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Juli: Gefundene Fotos

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Eine große Altbauwohnung in St. Petersburg. Die Wohnung steht leer, die Bewohner sind längst ausgezogen, längst verstorben. Es waren viele.

Die Wohnung soll entrümpelt werden, das Alte soll fort, doch es sind Menschen vor Ort, die gerade für dieses Alte einen Blick haben: eine Gruppe Architekten und der Fotograf Max Sher. Ihm fallen Fotoalben der früheren Bewohner in die Hände. Aufnahmen aus den 1960ern, den 1970ern, den 1980ern. Der Fotograf ist Sohn eines Archäologen, und mit einem solchen Blick – einem archäologischen – macht er sich ans Betrachten.

 

Gefundene Fotografien, Gebrauchsfotografie: Hinter den englischen Stichwörtern found photography und vernacular photography steht eine aktuelle Bewegung, die dem alltäglichen Bild einen hohen Wert beimisst. Die Fotos, mit denen sie arbeitet, entdeckt sie auf Flohmärkten, Dachböden, ja auf der Straße. Das gefundene Bild wird zum zufälligen Zeugnis eines Lebens, das real war wie das eigene, das noch nicht lang vergangen ist, das doch fremd bleibt und sich nie ganz erschließt. Sammeln und Zusammenstellen ist hier Forschung und Kunst zugleich.

Die Fotos, die Max Sher in der Petersburger Wohnung fand, offenbaren auf doppelte Weise eine besondere Welt. Es ist die Zeit des Tauwetters, dann die Breshnew-Zeit. Eine schüchterne Romantik durchwehte die Sowjetunion, man war nicht mehr ständig beobachtet, nicht mehr alle, nicht auf Schritt und Tritt kontrolliert. Liedermacher sangen nicht von der Partei, sondern vom Leben. Und die Archäologie – sie spielt nicht nur beim forschenden Fotografen, sondern auch in den Fotoalben selbst eine wichtige, wenn auch kaum sichtbare Rolle – wurde zu einer Nische der Freiheit: Sie erlaubte es zu reisen, um zu forschen, auch denen, die keine Fachleute waren. Im Sommer „zu Ausgrabungen” zu fahren, in den Süden, in die Natur, wurde zum verbreiteten kleinen Abenteuer.

Eine besondere Welt zeigen diese Bilder auch, weil die Alben aus einer Kommunalka stammen. Aus einer Wohnung, in der man zusammenlebte, ob man es wollte oder nicht: meist eine Familie pro Zimmer, oft die des Lehrers neben der der Schauspielerin, die der Professorin neben der des Säufers. Die Kommunalka ist legendär, im guten wie im üblen Sinne. Sie hat eine ganze Generation geprägt, mit ihrem Mangel an Privatheit, ihrem Zwang zum endlosen Improvisieren, den Streits, den Versöhnungen, den verschlungenen Geschichten, die sie gebar.

Die Dame mit dem strengen Blick: Galina Babanskaja, geboren 1920 in dieser Wohnung, gestorben 2002 ebenfalls in dieser Wohnung. Sie war Ethnografin und Archäologin. Ihr gehörten die Alben, sie waren ihr persönliches Familienarchiv. Babanskajas erster Mann, Alexander Bernstam: einer der führenden Archäologen der UdSSR. Er starb 1956 – in dieser Wohnung –, nachdem die sowjetische Propaganda auf ihn als einen „kirgisischen Bourgeois” eingehackt hatte (Bernstam ist auf den Fotos nicht zu sehen, dafür aber mehrfach Galinas zweiter Mann, Wenjamin Awerbach, ein Ingenieur, gestorben 2009). Und, Verkettung von Umständen: Zwischen der Familie des Fotografen Max Sher und den Personen auf den Fotos gab es eine Verbindung, wenn auch nur eine haarfeine. Max Shers Vater war Bernstam einmal begegnet, 1951, das Treffen hatte seine Begeisterung für den zukünftigen Beruf geweckt. All das ließ sich nun nach und nach rekonstruieren.

Alle hier gezeigten Fotos stammen aus den gefundenen Archiven, mit Ausnahme der quadratischen, die Max Sher in der Wohnung vor ihrer Entrümpelung aufgenommen hat. Max Sher ist 1975 in St. Petersburg, damals Leningrad, geboren, wuchs in Sibirien auf, studierte Linguistik in Kemerowo und Straßburg und wandte sich 2006 der Fotografie zu. Seine Fotografien sind international publiziert, waren nominiert unter anderem für den niederländischen Paul Huf Award und den Cord Prize. Aus seiner Arbeit mit gefundenen Fotografien ist ein Buch entstanden mit dem Titel A Remote Barely Audible Evening Waltz – ein Zitat aus einem Roman von Sascha Sokolov.

Die Bilder in den Alben waren bereits vergessen, der Container, der sie vernichtet hätte, stand auf der Straße bereit. Sie wurden erhalten, und nun schauen wir, Fremde, sie an: Worüber diskutierten diese Menschen rauchend am Besprechungstisch? Wie klangen ihre Stimmen? Wer fotografierte die Troika der Stechfliegen? Wohin kämpfte sich der Bus durch die tauenden Schwaden von Schnee?

Fotos: Max Sher
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
Text: Martin Krohs
Veröffentlicht am 01.07.2016

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Kommunalka

„Aber wo wollen Sie wohnen?“ – „In Ihrer Wohnung.” Dieser kurze aber vereinnahmende Dialog auf der Straße zwischen Berlioz und Voland, dem Teufel, in Michail Bulgakows Klassiker Meister und Margarita (1929–1940) lässt erkennen, wie fließend die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in Sowjetrussland war.

Als dominante städtische Wohnform, als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches „Labor für den zukünftigen Kommunismus“ ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunalnaja kwartira, kurz kommunalka) der Hauptschauplatz der neuen sowjetischen Lebensweise.

 Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

Mit der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurde die Enteignung und Umverteilung bürgerlicher Wohnungen symbolisch inszeniert – gleichzeitig löste man so die Wohnraumkrise, die vor allem durch eine massive Landflucht und Zuwanderung in die Städte ausgelöst worden war. Meist durften die ehemaligen Wohnungseigentümer in ihrer Wohnung bleiben und sich ein Zimmer aussuchen, die restlichen wurden von den lokalen Wohngenossenschaften beliebig an Wohnraumsuchende umverteilt: Ein Zimmer für je eine Familie.

Manchmal wohnten bis zu drei Generationen in einem im Durchschnitt 20m² messenden Zimmer, sodass sich zum Beispiel in einer relativ großen 10-Zimmer-Altbauwohnung bis zu 50 Menschen Küche, Bad und Toilette teilten. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne, Nachbarn waren omnipräsent und der Raum transparent.

Bulgakow beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.”1

Mithin herrschten unzumutbar beengte, unhygienische und konfliktreiche Zustände, zumal die Zuwanderer vom Land nicht nur ihre Hühner, sondern auch Ihre dörflichen Ansichts­weisen und Traditionen mit in die städtischen Räume brachten.

Anfänglich war sie als Not- und Übergangslösung gedacht, bald aber etablierte sich die Kommunalka als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Was die Kommunalka einzigartig unter den frühindustriellen Arbeiter­quartieren macht, ist nicht nur das erzwungene Zusammenleben einander fremder Menschen unterschiedlichster Schichten, Bildungsgrade, Regionen, Religionen etc. Die extreme Ideologisierung und Politisierung des neuen sowjetischen Alltags schuf einen komplexen und vielschichtigen (Wohn-)Raum.

Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988Oft waren es die geräumigen Wohnungen wohlhabender Familien, die in Kommunalwohnungen umgewandelt und für das Zusammenleben mehrerer Familien angepasst wurden. Zwischentüren wurden vermauert oder mit Schränken zugestellt, dunkle, schmale Flure entstanden, die separaten Zugang zu den einzelnen Zimmern boten. Nicht selten wurden Badezimmer in Wohnräume umgebaut, dafür dann in den geräumigen Küchen eine Badewanne installiert. Persönliche Hausgeräte hingen oft, nach Familien geordnet und entsprechend beschriftet, an Nägeln an der Wand: Auf diese Weise waren etwa Küchenutensilien organisiert, aber auch die Toilettensitze im kleinen Raum der Toilette. Die Schwierigkeiten, die eine solche gemeinsame Nutzung der wohntechnischen Infrastruktur mit sich brachte, waren Gegenstand zahlloser Alltagsgeschichten und wurden auch in Literatur und Film immer wieder humoristisch aufgegriffen.

Dieser totale wie ambivalente Raum und die darin handelnden Akteure werden in der Forschung aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die beide ihre Berechtigung haben: Die eine sieht in der Kommunalka vor allem ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, der die Bewohner ausgesetzt waren.2 Die andere entdeckt bei den Kommunalkabewohnern eine besondere Handlungsfähigkeit, die den ambivalenten Lebensumständen entsprang: Zwischen der von außen aufgezwungenen Ideologie und der Realität vor Ort gab es gewaltige Unterschiede, also mussten die Bewohner situationsbedingt Lösungen finden, um Diskrepanzen entgegenzuwirken.3

 Dabei hatte natürlich jede/r eine eigene Meinung bzw. ein eigenes Interesse.

Welcher Aspekt auch immer im Vordergrund stehen mag: Die Kommunalka ist eine kollektive Lebensform, an die sich die Bewohner anpassen mussten, ob sie es wollten oder nicht. Als (Schicksals-)Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regeln der Alltagsgestaltung und des Verhaltens, die sich ungeachtet der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen fortsetzen. Auch heute noch: Etwa ein fünftel der St. Petersburger Bevölkerung wohnt in Kommunalkas. „Immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].“4


Die Kommunalka spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Fotostrecke für den Monat Juli. Und noch einen ganz anderen Blick auf die sowjetische Gemeinschaftswohnung gibt es in diesem sehr populären Song aus den frühen 90ern:

https://www.youtube.com/watch?v=D_mVylRi_T0

 

Pop-Band Djuna „Kommunalnaja Kwartira" – humoristischer Song aus den 90ern zum Thema Kommunalka

1.Bulgakow, Michail (1995): Moskau in den zwanziger Jahren, in: Ich habe getötet: Erzählungen und Feuilletons: Gesammelte Werke 7/I, Berlin, S. 74-87, hier: S. 79
2.Siehe Meerović, Mark (2003): Očerki istorij žilishchnoj politiki v SSR i ee realizacij v architekturnom projektirovanii (1917 - 1974 gg.), Irkutsk und Boym, Svetlana (1994): Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard
3.Gerasimova, Ekaterina (2000): Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917 - 1991), Promotion, European University at St. Petersburg und Evans, Sandra (2011): Sowjetisch Wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld
4.Pjecuch, Vjačeslav (1991): Die neue Moskauer Philosophie: Ein russischer Kriminalroman, München 1991, S. 127f.
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Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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