Das Jahr 1989 hat für Ostmitteleuropa, die DDR und auch für China klare Erzählungen parat: sie handeln entweder vom Ende kommunistischer Herrschaft in einer friedlichen Revolution oder von der Repression einer beginnenden Freiheitsbewegung, die von den Panzern der „Volksbefreiungsarmee“ am Tiananmen zerschlagen wurde. In diesen Ereignissen liegt die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Epochenjahres begründet. Doch wie reagierte Moskau auf die dramatischen Ereignisse damals, etwa auf den Mauerfall am 9. November in Berlin? Schließlich war es die sowjetische Führung, die im Frühjahr 1985 mit der Wahl Michail Gorbatschows für neue Dynamik in der erstarrten Ordnung des Kalten Krieges sorgte.
Das sowjetische Jahr 1989
In den Jahren von Glasnost und Perestroika war die UdSSR für kurze Zeit tatsächlich jene historische Avantgarde, die sie seit 1917 vorgab zu sein. In immer schnelleren Schritten betrieb die Führung um Michail Gorbatschow den Umbau des politischen Systems. Sie lockerte die einst allmächtige Zensur, ließ politische Gefangene frei und begann mit der Privatisierung der Wirtschaft zu experimentieren. Mit den Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten der UdSSR am 26. März 1989 stand die UdSSR im Frühjahr noch an der Spitze der Reformen in den kommunistischen Diktaturen Osteuropas. Doch im Laufe des Jahres sollte sie diese Position einbüßen. Zugleich entwickelte die von Gorbatschow initiierte „oktroyierte Zivilisierung“ der sowjetischen Gesellschaft neue Dynamiken, die sich der Steuerung von oben zunehmend entzogen. Dazu gehörte auch die Erosion des sowjetischen Staates an seinen Peripherien: Vom Baltikum bis in den Kaukasus schwand bereits 1989 mit der Macht der Partei auch die Autorität des Zentrums.
Insgesamt verschoben sich die Schwerpunkte sowjetischer Politik. Während nach 1945 das Imperium in Osteuropa stets im Fokus gestanden hatte – insbesondere während der Krisen von 1953, 1956, 1968 und 1980/81 – verlagerte sich nun die Aufmerksamkeit. Michail Gorbatschow und seine Führungsmannschaft waren insbesondere an besseren Beziehungen zum Westen interessiert. Die Vereinigten Staaten und auch die Bundesrepublik Deutschland genossen bald besondere Priorität. Wegen der Verweigerung von Reformen in der DDR, der ČSSR, in Rumänien oder Bulgarien wuchs die politische Distanz zu den „Bruderländern“. Außerdem verabschiedete sich die sowjetische Führung von der Breschnew-Doktrin, die besagte, dass sozialistische Staaten nur begrenzt souverän sind und die Sowjetunion das Recht besitzt, jederzeit – auch gewaltsam – in ihre Angelegenheiten zu intervenieren. Während der Wahlen in Polen im Juni zeigte sich, dass Moskau tatsächlich kein Interesse hatte, politisch oder militärisch in seinem Glacis zu intervenieren. Der Kreml akzeptierte die Niederlage der Kommunisten. Es öffnete sich ein Ermöglichungsraum für Veränderungen, den es so in Europa seit Jahrzehnten nicht gegeben hatte.
Das Jahr 1989 in der DDR
Die DDR und die UdSSR verband über Jahrzehnte eine special Relationship. Der kommunistische Staat auf deutschem Boden symbolisierte den sowjetischen Sieg von 1945. Auch wenn es nur das halbe Deutschland war, so handelte es sich doch um ein Kronjuwel des sowjetischen Imperiums. Über Jahrzehnte konnte in der DDR keine gewichtige politische Entscheidung ohne sowjetische Rückendeckung getroffen werden. Das galt natürlich insbesondere, wenn es um Macht ging – und im Kalten Krieg waren Grenzfragen selbstredend Machtfragen. Die halbe Million sowjetischer Soldaten auf deutschem Boden war ein weiterer Faktor und natürlich war die sowjetische Botschaft – eigentlich ein eigenes Städtchen entlang des Boulevards Unter den Linden – über die Lage im Lande stets gut im Bilde. Zusätzlich unterhielt der KGB eine große Residentur in Berlin-Karlshorst.
Die SED-Führung wusste um ihre Abhängigkeit von Moskau. Während die anderen kommunistischen Staaten Osteuropas auch über eigene nationale Legitimationen verfügten, stützte sich Ost-Berlin auf den „Sieg über den Faschismus“ und die „Freundschaft zur Sowjetunion“ als Staatsräson. Der „Sozialismus auf deutschem Boden“ war nur als sowjetisches Protektorat denkbar. Doch mit Beginn der Perestroika begann eine gefährliche Entfremdung zwischen der DDR und ihrer Schutzmacht. Während Gorbatschow und seine Mitstreiter von der Notwendigkeit tiefgreifender Reformen überzeugt waren, hielten Erich Honecker und seine Genossen im SED-Politbüro die DDR für einen sozialistischen Musterstaat. Als Reaktion auf die sowjetischen Reformen fragte der Ost-Berliner Chef-Ideologe Kurt Hager bereits 1987 rhetorisch: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Damit war auch öffentlich der Bruch vollzogen.
Zu Beginn des Epochenjahres 1989 gehörten die DDR wie auch Rumänien oder die Tschechoslowakei zu den erbittertsten Gegnern der Moskauer Reformpolitik. Honecker und die SED-Führung befürchteten, dass Moskau auf dem Weg sei, den Sozialismus zu verraten. Ost-Berlin sah sich im Gegensatz zum Kreml als Anker der Stabilität und Verteidiger der Ordnung von Jalta und Helsinki in Europa. Drei Faktoren begannen jedoch seit dem Frühjahr 1989 die SED-Herrschaft zu schwächen: die Proteste der eigenen Bevölkerung, die seit den gefälschten Kommunalwahlergebnissen vom Mai eine neue Qualität gewannen, der sich verschlechternde Gesundheitszustand des Generalsekretärs Erich Honecker und der steigende Druck ausreisewilliger DDR-Bürger, die begannen, nach Schlupflöchern im erodierenden Eisernen Vorhang zu suchen und sie in Ungarn sowie in den deutschen Botschaften von Prag oder Warschau fanden. So wurde im Sommer aus der stillgelegten DDR-Gesellschaft sukzessive ein Land in Gärung, Aufruhr und Aufbruch. Auf sowjetische Hilfe konnte die SED beim Machterhalt nicht zählen: Michail Gorbatschow entschied bereits zu Beginn des Herbst 1989, dass die sowjetischen Truppen in den Kasernen bleiben würden.
Missverständnisse, Medien, Kontrollverlust: Ein Tag im Herbst 1989
Spätestens seit den Leipziger Montagskundgebungen und dem Sturz Honeckers am 17. Oktober gerieten die Verhältnisse in der DDR ins Wanken. Bereits am „Tag der Republik“, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1989, war Michail Gorbatschow selbst auf den Straßen Berlins mit der aufgeheizten Stimmung konfrontiert worden. Seine Unterstützung für Honecker blieb lauwarm. Kurz zuvor, am 5. Oktober, hatte der außenpolitische Berater Gorbatschows, Anatoli Tschernjajew, in seinem Tagebuch notiert: „Der komplette Zerfall des Sozialismus als Faktor in der globalen Entwicklung ist in vollem Gange. Vielleicht ist dies unvermeidbar und gut. Dies könnte dazu führen, dass sich die Menschheit auf der Basis gemeinsamer Werte vereinigt. Und dieser Prozess begann in Stawropol.“ Damit spielte der Funktionär auf den Geburtsort Gorbatschows an. Er sah den sowjetischen Generalsekretär bereits als welthistorische Figur. Gorbatschows Popularität erreichte 1989 wenigstens im Ausland neue Höhepunkte. Er wurde für das geteilte Deutschland und für den ganzen Kontinent zum Hoffnungsträger.
Fokus auf die inneren Probleme
Doch Gorbatschows politische Sorgen galten zunehmend der Heimat. Während des Jahres 1989 forderten die inneren Probleme der UdSSR seine Aufmerksamkeit. Im Herbst begann sich der politische Machtkampf mit seinem Widersacher Boris Jelzin erneut zuzuspitzen. Auch die konservative Fraktion im Politbüro um Jegor Ligatschow entzog der Führung zunehmend Unterstützung. Trotz aller Turbulenzen zwischen Warschau, Berlin, Prag und Budapest konzentrierte sich die sowjetische Führung deshalb primär auf die innenpolitische Lage. Schließlich ging es in dieser Arena, die sich ebenso schnell entwickelte wie die Weltpolitik, letztlich um die eigene politische Macht. Eine Lektüre der Tagebücher Tschernjajews, wahrscheinlich die wertvollste Quelle aus dem Zentrum der Macht, veranschaulicht, dass die sowjetische Führung im Herbst 1989 durch die dramatische Lage zu Hause oft von außenpolitischen Problemen abgelenkt wurde.
Anfang November stand die DDR vor großen Veränderungen. Es war offensichtlich, dass der status quo, ein eingeschlossenes Land mit scharf bewachten Grenzen, nicht zu halten war. Doch niemand hatte den Abend des 9. November auf der Rechnung. Auch die neue SED-Führung unter Egon Krenz war weiterhin an enger Abstimmung mit dem Kreml interessiert. Während der ersten Novemberwoche standen diesem Wunsch aber zwei Dinge im Weg: die traditionellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution (7./8. November) und die Inkompetenz der neuen SED-Führung. Als in Ost-Berlin an einem neuen Reisegesetz gearbeitet wurde, war die Moskauer Führung wegen der Feierlichkeiten nicht zu erreichen. Am Vormittag des 9. November tagte das sowjetische Politbüro – Anrufe aus dem Ausland wurden nicht durchgestellt. Deshalb scheiterte im Vorfeld die Abstimmung zwischen der neuen SED-Führung um Egon Krenz und den Moskauer Machthabern.
Von den Ereignissen überrollt
Als Politbüromitglied Günter Schabowski mit seiner überstürzten Aussage zur Gültigkeit des neuen Reisegesetzes gegen 19 Uhr am 9. November („Nach meiner Kenntnis gilt das sofort ... unverzüglich.“) den Sturm auf die Berliner Mauer auslöste – die Wiederholung seines Fehlers in den westlichen Abendnachrichten tat ein Übriges – war weder der Kreml noch die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin im Bilde. Auch die historische Entscheidung zur Öffnung der Mauer („Wir fluten jetzt“) am späten Abend wurde ohne Rücksprache mit den sowjetischen „Freunden“ getroffen. Erstmals traf die SED eine historische politische Entscheidung im Alleingang: im Zuge ihres eigenen Untergangs emanzipierte sie sich von ihren Moskauer Paten. Der sowjetische Botschafter Kotschemassow meldete sich erst am Morgen des 10. November telefonisch bei SED-Chef Krenz und drückte seine Beunruhigung über die Lage in Berlin aus. Vom Fall der Mauer erfuhr Moskau erst aus den Nachrichten, der Botschafter selbst hatte geschlafen. Wobei die sowjetischen Medien zunächst zurückhaltend bis gar nicht berichteten – es war ein heikles Thema und, was noch schwerer wog, es gab genug eigene innenpolitische Probleme, die breit diskutiert wurden und täglich auf die Agenda drängten.
Am 9. November 1989 war die UdSSR zu einem Beobachter geworden. Wenn überhaupt, dann hatte die sowjetische Seite mit einer kontrollierten Grenzöffnung zwischen der DDR und der Bundesrepublik gerechnet – aber nicht mit dem Fall der Berliner Mauer. Da Michail Gorbatschow Gewalt ausschloss, musste Moskau die neuen Realitäten akzeptieren.
Während sich der deutschlandpolitische Berater Gorbatschows, Valentin Falin, am Morgen des 10. November entsetzt zeigte und das Ende der DDR prophezeite, dachte sein Kollege Anatoli Tschernjajew schon über die DDR hinaus. Er notierte in sein Tagebuch: „Die Geschichte des sozialistischen Systems ist zum Ende gekommen. […] Nur noch unsere ‚besten Freunde‘ sind übrig: Castro, Ceausescu und Kim-Il-Sung. […] Jetzt geht es nicht mehr um den Sozialismus, sondern um die Balance der Weltmächte, um das Ende von Jalta, das Ende des Erbes von Stalin und des Sieges über Nazi-Deutschland.“ Tatsächlich hatte die Sowjetunion 1945 den Krieg gewonnen und begann 1989 den Frieden zu verlieren. Jetzt ging es nicht mehr um die Reform des Sozialismus, sondern darum, sein Ende zu begleiten.