“, erklärt der Autor. „[…] Es hat keinerlei persönliche und konkrete Anweisungen zur Erschießung bestimmter Menschen gegeben, weder durch Josef Stalin, noch durch dessen engste MitstreiterStalins Henker Woher rekrutierte die Maschinerie des Großen Terrors unter Stalin ihre Täter? Welchen Einfluss hat die Öffnung von Archiven in der Ukraine auf den Diskurs in Russland? Und wie soll die Gesellschaft umgehen mit Tätern, die selbst zum Opfer wurden? Der Nowosibirsker Historiker Alexej Tepljakow im Interview mit der Novaya Gazeta. ; all diese Menschen wurden von Gerichten zur Höchststrafe [der TodesstrafeBrutale und öffentliche Hinrichtungen waren im Russischen Reich Realität. Nach der Oktoberrevolution erreichten die Hinrichtungen politisch inhaftierter Gefangener unter Stalin ihren zahlenmäßigen Höhepunkt. Auch nach dessen Tod wurde die Todesstrafe in der Sowjetunion weiterhin praktiziert. Erst 1996 wurde sie im Zuge von Russlands Eintritt in den Europarat durch ein von Boris Jelzin ausgesprochenes Todesstrafen-Moratorium ausgesetzt und 1999 durch das Verfassungsgericht offiziell verboten. Laut einer aktuellen Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums befürworten 49 Prozent der Russen nach wie vor die Todesstrafe, 40 Prozent der Befragten sprachen sich gegen sie aus. – dek] für Verbrechen verurteilt, die im Zuge einer gerichtlichen Untersuchung nachgewiesen worden waren.“
Die monarchische Geschichtsschreibung
Die Monarchisten, die zunächst gewissenhaft und gebildet durch Bücher des Historikers Andrej SubowAndrej Subow (geb. 1952) ist Historiker, Politik- und Religionswissenschaftler. Er lehrte am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), wurde jedoch aufgrund seiner Kritik an der Krim-Annexion im März 2014 entlassen. Zwar wurde die Kündigung kurze Zeit später annulliert, sein Arbeitsvertrag jedoch im Juli 2014 nicht verlängert. Bei der Dumawahl im September 2016 kandidierte er für die Partei PARNAS. hervorgetreten waren, melden sich seit dem vergangenen Jahr lauter zu Wort. Die unlängst gegründete Gesellschaft für historische Bildung Doppelköpfiger AdlerDer Doppeladler bildet seit 1993 das Staatswappen Russlands. Sein Aufkommen kann für das 15. Jahrhundert belegt werden. Als Symbol stellt der russische Doppeladler Bezüge zum vorrevolutionären Russland her. Woran seine Herkunft genau geknüpft ist, ist in der Forschung umstritten. Eine anerkannte Theorie unter westlichen Wissenschaftlern ist, er habe sich am Habsburgerreich als Vorbild orientiert. Daneben gehen andere Ansätze von byzantinischen Wurzeln aus. (Initiator und Spiritus rector der Gesellschaft ist Konstantin MalofejewKonstantin Malofejew (geb. 1974) ist ein russischer Oligarch, sein Investmentfonds Marshall Capital Partners hält unter anderem eine 10,7 prozentige Beteiligung an Rostelekom – dem größten Breitbandanbieter des Landes. Malofejew gilt als streng konservativ und religiös, er bezeichnet sich selbst als „orthodoxen Monarchisten“. Laut Medienberichten unterstützte die von ihm gegründete Stiftung St. Basilius der Große 2014 die französische Partei Front National. Malofejew betreibt auch Zargrad – einen russischen Fernsehkanal mit einer streng konservativen und antiwestlichen Ausrichtung., der Besitzer des Fernsehsenders ZargradZargrad ist ein russischer Fernsehkanal mit einer streng konservativen und religiös-orthodoxen Ausrichtung. Er wurde 2014 als Online-Sender gegründet und erlangte nach eigener Angabe binnen weniger Wochen eine Reichweite von über vier Millionen Zuschauern. Leiter und Mäzen des Senders ist der russische Oligarch Konstantin Malofejew (geb. 1974). Er bezeichnet sich als „orthodoxen Monarchisten“ und Anhänger einer „neurussischen“ Expansion Russlands. Dabei bezieht er sich auf das ehemalige Zarenreich. Bei dem Namen Zargrad handelt es sich um eine ältere Bezeichnung der Stadt Konstantinopel – der Heimat des russisch-orthodoxen Glaubens. ) hat unter dem Titel Schwierige Fragen unserer Geschichte ihr eigenes Lehrwerk veröffentlicht. Herausgeber ist Dimitri Wolodichin, Professor an der Historischen Fakultät der MGUDie Staatliche Universität Moskau ist eine klassische Volluniversität. Sie ist nicht nur die älteste, sondern auch die wichtigste und renommierteste Hochschule Russlands. Abgesehen von ihrer unangefochtenen Bedeutung für das Bildungssystem spielte sie immer wieder auch politisch eine wichtige Rolle und prägt zudem das architektonische Stadtbild Moskaus. Mehr dazu in unserer Gnose .
Das sowjetische Regime wird in diesem Buch erwartungsgemäß negativ bewertet. Dabei wird als Hauptmerkmal Stalins dessen „tiefer quasireligiöser Fanatismus“ genannt. Und die Untätigkeit des Zaren Nikolaus' IINikolaus II. (1868–1918) war der letzte russische Zar. Der Sohn Alexanders III. regierte von 1894 bis zu seiner erzwungenen Abdankung am 02. (15.) März 1917. Unter seiner Herrschaft verlor Russland nicht nur den Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, sondern erlebte auch die Revolution von 1905, die zur Einführung des ersten russischen Parlaments, der Duma, führte. In der historischen Forschung wird Nikolaus II. oft als eher schwacher und unentschlossener Herrscher dargestellt. Im Juli 1918 wurde er gemeinsam mit seiner Familie von den Bolschewiki ermordet. Im Jahr 2000 wurden er und seine Familie von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Mehr dazu in unserer Gnose . in der Zeit, die heute als „Große russische RevolutionAnspielung auf die offizielle Bezeichnung in der Sowjetunion: „Große sozialistische Oktoberrevolution“. Noch zu Sowjetzeiten galt die Oktoberrevolution als ein Wendepunkt der russischen Geschichte und die Februarrevolution als Brücke zwischen Zarismus und Sozialismus. Im heutigen Lehrbuch werden die Umbrüche aus jenen Jahren und der sich anschließende Bürgerkrieg in dem Begriff „Große russische Revolution“ 1917–1921 zusammengefasst. “ bezeichnet wird, erfährt dort folgende Charakterisierung:
„Wie hätte der Herrscher den Befehl zum Krieg mit seinen eigenen Untertanen geben können? Mit jenen, denen er so viel Kraft und Arbeit gewidmet hat. Die russischen Monarchen betrachteten ihr Volk stets als ihre Kinder, und wie kann der Vater gegen seine Kinder in den Krieg ziehen? Nikolaus II. beschloss, sich selbst zu opfern …“
Eine Präsentation des Lehrbuches hat – folgt man allein den Informationen auf der Website – bereits in der Schule Nr. 41 in Kaluga, in der Schule Nr. 37 in Iwano-Wosnessensk, im Kadetten-CorpsKadettenanstalten sind allgemein bildende Pflichtschulen, die der Vorbereitung auf militärische Karrieren dienen. Sie kamen bereits im 17. Jahrhundert in Russland auf, zurzeit bestehen landesweit rund 80 solcher Bildungsstätten. der KosakenKosaken ist die Bezeichnung einer sozialen Gruppe, die sich teilweise aus dem (para-)militärischen Stand im 15. Jahrhundert formiert hat. Die soziostrukturelle Zusammensetzung früherer Reiterverbände der Kosaken ist nicht klar nachvollziehbar. Im 18. Jahrhundert wurden sie zum großen Teil in die Kavallerieverbände der regulären Armee integriert. Die Wiederbelebung der Tradition nach dem Zerfall der UdSSR wird von oppositionellen Kreisen oft als „folkloristisch“ bzw. „archaisch“ bezeichnet. In den südlichen Regionen Russlands übernehmen Kosaken oft die zweifelhafte Rolle einer Volksmiliz. Es kommt dabei immer wieder zu gewalttätigen Angriffen auf Oppositionspolitiker und Aktivisten, wie z. B. auf Alexej Nawalny oder die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot. in Schachty sowie in einem Dutzend Bibliotheken anderer Städte stattgefunden. Eingeladen waren hierzu „führende Geschichtslehrer“ (den Bibliotheken wurden kostenlos Exemplare des Buches übergeben).
Die offiziöse Geschichtsschreibung
Schließlich sind da noch jene Lehrbücher irgendwie zu benennen, die auf Initiative bekannter Vertreter des russischen Staatsapparates verfasst wurden. Kurz gesagt könnte man sie als „aktuell-politisch“ bezeichnen.
Die Siegerpalme gebührt hier einem Werk, das bereits 2012 entstand und von Wladimir JakuninWladimir Jakunin (geb. 1948) war zwischen 2005 und 2015 Präsident der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Der Antikorruptionsaktivist Alexej Nawalny beschuldigte ihn 2012 der Veruntreuung. 2013 deckte Nawalny Firmen von Jakunins Familie auf, die in Steueroasen registriert waren. Die Enthüllungen hatten aber kein juristisches Nachspiel. , dem Ex-Chef der Russischen Eisenbahn, gesponsert wurde: das Lehrbuch für den Lehrer zur Geschichte Russlands. Herausgeber war Stepan Sulakschin. Das Buch ist durch seine chauvinistische Ausrichtung bekannt und durch Zitate wie:
„Der Große Terror stellte, unter der gegebenen Fragestellung, einen Feldzug nationaler Kräfte gegen die internationalistische Übermacht dar.“
Doch das „offizielle Gesicht“ des aktuellsten Lehrbuches ist natürlich Kulturminister Wladimir MedinskiWladimir Medinski ist ein Politiker der Regierungspartei Einiges Russland. Seit 2012 leitet er das Kulturministerium und fördert dort aktiv einen stetigen Patriotisierungskurs. Mehr dazu in unserer Gnose , unter dessen Redaktion das für Schüler geschriebene Buch Militärgeschichte entstanden ist. Wladimir Solotarjow von der MGU hob als Rezensent die Objektivität der Autoren hervor, die vermieden, von „der Fiktion einer aggressiven sowjetischen Politik am Vorabend des KriegesAls Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte. Mehr dazu in unserer Gnose zu sprechen, […] wie sie bis heute von westlichen und zum Teil von russischen Medien verbreitet wird“.
„Gefährdende“ Geschichtsschreibung
In dieser ganzen Vielfalt von Veröffentlichungen sind natürlich auch Interpretationen der Vergangenheit zu finden, die aus der Ecke der Bürgerrechtler und Liberalen„Liberal“ kann in der russischen Sprache heute vieles bedeuten. Der Begriff hat mehrere Wandlungen durchgemacht und ist nun zumeist negativ besetzt. Oft wird er verwendet, um Menschen vorzuwerfen, sie seien unfähig, schwach und widersetzten sich dem Staat nur, weil sie zu nichts anderem in der Lage seien. Das liberale Credo vom Schutz der Menschen- und Eigentumsrechte, so heißt es oft, lenke davon ab, dass unter liberaler Führung der Staat zugrunde gehen würde. Mehr dazu in unserer Gnose stammen. Doch die sind auf dem Massenmarkt weniger konkurrenzfähig: Allen zu Ohren gekommen ist der Fall des Methodik-Begleitbuches für Lehrer der 9. bis 11. Klasse des Historikers Andrej Suslow aus PermPerm ist mit rund einer Millionen Einwohnern eine Großstadt im Osten des europäischen Teils Russlands und die Hauptstadt des Permski Krai (dt. „Region Perm“). 1723 gegründet, gilt die Stadt als ein großes Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturzentrum Russlands. Zwischen 1940 und 1957 trug die Stadt den Namen Molotow – zu Ehren von Wjatscheslaw Molotow (1890–1986), führender Politiker in der Partei der Bolschewiki und Außenminister der UdSSR unter Stalin. und seiner Kollegin Maria Tscheremnych. Das Buch wurde 2017 per Gericht als gefährlich für die psychische Gesundheit von Kindern eingestuft. Ein Gutachten der Aufsichtsbehörde für Massenkommunikation RoskomnadsorRoskomnadsor ist der Föderale Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation. Die Aufsichtsbehörde besteht seit 2008 und ist dem Ministerium für Kommunikation und Massenmedien zugeordnet. Zu ihren Aufgaben gehört die Medien- und Internetüberwachung. Roskomnadsor indiziert eine Liste mit gesetzwidrigen Medien und Inhalten – unter anderem nahm die Behörde die oppositionellen Portale grani.ru, ej.ru und kasparov.ru in diese Liste auf und blockt somit seit Jahren deren Webseiten in Russland., befand: Aussagen in dem Lehrbuch zum sowjetischen Regime der 1930er Jahre, wie zum Beispiel „die maßgebliche Rolle von Gewalt in der Ideologie und Praxis der BolschewikiDie Bolschewiki (dt. etwa: Mehrheitler) unter Führung von Wladimir Lenin waren zunächst eine Minderheitenfraktion innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Ihren Namen erhielten sie aufgrund eines einmaligen Abstimmungserfolges über die Menschewiki (dt. etwa: Minderheitler) auf einem Parteitag im Jahr 1903. Nach der Parteispaltung im Jahre 1912 konstituierten sie sich als revolutionäre Kaderpartei. Im Oktober 1917 organisierten sie den Sturz der Provisorischen Regierung in Russland und gingen aus dem anschließenden Bürgerkrieg siegreich hervor. “, „die Grausamkeit der bolschewistischen Anführer (Stalin, LeninNach der Februarrevolution, die zur einer Doppelherrschaft von Provisorischer Regierung und Arbeiter- und Soldatensowjet geführt hatte, fixierte sich Lenin auf den gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung. Die bolschewistische Partei wurde zum Anziehungspunkt für alle unzufriedenen, radikalen und anarchistischen Elemente, die durch die revolutionären Ereignisse aufgewühlt worden waren. Nach dem misslungenen Juliaufstand nutzte Lenin die politische Krise und das Machtvakuum aus, um seine Strategie des bewaffneten Aufstandes im Oktober 1917 zu verwirklichen. Mehr dazu in unserer Gnose und andere) gegenüber dem eigenen Volk“ und so weiter – würden einen „schweren, emotionalen Druck der Angst und des Hasses“ reproduzieren und seien daher für Schüler ungeeignet. Das Buch ist nach wie vor im Internet zu finden, von der Website des regionalen Bildungsministeriums ist es aber verschwunden.
Meinung statt Fakten?
Bedeutet dies alles nun, dass die Regierung nach einer „einheitlichen Richtlinie für Lehrbücher“ intensiver auch eine „einheitliche Richtlinie für methodische Begleitmaterialien“ einführen sollte, weil sonst Gefahr und Bürgerkrieg drohen?
„Die Freie Historische GesellschaftWolnoje Istoritscheskoje Obschtschestwo (dt. Freie Historische Gesellschaft) ist ein 2014 gegründeter russischer Historikerverband, der sich zum Ziel setzt, geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten und Geschichtsklitterung zu bekämpfen. machte ihre Position deutlich: Bevor irgendetwas zu ‚Lehrmaterial‘ wird, ist eine Erörterung des Projekts in Fachkreisen erforderlich“, sagt der Historiker Iwan KurillaIwan Kurilla (geb. 1967) ist russischer Historiker und Publizist, der sich hauptsächlich mit der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen, aber auch mit Gedächtniskultur und Geschichtspolitik beschäftigt. Seit 2015 ist er Professor an der Europäischen Universität in St. Petersburg., Professor der Europäischen Universität in Sankt PetersburgDie private Europäische Universität Sankt Petersburg wurde 1994 gegründet. Sie zählt auf dem Gebiet der Sozial- und Geisteswissenschaften zu den besten Lehreinrichtungen Russlands. Die Hochschule bildet vor allem Masterstudenten und Doktoranden aus. Seit 2008 steht die Universität unter Druck von Behörden. Damals wurde sie kurzzeitig wegen unzureichender Brandschutzmaßnahmen geschlossen. Im März 2017 setzte das Sankt Petersburger Schiedsgericht ihre Lehrlizenz aus. Mit einer neuen Lizenz ist die Universität seit 2018 wieder in der Lehre aktiv.. „Es kann keine Rede davon sein, dass Historiker den Meinungspluralismus zerstören wollen: Pluralismus ist gut, aber nur dann, wenn er nicht unter dem Anschein, es handele sich um Fakten, Meinungen aufnötigt.“
Doch anscheinend werden die fachliche Bewertung und das Einvernehmen, das Historiker mit Regierung und Lehrern bei gemeinsamer Betrachtung unserer Vergangenheit herstellen konnten, ziemlich genau durch diejenigen Schulbücher umrissen, die vorhanden sind. Dort bleiben nämlich alle schwierigen Fragen gewissermaßen außen vor. Innerhalb der „schwierigen Fragen“ Meinung von Fakten zu trennen, ist eine überaus komplizierte Aufgabe, die schlichtweg eine Erneuerung nicht nur der Lehrprogramme, sondern auch der allgemeinen Haltung der Gesellschaft zum 20. Jahrhundert erfordern würde.
Es ist es allem Anschein nach unmöglich, zu einem eingängigen, den Schülern vermittelbaren Verhältnis zur Geschichte zu gelangen, ohne bei dem, was mit Russland geschah, die berüchtigte Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen.
Olga MalinowaOlga Malinowa (geb. 1962) ist eine russische Professorin für Politikwissenschaft. Sie lehrt an der National Research University – Higher School of Economics und am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (Moskowski gosudarstwenny institut meshdunarodnych otnoschenii MID Rossii, kurz: MGIMO) – einer Kaderschmiede und Eliteuniversität für die zukünftige politische Elite des Landes. Zu Malinowas Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Identitäts- und Geschichtspolitik Russlands. , Professorin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Higher School of EconomicsDie Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein. Mehr dazu in unserer Gnose in Moskau, meint: „Der Versuch, alle zufriedenzustellen und in der Schule eine einheitliche Version der Geschichte zu entwickeln, konnte wohl kaum gelingen, weil der Konflikt zwischen den Geschichtsinterpretationen sehr viel tiefere Gründe hat.“