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„Jeder Kriegsfilm muss ein Antikriegsfilm sein“

Wie findet man nach einer Gewalterfahrung zurück ins Leben? Kann es nach dem Krieg eine Normalität geben? Diese Fragen lotet der 28-jährige Regisseur Kantemir Balagow in seinem Film Dylda (engl. Fassung: Beanpole) aus, der in fast gemalten Bildern eine Frauenfreundschaft in Leningrad nach der Blockade und dem Großen Vaterländischen Krieg beschreibt. 

Der Film wurde international mehrfach ausgezeichnet. In Cannes etwa lief Dylda in der Sektion Un Certain Regard und erhielt den Preis für die Beste Regie sowie den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker. Außerdem stand er auf der Shortlist für den sogenannten Auslands-Oscar (auch wenn es am heutigen Montag keine Nominierung für ihn gab).

Tatjana Rosenschtain hat mit dem Regisseur Kantemir Balagow für Kommersant-Ogonjok gesprochen.

Источник Ogonjok

Tatjana Rosenschtain: Aufgrund Ihres Alters, Sie sind 28 [zum Zeitpunkt des Interviews und im russ. Original noch 27 – dek], werden Sie oft als Jungregisseur bezeichnet. Doch Sie wagen sich an komplexe Themen heran. Der Große Vaterländische Krieg, die Nachkriegszeit: Woher schöpfen Sie Ihre Vorstellung von dieser Zeit, Ihr Wissen darüber? Auf welche Grundlage stützen Sie sich?

Kantemir Balagow: Alles begann mit dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Als ich es gelesen habe, eröffnete sich mir eine ganze Welt. Davor hatte ich selten über den Krieg nachgedacht und fast nie über das Schicksal der Frauen, die ihn überlebt haben. Laut Statistik ist der Zweite Weltkrieg der Krieg mit der höchsten Frauenbeteiligung. Das hat mich vor viele Fragen gestellt. Ich fragte mich: „Was passiert mit einer Frau, die von der Front zurückkehrt?“ Oder: „Wie kann eine Frau nach den Dingen, die sie im Krieg gesehen hat, neues Leben geben?“ Ich glaube, der Krieg führt zu einem erheblichen Knacks in der Psyche einer Frau. Er verstümmelt sie, und es braucht viel mehr Zeit, bis sie wieder zu einem normalen Leben zurückfindet.

Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren

Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren und nichts über diesen Abschnitt der Geschichte wissen. Das ist verständlich, für sie ist das längst Vergangenheit. Viele denken: „Es gab einen Krieg, na und?“ Ehrlich gesagt, habe ich bis vor Kurzem so ähnlich gedacht. Aber dann wurde mir klar, dass es meine Pflicht ist, einen Film über dieses Thema zu drehen, als Regisseur, als Mensch und als Staatsbürger. Es war mir wichtig, die Folgen des Krieges durch die Augen meiner Generation zu zeigen.

Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen

Anders gesagt: Einen Film für meine Altersgenossen zu machen, für junge Leute. Wahrscheinlich habe ich das Thema auch deshalb gewählt, weil sich in mir eine Art Zeitverschiebung ereignet hat: Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen. Heute glaube ich tatsächlich, dass Ija und Mascha (so heißen die beiden Protagonistinnen im Film – Ogonjok) 1945 gelebt haben. Um sie auf der Leinwand zu verkörpern, haben meine Darstellerinnen viel geprobt und sich in das Thema vertieft. Sie haben Alexijewitsch gelesen oder zum Beispiel die Erzählungen von Andrej Platonow. Es war mir wichtig, dass sie es schaffen, die Atmosphäre der Zeit einzufangen.

Man hat den Eindruck, dass Sie Ihr Thema gefunden haben: Sie erzählen vom menschlichen Schmerz, losgelöst vom Kontext. Nehmen wir zum Beispiel Ihre Hauptfigur. Man könnte Ihre Arbeit auch mit der eines Psychotherapeuten vergleichen: Sie versuchen, das Trauma mit dem Zuschauer durchzusprechen. Da ist wiederum die Frage: Woher kommt dieses Interesse an den tragischen Aspekten des Lebens?

Ich interessiere mich für die Menschen. Ich mag es, in ihre Psychologie einzutauchen, Grenzzustände und die menschlichen Reaktionen zu beobachten. Ich möchte herausfinden, wie sich unmoralische Handlungen auf ihr späteres Leben auswirken.

Wie wirken sich unmoralische Handlungen auf das spätere Leben aus?

Ich glaube außerdem, dass menschliches Leid unabhängig von der Epoche, der Zeit und der Entwicklungsstufe einer Gesellschaft existiert.

Menschliche Gefühle sind nicht transformierbar, sie verändern sich nicht mit dem Entstehen sozialer Netzwerke oder technischer Geräte. Etwas sitzt in uns, im Inneren des Menschen; dieses Etwas kann die Schattierung oder Richtung ändern, aber im Kern bleibt es gleich. 

Ich glaube, die Russen reagieren sehr empfindlich auf Schmerz. Hier herrschten schon immer harte Lebensbedingungen, die eng mit den Gesellschaftssystemen verbunden waren. Ich kann nicht beurteilen, wie hart die Geschichte der Franzosen, Engländer oder Italiener ist. Ich bin in Russland geboren und habe keinen Vergleich. Aber mir scheint, dass die russische Geschichte komplizierter und schwieriger ist als die europäische. Repressionen, Kriege, die Härten des Alltags – das alles prägt das Weltbild. Nach so viel Leid sind die Menschen so.

In Russland werden heutzutage viele Filme über den Krieg gedreht. Was denken Sie, was unterscheidet einen Hurra-Patriotismus von einem echten, natürlichen?

Ich finde, man muss die Erinnerung an die Gefallenen im Stillen bewahren. Sie erforschen, kennen, sich dafür interessieren, und sie nicht an jeder Ecke herausposaunen. Das bedeutet Respekt und Würde. Der Hurra-Patriotismus mit seinem Paradigma „wir können das wiederholen“ führt zu Kriegseuphorie. Die Folgen eines solchen Patriotismus sind traurig, sogar katastrophal, sie können zu einem neuen Krieg führen.

Ich bin überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss

Als Regisseur bin ich überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss und sich auf das Schicksal der Menschen konzentrieren. So ist es bei Dylda – der Film erzählt von den Auswirkungen des Krieges auf Einzelschicksale, davon, wie schwer es diesen Menschen fällt, zu ihrem Leben vor dem Krieg zurückzukehren. Ich persönlich denke, eine Rückkehr ist für sie unmöglich. 

Jemand, der als Jugendlicher, mit 17 oder 18, in den Krieg gezogen und mit 24 oder 25 zurückgekehrt ist, hat seine Jugend verpasst. Er wird diese Leerstelle, die verpassten Lebensabschnitte nie mehr füllen können. In meinem Film gibt es eine Szene, in der Mascha ein grünes Kleid anprobiert, das ihre Nachbarin, eine Schneiderin, für einen Auftraggeber näht. In dem Moment, als sich die seelisch und körperlich angeschlagene junge Frau (ihr droht Unfruchtbarkeit, ihr einziger Sohn ist gestorben) in dem festlichen Kleid vor dem Spiegel dreht, begreift sie, dass sie die verpassten Jahre nie mehr zurückholen kann. Sie wird niemals jung sein, und das ist eines der zentralen Themen in meinem Film. Warum es nie wieder Krieg geben darf.

Mir schien, dass Mascha ihren Schmerz besonders dramatisch erlebt und ihn sogar auf ihre Freundin Ija (Dylda) überträgt. Kann man für den Schmerz eines anderes verantwortlich sein?

Das sehe ich anders. Sie überträgt ihren Schmerz nicht, sie teilt ihn mit ihrer Freundin, weil diese bereit ist, ihn zu teilen. Die beiden Frauen zehren von ihren gegenseitigen Gefühlen. Wie Yin und Yang – sie scheinen zu verschieden, aber sie ergänzen sich perfekt. Mascha pocht darauf, dass ihre Freundin ein Kind zur Welt bringt, das ihre seelischen Wunden heilt. Ich denke nicht, dass sie damit recht hat.

Wenn man sich die Zukunft der beiden Heldinnen vorstellt, glaube ich, dass ihre seelischen Wunden, genau wie ihre physischen, nicht heilbar sind. Ich wurde mehrfach gefragt, warum die beiden Frauen so gelassen auf den Tod, den Verlust ihrer Nächsten reagieren. Das ist die Reaktion von Menschen, die jahrelang in der Atmosphäre von Gewalt gelebt haben, sie haben sich an den Tod gewöhnt, deswegen traumatisieren sie neue Verluste nicht mehr. Wenn man ihren Zustand beschreiben wollte, dann würde ich sagen, dass beide „in Trümmern liegen“.

Ihr Film ist wunderbar inszeniert, sehr stimmungsvoll, doch es schwingt eine gewisse Theatralik mit, die, wie ich finde, dem russischen Kino insgesamt eigen ist und durch eine starke Theatertradition genährt wird …

Wenn Sie meinen Film als zu theatralisch empfinden, habe ich meine Aufgabe als Regisseur vermutlich nicht gut erfüllt. Wobei es einen Aspekt gibt, der mir in dem Film besonders wichtig ist: die Darstellung der Stille. In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste. In ihr lebt unsere Seele. Für mich zählt nicht so sehr der Inhalt der Dialoge, sondern das, was dazwischen geschieht, in der Stille. Der Inhalt erzeugt die Form. 

In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste

In meinem ersten Film Tesnota war die Heldin eine Rebellin, deshalb ist er viel dynamischer und schneller geschnitten. In Dylda geht es um eine andere Zeit, andere Menschen. Weil Ija aufgrund eines Kopftraumas immer wieder in Starre verfällt, atmet die Kamera mal, mal friert sie ein.

Außerdem war es mir wichtig, das Leningrad der Nachkriegszeit nachzubilden: Die ganze Stadt hat die Blockade erlebt. Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen. 

Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen

Es war mir wichtig, die Stadt so zu zeigen, wie sie in jenen Jahren war. Die Straßenbahn war eine Leihgabe des Museums für Elektromobilität in Sankt Petersburg. Der Mercedes, den der Sohn der Parteifunktionäre fährt, wurde 1938 gebaut, der Darsteller musste eine spezielle Schulung durchlaufen, um ihn fahren zu können. Ijas Zimmer gibt die typische Atmosphäre der Nachkriegs-Kommunalwohnungen wieder, mit Wänden, an denen mindestens fünf Tapetenschichten klebten: von der vorrevolutionären Zeit bis nach dem Krieg, als man anstelle von Tapeten Zeitungen benutzte. Wir haben Archive durchforstet, haben uns von einem Historiker beraten lassen. Als er die Rekonstruktion der Petersburger Wohnung gesehen hat, war er erstaunt, wie genau sie war. 

Bei der Arbeit an Dylda ließ ich mich von bildender Kunst inspirieren, insbesondere von holländischer Malerei. Die Farbpalette des Films wird von Rot- und Grüntönen dominiert. Die Gegenüberstellung dieser Farben kann man mit dem Gegensatz von Trauma, Schmerz und dem Leben selbst vergleichen. 


https://www.youtube.com/watch?v=ojtukdoyWzY

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Frauen im Großen Vaterländischen Krieg

Das bis heute populärste sowjetische Kriegsplakat zeigt die entschlossen blickende Mutter Heimat im roten Gewand, die nach dem deutschen Überfall die Söhne des Landes an die Front ruft. In der rechten Hand hält sie den Text des Kriegseides, die linke Hand ist auffordernd erhoben. Hinter ihrem Rücken sieht man einen Wald aus Gewehren mit Bajonetten. Die Verteidigung der Heimat ist damit als Männersache definiert. Entsprechend häufig stellt die Bildpropaganda der Kriegsjahre Frauen (und Kinder) als verletzliche Opfer der deutschen Aggression dar und fordert Frauen auf, die eingezogenen Männer als Arbeitskräfte in Industrie und Landwirtschaft zu ersetzen. Gelegentlich würdigt die politische Ikonographie auch Frauen der Roten Armee bzw. Partisaninnen.1 In der am heroischen Großen orientierten Erinnerungskultur des Krieges finden Frauen aber nur geringen Raum.

„Mutter Heimat ruft!“ Bild – gemeinfrei/WikipediaIn allen beteiligten Staaten führte der Krieg zu dramatischen Veränderungen im Leben der Bevölkerung. Allerdings reichten seine Auswirkungen in der Sowjetunion, die das Kriegsgeschehen jahrelang auf eigenem Territorium erdulden musste, weiter und tiefer als irgendwo sonst. Hier bekam auch die weibliche Bevölkerungsmehrheit die Anforderungen und Folgen des Krieges stark und unmittelbar zu spüren. Zum einen als Kriegsopfer, die mit dem Verlust von Angehörigen zurechtkommen mussten. Zum anderen als Kriegsmobilisierte für Industrie und Landwirtschaft oder als Angehörige der Roten Armee. Die populäre Propagandaformel „Männer an die Front – Frauen an die Heimatfront“ bildete die Realität nicht ganz zutreffend ab. Traditionelle Geschlechterrollen verschwammen während des Krieges durchaus.

Schwerstarbeit ohne Rücksicht

Der Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung war im Zuge der Stalinschen Industrialisierungspolitik rasant angestiegen und machte 1940 bereits knapp 40 Prozent aus.2 Der Krieg führte dann zu einer weiteren deutlichen Steigerung: Im Jahr 1945 waren über die Hälfte aller Beschäftigten Frauen.3 Darin spiegelte sich nicht nur die Wirksamkeit staatlicher Propaganda. Vielmehr wurden mit den staatlichen Erlassen zur allgemeinen Arbeitspflicht von Februar/September 1942 alle Frauen im Alter von 16 bis 45 (Februar 1942) und schließlich von 14 bis 50 Jahren (September 1942) zur Arbeit in der Kriegswirtschaft mobilisiert.4

In der Tat „ersetzten“ Frauen die einberufenen Männer sowohl in der Industrie als auch, und vor allem, in der Landwirtschaft. Hier (etwa im Bergbau) wie dort bedeutete das: Schwerstarbeit ohne Rücksicht auf eigentlich geltende Arbeitsschutzgesetze. Landmaschinen und Zugtiere waren sofort zu Kriegsbeginn für den Armeebedarf konfisziert worden,5 so dass sich Frauen auf vielen Dörfern selbst vor den Pflug spannen mussten, um die Frühjahrsaussaat vorzubereiten.
In der Industrie wurde der Arbeitstag spürbar verlängert, eine Urlaubssperre verhängt und die Arbeitsgesetzgebung mehrfach verschärft: Bereits geringfügige Regelverletzungen (Verspätungen, unerlaubte Abwesenheit vom Arbeitsplatz) konnten harsche Strafen (mehrere Jahre Straflager) nach sich ziehen.

Frauen in der Roten Armee

Eine Wehrpflicht für Frauen bestand nicht, aber laut Wehrgesetz vom 1. September 1939 konnten Frauen mit medizinischer oder technischer Ausbildung im Kriegsfall sofort einberufen werden. Und das geschah auch. Aber erst nach den dramatischen Anfangsniederlagen und Millionenverlusten griff der Staat ab 1942 zum Instrument der Massenmobilisierung von Frauen in die Rote Armee, überwiegend für nichtkombattante Aufgaben. Im Gegenzug sollten möglichst viele Männer in den unmittelbaren Kampfeinsatz vorrücken. Zwar wurde die Zielvorgabe von 700.000 „Freiwilligen“ deutlich unterschritten, aber über mehrere große (damals geheim gehaltene) Mobilisierungskampagnen in den Jahren 1942–43 gelangten Hunderttausende junge Mädchen und Frauen in die sowjetischen Streitkräfte. Die meisten Soldatinnen arbeiteten im Sanitätswesen oder im technischen Bereich, viele gehörten als Köchinnen und Wäscherinnen zu den rückwärtigen Diensten. Aber einige Zehntausend übten auch kombattante Funktionen aus.6

Ukrainische Partisaninnen Foto: gemeinfrei/Wikipedia

Neuere Schätzungen sprechen von rund 1 Million Frauen, die in Uniform am Krieg teilgenommen haben sollen, was einem durchschnittlichen Armeeanteil von ca. 3 Prozent entspricht.7 Es war ein sowjetisches Spezifikum, dass sich eine Minderheit aller Soldatinnen sogar bewaffnet am Kriegsgeschehen beteiligte: als Kampfpilotinnen, Scharfschützinnen („Flintenweiber“), Panzerfahrerinnen sowie bei der Infanterie. Sie kämpften in gemischten Einheiten und auch in reinen Frauenstaffeln, vor allem bei der Luftwaffe.

Verschwimmen der Geschlechtsrollen

Überhaupt war die Grenze zwischen dem angeblich traditionell weiblich-unterstützenden Sanitätsdienst, manch anderen Hilfsdiensten und kämpfender Truppe im sowjetischen Kriegsalltag nicht starr, sondern fließend. Selbst Krankenschwestern verrichteten ihre Arbeit nicht in einem geschützten Bereich und in adrett-weiblicher Kleidung, sondern mussten, selbst bewaffnet, die Verwundeten (samt Waffe) direkt vom Schlachtfeld bergen und im Kampfgetümmel notdürftig versorgen. Sie arbeiteten also unmittelbar an der Front und bezahlten diesen gefährlichen Einsatz oft selbst mit dem Leben.8 Schwerstarbeit und Lebensgefahr kennzeichneten also selbst „zivil“ anmutende Bereiche wie das Sanitätswesen oder die Fliegerei – die Kriegspropaganda hat diesen bitteren Alltag jedoch verharmlost und die Tätigkeit von Frauen an der Front entsprechend traditioneller Vorstellungen von Geschlechterrollen in Szene gesetzt.9
Eine Frauenfigur erscheint Jahre später auch in den 85 bzw. 62 Meter hohen Kolossalstatuen der Mutter Heimat mit erhobenem Schwert, die im Zuge der offiziellen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg 1967 auf dem Mamajew-Kurgan im ehemaligen Stalingrad und 1981 im Zentrum des Kiewer Gedenkkomplexes errichtet wurden. Bei diesen Frauenfiguren handelt es sich um symbolisch-allegorische Darstellungen der wehrhaften und schließlich siegreichen Heimat, die die Befreiung bewirkt hat. Über die tatsächlichen Rollen von Frauen im Krieg sagen sie nichts.

Sowjetische Jeanne d’Arc

Das Medium Film ist schon früh weiter gegangen als die Historiographie oder die offizielle Erinnerungskultur. So rückten die Partisanenfilme aus den Jahren 1943 und 1944 (Raduga; Ona zaschtschischtschajet rodinu) kämpfende Frauen in den Mittelpunkt. Die Filmheldinnen wurden im Kampf gegen die Nationalsozialisten von diesen gefoltert und getötet und damit zu Märtyrerinnen der gerechten Sache, der sie dienten. 
Im Film Soja (1944) handelte es sich um die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja. Um sie entstand in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein regelrechter Kult, der sie quasi als sowjetische Jeanne d’Arc verherrlichte.10 Sie zog vor allem deshalb so viel Mitgefühl auf sich, weil sie als junges Mädchen für die von ihr verübten Sabotageakte gefoltert und gehängt wurde und die Deutschen ihren Körper noch tagelang zur Abschreckung am Galgen hängen ließen. So lang und aufwändig wie das Gedenken an die Komsomolzin-Partisanin Soja in der Sowjetunion inszeniert und gepflegt wurde, so schnell und heftig kam es nach deren Ende zu Bestrebungen, den Soja-Mythos zu dekonstruieren und als Legende zu entlarven.11
Die 1972 gedrehte Verfilmung der Erzählung von Boris Wassiljew A sori sdes tichije (Im Morgengrauen ist es noch still, Regie: Stanislaw Rostozki) behandelt  ernsthaft und mit großer Empathie das Thema des Einsatzes der Frauen im Krieg. Das Grauen des Krieges trifft die Frauenstaffel sehr schnell und unvorbereitet. Fünf Mitglieder des Spähtrupps kommen beim Einsatz ums Leben. Schon zu Zeiten seiner Entstehung erfreute sich der Film großer Beliebtheit beim Publikum. Bis heute hat sich daran nichts geändert und er wird jedes Jahr wieder anlässlich des Siegestages am 9. Mai im russischen Fernsehen gezeigt, 2015 entstand sogar ein Remake.

Vielstimmige Gegengeschichten

In der am heroischen Großen orientierte Erinnerungskultur hat jedoch das unbekannte weibliche Opfer nur sehr wenig Platz. Die ausführlichen Interviews, die die belarussische Schriftstellerin und spätere Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in den 1980er Jahren mit Hunderten von Kriegsteilnehmerinnen führte, machten deren oft haarsträubende Erfahrungen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.12 Diese hatten mit den Erwartungen und Hoffnungen, die die jungen Frauen einst an die Front getrieben hatten, nur wenig gemein. Abenteuerlust, Emanzipationsbegehren, Heldentum, die Lust, mit den Männern gleichzuziehen, hatten am Anfang gestanden. Übrig blieben unendliche Müdigkeit und vielleicht noch Erleichterung darüber, wenigstens am Leben geblieben zu sein. Es gab den Stolz auf die eigene Leistung, aber auch das Wissen um die Strapazen, den Hunger, den Ekel, die Angst, das Sterben und die Unerträglichkeit des Tötens. 
Während das Kriegserleben männlicher Frontkämpfer im Kontext des pompösen öffentlichen Kriegskultes umgedeutet und geglättet wurde,  folgten die ehemaligen Soldatinnen nicht den üblichen heroischen Floskeln und patriotischen Stereotypen der in Massenauflage verbreiteten Kriegsbücher und -romane. So entstanden erschütternde Berichte  – „vielstimmige Gegengeschichten“ – über Einsätze bis zur völligen Erschöpfung, das Gefühlschaos nach dem ersten tödlichen Schuss, schwerste Verwundungen,  Verstümmelungen und psychische Störungen als Kriegsfolge.

Betrug um den gerechten Anteil am Sieg

Nach Kriegsende wurden die Frauen nicht nur schnell aus der Armee entlassen und mussten jede Aussicht auf eine militärische Laufbahn aufgeben, sondern der Staat betrog sie geradezu um ihren gerechten Anteil am Sieg, ja nahm sie nicht einmal vor pauschalen Verleumdungen in Schutz. Jedenfalls fanden weibliche Armeeangehörige keinen angemessenen Platz im sowjetischen Gedächtnis an den Großen Vaterländischen Krieg, der fortan als männliche Leistung konstruiert wurde.13 Sie nahmen nicht einmal an der großen Siegesparade vom 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz teil. Dies unterstreicht, dass die Rekrutierung von Frauen für den Kriegsdienst nicht Ausdruck einer konsequenten Fortführung des Emanzipationsgedankens war, sondern in erster Linie der Abwehr einer existenziellen Niederlage dienen sollte. Daher brachte die Mitwirkung am Sieg den Soldatinnen auch keinen greifbaren gesellschaftlichen Gewinn. Im Gegenteil: Zur gesellschaftlichen Ablehnung der Frontkämpferinnen trug wesentlich das spießig-konservative Frauenbild bei, das die staatliche Propaganda beherrschte. 
Jetzt stellte der Staat wieder ganz traditionelle Anforderungen an die Frauen: liebevolle Unterstützung der (versehrten) Kriegsheimkehrer bei deren Rückkehr ins zivile Leben und den Ausgleich der immensen Kriegsverluste durch vielfache Mutterschaft. Selbst unverheiratete Frauen sollten Kinder gebären, deren Väter anonym bleiben durften, während der Staat sich eher knauserig an den Kosten beteiligte.14 Für viele Frauen bedeutete das Kriegsende deshalb keineswegs den Beginn der langersehnten „Normalität“ mit Ruhepausen und einem verbesserten Angebot an Konsumgütern, sondern einen erneuten Kampf ums Überleben unter armseligen Wohn- und Lebensverhältnissen. Zwar glorifizierte die Propaganda den Ruhm der Mutterschaft,15 doch in der Realität ließen Väterchen Stalin und „Vater Staat“, aber auch viele leibliche Väter, die Frauen und Mütter oft im Stich.


1.Rodina-Mat’ sovet! Plakaty Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskau 2014, S. 46, S. 131, S. 162
2. Conze, Susanne: Weder Emanzipation noch Tradition. Stalinistische Frauenpolitik in den vierziger Jahren. In: Stefan Plaggenborg (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 293
3. Ibid. S. 295
4. Rešenija partii i pravitel’stva po chozjajstvennym voprosam, Bd. 3, Moskau 1962, S. 64
5. Deutsch-Russisches Museum Berlin Karlshorst (Hg.): Katalog zur Dauerausstellung, Berlin 2014, S. 109
6. Fieseler, Beate: Patriotinnen, Heldinnen, Huren? Frauen in der Roten Armee 1941 – 1945. In: Geschichte in Wissenschaft und  Unterricht 65 (2014), S. 37 – 54; dies.: Rotarmistinnen im Zweiten Weltkrieg. Motivationen, Einsatzbereich und Erfahrungen von Frauen an der Front. In: Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.): Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011, S. 301 – 329; Markwick, Roger D./Cardona, Euridice Charon: Soviet Women on the Frontline in the Second World War, New York 2012; siehe auch die Beiträge von Carmen Scheide und Roger D. Markwick in: Melanie Ilic (Ed.): The Palgrave Handbook of Women and Gender in Twentieth-Century Russia and the Soviet Union, London 2018.
7. Fieseler, Patriotinnen, S. 38
8. Markwick/Cardona, Soviet Women on the Frontline, S. 66
9. Siehe etwa die Plakate „Slava boevym podrugam“ (1941) und „Vstavaj v rjady frontovych podrug“ (1941). In: Rodina-Mat’ sovet!, S. 46.
10. Rathe, Daniela: Soja – eine „sowjetische Jeanne d’Arc“? Zur Typologie einer Kriegsheldin. In: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 45 – 59
11.  Sartorti, Rosalinde: On the Making of Heroes, Heroines, and Saints. In: Richard Stites (Ed.): Culture and Entertainment in Wartime Russia, Bloomington-Indianapolis 1995, 176 – 193
12. Die erste, noch zensierte, Ausgabe erschien 1987: Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Berlin. Eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe erschien 2004 (ebenfalls Berlin); eine nochmals erweiterte Ausgabe ebd. 2013. Zum Werk von Aleksievič siehe: Nackte Seelen. Svetlana Aleksievič und der „Rote Mensch“. Themenheft der Zeitschrift Osteuropa 68 (1-2), 2018 (dort besonders die Beiträge von Karla Hielscher und Nina Weller).
13. Siehe zum Beispiel das Plakat von Viktor Klimašin: ‚Ruhm dem Kämpfer-Sieger‘. In: Naša Pobeda, S. 245
14. Nakachi, Mie: Population, Politics and Reproduction. Late Stalinism and its Legacy. In: Juliane Fürst (Hg.): Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention, New York 2006, S. 23 – 45
15. Siehe etwa die Plakate von Nina Vatolina „Ruhm der Heldenmutter“ und „Ruhm der heldenhaften Sowjetfrau“, beide aus dem Jahr 1946. Ersteres in: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hg.): Triumph und Trauma, Berlin 2005, S. 72
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