Mein Urgroßvater starb, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Wenn ich ihn treffen wollte, dann wurde mir oft gesagt, er sei sehr krank. Wie ich erst später erfuhr, war er in der Tat schwerkrank. Er war Alkoholiker. Er trank die letzten vier oder fünf Jahrzehnte seines Lebens fast jeden Tag.
In einer Arbeiterfamilie in der Provinz des Russischen Reiches 1906 geboren, machte Pjotr Lawrentjew in den 1920er und 1930er Jahren eine steile Karriere, die der OktoberrevolutionAm 25. Oktober (7. November) 1917 stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution eingesetzt wurde. Die Machtübernahme in Petrograd erfolgte ohne viel Blutvergießen, jedoch schloss sich ihr ein mehrjähriger Bürgerkrieg mit Millionen Todesopfern an. Zahlreiche westeuropäische Staaten unterstützten den Widerstand gegen die Bolschewiki auch militärisch. So nahm die Geschichte der UdSSR ihren Anfang. Mehr dazu in unserer Gnose zu verdanken ist. Er fängt an, in einer Fabrik zu arbeiten, tritt bald der kommunistischen Partei bei und studiert am sogenannten Institut der Roten Professur, einer Moskauer Hochschule für die Ausbildung der höchsten ideologischen Parteikräfte. Die soziale Mobilität, die in der Zeit des Großen TerrorsAls Großen Terror bezeichnet man die staatlichen Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung zwischen 1936 und 1938. Der Begriff wurde durch die gleichnamige Monographie des britischen Historikers Robert Conquest geprägt. Während des Großen Terrors wurden Schätzungen zufolge rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, etwa 680.000 von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Die Repressionen erfolgten in mehreren Wellen. Waren zunächst vor allem hohe Parteikader betroffen, gerieten im Laufe der Zeit immer neue Gesellschaftsgruppen ins Visier der Sicherheitsorgane. Eine juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen fand bis heute nicht statt. Mehr dazu in unserer Gnose eher einer schrecklichen sozialen Turbulenz ähnelte, katapultiert ihn in die Höhe, weit nach oben. Nach den Stalinschen SäuberungenAls Stalinsche Säuberungen wird die unter Stalin durchgeführte Repressionswelle gegen mutmaßliche Regime-Feinde bezeichnet. Allein während des Großen Terrors – Höhepunkt der Säuberungswelle – wurden in den Jahren 1937/38 Schätzungen zufolge rund eineinhalb Millionen mutmaßliche Feinde verhaftet. Die Quellenlage ist dürftig, man geht jedoch davon aus, dass etwa 700.000 Menschen exekutiert wurden. Insgesamt fielen den Stalinschen Säuberungen 3 bis 20 Millionen Menschen zum Opfer. 1937–38 wurde er zum Delegierten auf dem 18. Parteitag (1939) und Mitglied der Zentralen Revisionskommission, letztlich zum Ersten Parteisekretär in der Republik KalmückienKalmückien ist eine autonome Republik im südlichen Russland, die im Nordwesten an das Kaspische Meer grenzt. Vorherrschende Religion ist der Buddhismus., einer Region im Süden Russland. Seine Position entsprach in etwa der eines Gouverneurs.
Seine rasche Karriere war schon beeindruckend. Sehr lang dauerte sie allerdings nicht. Während des Großen Vaterländischen KriegsAls Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte. Mehr dazu in unserer Gnose gab es zu viele Opfer in der Bevölkerung Kalmückiens, was anscheinend unter anderem mit einer schlecht organisierten Evakuierung zu tun hatte. Außerdem fand in der Republik ein antibolschewistischer Aufstand statt. 1943 wurde er entlassen und …
Ja, alle dachten, es kommt noch ein „und ...“ und er selbst hat das ganze weitere Leben auf dieses „und“ gewartet. Er hatte erwartet, dass er verhaftet und erschossen wird, wie es mit einem großen Teil seiner Professoren, Mitstudenten, Kollegen, Vorgänger beim Parteitag und in der Revisionskommission geschah. Er wurde aber einfach auf einen niedrigen Posten versetzt, leitete seit 1944 einige Jahre eine Hochschule in der zentralrussischen Provinz. Die Hochschule, an der später meine Mutter, mein Vater und für jeweils ein Jahr auch mein Bruder und ich studierten. Ich erinnere mich noch an den Stolz, als ich am ersten Studientag in die Universität kam und das Foto meines Urgroßvaters an der Wand sah.
Und jetzt, 2018, sehe ich mir auch ein altes Fotos von ihm an: Er sitzt in einem Zimmer, das Licht dringt durch das Fenster, so dass eine Schulter beleuchtet und die zweite im Dunkel bleibt. Er trägt, wie Trotzki, eine runde Brille, die er immer aufhatte, und den sogenannten stalinschen FrentschAls Frentsch wird eine Feldjacke mit weichem Halskragen und großen aufgesetzten Taschen auf der Brust bezeichnet. Solche Jacken wurden in den 1920er bis 1940er Jahren von Führungskorps der Roten Armee getragen. Zurzeit wird dieses Kleidungsstück vor allem mit der Persönlichkeit Stalins assoziiert. Er trug diese Jacke meist zu offiziellen Anlässen. Benannt wurde sie nach dem britischen Militärführer John Denton Pinkstone French (1852-1925). – ein Symbol der damaligen Nomenklaturmode. Ich sehe nun sein Foto an und weiß nicht, wer er eigentlich war. War er ein Funktionär, der von der Stalinschen SäuberungenAls Stalinsche Säuberungen wird die unter Stalin durchgeführte Repressionswelle gegen mutmaßliche Regime-Feinde bezeichnet. Allein während des Großen Terrors – Höhepunkt der Säuberungswelle – wurden in den Jahren 1937/38 Schätzungen zufolge rund eineinhalb Millionen mutmaßliche Feinde verhaftet. Die Quellenlage ist dürftig, man geht jedoch davon aus, dass etwa 700.000 Menschen exekutiert wurden. Insgesamt fielen den Stalinschen Säuberungen 3 bis 20 Millionen Menschen zum Opfer. profitierte? Hat er beigetragen zum schrecklichen Verbrechen, zur Zwangsdeportation des ganzen kalmückischen VolkesDie Operation Ulussy fand 1943/1944 statt. Dabei wurden schätzungsweise rund 100.000 ethnische Kalmücken aus dem südlichen Teil des europäischen Russland in die Ural-Region, nach Sibirien und nach Zentralasien zwangsdeportiert. Nach der Rehabilitierung im Jahr 1956 durften die Kalmücken zurückkehren. Heute ist Kalmückien die einzige vorwiegend buddhistische Region in Europa., die seiner Amtszeit unmittelbar folgte? Oder kann man ihn mit seinem jahrzehntelangen Alkoholismus als ein Opfer der Stalinzeit bezeichnen?
Wenn man heutige Medienberichte in Russland genau anschaut, fällt sofort auf, dass die Stalinzeit plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückt. Das Aus für The Death of StalinDebattenschau № 61: The Death of Stalin nicht im russischen Kino Plötzliches Aus für The Death of Stalin: Auf Geheiß des Kulturministeriums darf der britische Film nicht in die russischen Kinos – wegen „Verbreitung illegaler Informationen“. Der Beschluss fiel nur zwei Tage vor dem geplanten Filmstart in Russland am 25. Januar. Nun tobt eine heftige Debatte – dekoder bringt Ausschnitte aus russischen Medien. , das Errichten neuer Stalin-Denkmäler, die strafrechtliche Verfolgung eines AktivistenDie Geister der Vergangenheit Juri Dmitrijew hatte über Jahrzehnte die Zeit des Großen Terrors rekonstruiert, den Toten anonymer Massengräber Namen und ein würdiges Begräbnis gegeben. Seit Juni läuft ein zweifelhafter Prozess gegen ihn. Schura Burtin ist Dmitrijew in die dunkle Vergangenheit Russlands gefolgt und hat sich ein Bild ob der heftigen Anschuldigungen gemacht. Ein dekoder-Longread. oder auch die Versuche von Denis KaragodinDie Fragen der Enkel Stepan Karagodin war eins von Hunderttausenden Todesopfern des Stalin-Terrors. Sein Urenkel Denis fordert nun strafrechtliche Konsequenzen. Ein Tabubruch, kommentiert Iwan Kurilla auf slon.ru, und ein Hoffnungszeichen. , ein Gerichtsverfahren gegen Stalin zu eröffnen: Das alles zeigt, dass diese traumatisierte Epoche wieder aktuell wird, neu aufgerollt und thematisiert wird. Und die Mediendebatten werden meistens emotional so heftig geführt, als ob die Stalinschen SäuberungenAls Stalinsche Säuberungen wird die unter Stalin durchgeführte Repressionswelle gegen mutmaßliche Regime-Feinde bezeichnet. Allein während des Großen Terrors – Höhepunkt der Säuberungswelle – wurden in den Jahren 1937/38 Schätzungen zufolge rund eineinhalb Millionen mutmaßliche Feinde verhaftet. Die Quellenlage ist dürftig, man geht jedoch davon aus, dass etwa 700.000 Menschen exekutiert wurden. Insgesamt fielen den Stalinschen Säuberungen 3 bis 20 Millionen Menschen zum Opfer. nicht vor 80 Jahren, sondern gestern stattfanden.
Wir bei dekoder haben entschieden, dass wir über das ganze Jahr 2018 diese Debatten in einem neuen Dossier beobachten, abbilden und kontextualisieren. Wie werden die Stalinschen SäuberungenAls Stalinsche Säuberungen wird die unter Stalin durchgeführte Repressionswelle gegen mutmaßliche Regime-Feinde bezeichnet. Allein während des Großen Terrors – Höhepunkt der Säuberungswelle – wurden in den Jahren 1937/38 Schätzungen zufolge rund eineinhalb Millionen mutmaßliche Feinde verhaftet. Die Quellenlage ist dürftig, man geht jedoch davon aus, dass etwa 700.000 Menschen exekutiert wurden. Insgesamt fielen den Stalinschen Säuberungen 3 bis 20 Millionen Menschen zum Opfer. im heutigen Russland wahrgenommen? Was verbindet man mit Stalin und warum spricht man nun über eine schleichende Stalinisierung? Wie verlief der Prozess der Ent-Stalinisierung nach Stalins TodDer sowjetische Diktator Josef Stalin (geb. 1878) erlag Anfang März 1953 einem Schlaganfall. Da das totalitäre Regime im höchsten Maße personalisiert war, stürzte sein Tod die Sowjetunion in allgemeine Orientierungslosigkeit. Ein Außenseiter kam an die Macht und brach drei Jahre später offiziell mit dem Personenkult um Stalin. Mehr dazu in unserer Gnose ? Hängt eine Re-Stalinisierung mit einer misslungenen Ent-Stalinisierung zusammen? Damit beschäftigen wir uns in dem Dossier Stalin: Zwischen Kult und AufarbeitungStalin: Zwischen Kult und Aufarbeitung , das wir mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur durchführen.
Viele Russen meiner Generation stellen sich diese Fragen. Das ist eine Generation, die nicht nur die offizielle Geschichte der Lehrbücher kennt, sondern auch die Zusammenhänge verstehen und erfahren möchte, welche Rolle ihre Vorfahren dabei gespielt haben.
Wir haben viel zu tun.
Euer Leonid
Gnosenredakteur