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„Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

Da kopulieren ein Stalin-Klon und Chruschtschow, ein Bojar wird hingerichtet, es folgt die Gruppenvergewaltigung seiner Witwe, auch die Sprache ist voller Gewalt und Sex: Vladimir Sorokin verstößt in seinen Werken gezielt gegen Tabus und gilt als enfant terrible der russischen Literatur. Seine umstrittenen Werke sind zu lesen als Parabeln auf das post-sowjetische Russland und seine imperialen Vorläufer. Während die kremlnahe Jugendorganisation Iduschtschije Wmeste 2002 Sorokins Werke öffentlichkeitswirksam in einer Toilettenattrappe versenkte, feiern Sorokins Anhänger seine Bücher als geradezu prophetische Meisterwerke.

Seine Werke erschienen erst nach der Perestroika auch in Russland, heute lebt Sorokin in der Nähe von Moskau und in Berlin. Zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 2015 hatte ihn Andrej Archangelski, bekannter Feuilletonist und Kultur-Redakteur bei Kommersant-Ogonjok, getroffen. Im Interview nimmt Sorokin die zeitgenössische russische Literatur, Politik und Gesellschaft auseinander. Es bleibt nicht viel übrig. Zu Sorokins 62. Geburtstag im August 2017 veröffentlichte Ogonjok das Interview erneut.

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Vladimir Sorokin gilt als enfant terrible der russischen Literatur / Foto © Jewgeni Gurko/Kommersant

Kommersant-Ogonjok: Wenn die Leute hören, wie alt der Schriftsteller Vladimir Sorokin ist, ist die Verwunderung groß: „Wie ist das möglich?!“ Wundern Sie sich auch selbst?

Vladimir Sorokin: Nein. Ganz ehrlich, auch wenn das ein wenig anstößig klingt, ich bin innerlich in meiner Studentenzeit steckengeblieben. Hoffnungslos. Im Inneren bin ich ein ewiger Student. Da kann ich gar nichts gegen tun. Ich bin einfach nie erwachsen geworden.

Sie gelten noch immer, sagen wir mal, schon die letzten 30 Jahre als das wichtigste literarische Ereignis Russlands. Ich möchte Ihnen damit jetzt gar nicht unbedingt ein Kompliment machen – das ist ja eher ein Problem. Sie sind nicht mal ein Produkt der 1990er, sondern der unzensierten Kunst der Sowjetunion. Das heißt, seitdem gab es in der russischen Literatur nichts grundsätzlich Neues. Da stimmt was nicht.

Andrej, kein Kommentar ... Reden wir lieber über andere Autoren. Ich frage meine Bekannten in verschiedenen europäischen Ländern: Was lest ihr von der zeitgenössischen russischen Literatur? Diese Frage habe ich auch einem alten Freund gestellt, dem deutschen Slawisten Igor Smirnow – ein knallharter Fachmann. Er sagte lakonisch: „Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Denn die postsowjetische Prosa ist gleichsam aus den Scherben vorheriger Errungenschaften zusammengesetzt. Und das ist ein Problem.

Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos

Mir geht es genauso, ich schlage einen neuen Roman auf, lese fünf Seiten und lege ihn weg. Völlig überraschungsfrei. Gibt es also keine Schriftsteller? Aber die Leute schreiben doch, veröffentlichen, werden gelesen. 

Ich habe dem legendären Verleger Sascha Iwanow, der den Finger immer am literarischen Puls der Zeit hat, dieselbe Frage gestellt: „Wo sind die neuen Sterne am Literaturhimmel?“ Er sagt: „Weißt du, Volodja, da geht es nicht um einzelne Sterne, sondern um den Sternenhimmel.“ 

Er liegt damit tatsächlich absolut richtig: Von der Literatur erwartet niemand mehr existenzielle Offenbarungen, Erschütterungen. Man erwartet von ihr entweder Behaglichkeit oder euphorisches Vergessen. Was im Prinzip ein und dasselbe ist.

Wollen Sie damit sagen, dass die Literatur am Ende ist? ... Dass es keine objektiven Umstände für ihr Entstehen gibt? Ist es das Ende der Literatur an sich? Oder ist gerade einfach nicht die Zeit dafür? ... 

Hm, was das Ende angeht, weiß ich nicht – solange es noch einen einzigen Leser gibt, ist die Literatur nicht tot. Man möchte glauben, dass das nur eine Phase ist ... Aber was danach kommt, weiß niemand. Weil die Welt der digitalen und visuellen Technologien den Menschen immer wieder auf seine Robustheit hin testet. Der Mensch ist so ein formbares Tier – der zerbricht nicht, sondern verbiegt sich. Bis er schließlich in diesem gekrümmten Zustand sich selbst zuwiderhandeln kann. Wenn das Visuelle dann alle wieder langweilt, dann ist vielleicht wieder Platz für wortgebundene Phantasie. Wenn der Mensch zu sich zurückkehren will. Oder klingt das utopisch?

Was vor 50 oder 40 Jahren noch Merkmal einer bestimmten literarischen Strömung war, des Konzeptualismus, ist jetzt zur Regel geworden. Nun hat sich aber das System der schriftstellerischen Tätigkeit insgesamt sehr wohl verändert. Der Autor setzt sich wieder unter'n Apfelbaum und denkt, jetzt schreib ich wie Turgenjew. Oder wie Schukschin. 

Da haben Sie recht. Aber was meiner Ansicht nach den meisten zeitgenössischen Autoren fehlt, sind eigene Welten. Sie benutzen quasi fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen. Du schlägst ein Buch von Prilepin auf und merkst sofort, diese Eichenholzstühle kennst du schon aus der sowjetischen Prosa, nur hat er sie so modisch glänzend lackiert und bunt gepolstert. Aber wir suchen in der Literatur doch das Einmalige. Platonow, Charms, Bulgakow, Schalamow, Sascha Sokolow, Mamlejew, die waren einmalig. 

Zeitgenössische Autoren benutzen fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen

Obwohl es Leute gibt, die gern immer die gleichen Romane lesen. Aber das ist schon eine Art literarisches Fitnesstraining. Jedes Jahr lässt der Autor einen erwarteten und vorhersagbaren Roman vom Fließband plumpsen. Das Fließband der Pop-Literatur läuft ohne Unterlass. Nein, ich bin bei der Literatur für die Einzelanfertigung.

Auch wenn das im Hinblick auf Ihre Prosa absurd klingt, aber früher hat Sie doch eigentlich der Mensch interessiert. Alles drehte sich um das Individuum, auch wenn es ein grauenhaftes Ungeheuer war. Sie haben versucht, damit zu arbeiten. Und dann haben Sie den Menschen irgendwie fallengelassen. Ich würde sagen, Sie sind enttäuscht vom Individuum.

Ich kann dazu wenig sagen. Ich verlasse mich schon mein Leben lang auf meine Intuition und wenn ich arbeite, dann funktioniere ich im Grunde wie ein Medium. Deswegen analysiere ich nie während der Arbeit. Ich löse einfach gewisse Konstruktionsaufgaben. Das ist ein komplexer Prozess, den man schwer erklären, formulieren kann.

Aber wenn Sie schon so eine Frage stellen, (lacht) so eine anthropologische! Ja, ich würde sagen, dass ich vom postsowjetischen Menschen mehr enttäuscht bin als vom sowjetischen. Weil im sowjetischen Menschen eine gewisse Hoffnung lag – dass er früher oder später Sowjetisches, Allzusowjetisches in sich überwinden kann, dass das zusammen mit der Struktur verschwindet. 

Der postsowjetische Mensch ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater

Jetzt ist klar geworden, dass es im 20. Jahrhundert zu derartigen Mutationen kam, begleitet vom Massenterror, dass das genetische Opfer dieser furchtbaren Selektion eigentlich darin besteht, dass der postsowjetische Mensch nicht nur nicht gewillt ist, den sowjetischen Eiter aus sich herauszudrücken, sondern ihn, im Gegenteil, auch noch als frisches Blut wahrnimmt. Aber mit solchem Blut wird er zum Zombie. Er ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater.

Es ist mittlerweile banal zu sagen, dass wir seit ein paar Jahren in der von Ihnen im Roman Telluria erdachten Welt leben: Wir haben von protosowjetischen, irgendwie rekonstruierten „Volksrepubliken“ gelesen, in denen Touristen Extremurlaub suchen – ein Wochenendtrip in die alte UdSSR. Das las sich alles als Utopie – genau bis 2014. Und dann wurde das, genauso wie alles andere, was Sie erfunden, was Sie, wie sich herausstellte vorhergesehen haben, zum Gemeinplatz. Macht Ihnen das nicht Angst, dass Sie das alles erfunden haben?

Diese letzte Frage, Andrej, ist mittlerweile auch schon banal, sorry. Nein, Angst macht mir das nicht ... Das Leben ist härter als die Literatur. Ja, tellurische Züge sind in den aktuellen Entwicklungen bereits offensichtlich. 

Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt

Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt und in Schieflage gerät. Und damit meine ich nicht nur das Schiff Russland. Auf der Europa fangen die Möbel genauso an zu rutschen, auch wenn die Leute hübsch an Deck flanieren, tanzen und an der Bar sitzen.

Alle Ihre Bücher der 1980er und 1990er handeln, wenn ich das richtig verstehe, von der Grausamkeit, die jeder von uns in sich trägt. Die Lektüre Ihrer Werke hat dann den richtigen Effekt, wenn man beginnt, vor sich selbst auf der Hut zu sein. In jedem von uns schläft die Hölle, die muss man niederhalten. 
Seit 2014 ist so ein gesellschaftliches Phänomen aufgetaucht, das alles verschlungen hat – eine völlig unmotivierte Grausamkeit ist zum Vorschein gekommen. Die nicht einmal physisch ist, sondern moralisch.

Sie ist ontologisch. Die russische Grausamkeit hat eine lange Geschichte, über viele Jahrhunderte. Die aktuelle, postsowjetische, ist eine Variation auf dasselbe Thema. Das spüren wir alle auf energetischer Ebene, da geht es gar nicht mal um Fernsehen, Politik oder Kriegshandlungen. Sondern darum, wie sich die Menschen auf der Straße verhalten, in der Metro, am Steuer ... Und ich finde, das ist auch ein Symptom dessen, dass die Gesellschaft nicht einfach die Stabilität verliert, sondern den Glauben an die Zukunft. 

Es herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich

Das hat nichts zu tun mit der neuen Reichsidee von wegen „wir sind die Besten“, wir sind von Feinden umzingelt, das geht tiefer. Das hängt eben mit der Schieflage des Decks zusammen. Wenn ein Erdbeben losgeht, versetzt das alle Tiere in Angst und Schrecken. Die einen jaulen verzweifelt, die anderen schnappen zu. Insofern ... herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich.    

In Telluria gibt es viele Typen von Zukunft, aber es gibt keinen, der uns die Realität beschert hätte und den ich als Katastrophentyp bezeichnen würde: Ein Mensch, der der ganzen Welt den Zusammenbruch wünscht – als Strafe für irgendwelche Sünden. 
Woher kommt eine solche Reaktion nach Jahren voller neuer, nie dagewesener Möglichkeiten – in denen sich der Bewohner Russlands so viel leisten konnte wie nie zuvor?

Nochmal, die Menschen haben nicht das Gefühl, dass uns glückliche Zeiten bevorstehen. Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist. Von jungen Leuten höre ich ständig: „Ich habe hier keine Zukunft.“ Gespräche über Emigration sind zur Normalität geworden. Die Gesellschaft zittert in unheilvoller Vorahnung. 

Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist

Wofür kann sich der postsowjetische Mensch verachten? Dafür, dass er es nicht geschafft hat, frei zu werden, das Prinzip der Staatsmacht zu verändern. Die Staatsmacht war schon immer ein Vampir, und sie ist es auch geblieben. 

Reden wir darüber, was diesem Bösen entgegentreten soll. Es hat sich gezeigt, dass wir überhaupt keine Friedensethik haben, keine friedliche Tradition, kein Konzept des friedlichen Zusammenlebens. Nach all den Sowjet-Plakaten mit Tauben und durchgestrichenen Atombomben drauf hat sich herausgestellt, dass dieses Friedensprogramm komplett hohl und inhaltsleer war. 

So wie es auch keine Freundschaft gab, im Grunde. Ich meine dieses sowjetische Seit an Seit ... Das war ein grandioser, von der Staatsmacht geförderter Selbstbetrug. In der Kommunalka ist die Freundschaft immer eine erzwungene. Ich glaube, wir haben noch immer eine der am meisten atomisierten und isolierten Gesellschaften. Im Grunde, Andrej, je weiter ich mich zeitlich von der Sowjetzeit entferne, desto hässlicher und fürchterlicher erscheint sie mir. Das war wirklich ein Reich des Bösen. Was war das für ein Weltfrieden, wenn der Krieg der Staatsmacht gegen das Volk unaufhörlich im Gang war – verstecke sich wer kann. 

Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben

Viele Dinge, die heute passieren, sind nicht verarbeitete Komplexe aus der sowjetischen Vergangenheit, und da schlage ich wieder in meine Lieblingskerbe: Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht zur rechten Zeit begraben, also in den 1990er Jahren. Sie wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben. Das diejenigen sehr geschickt erweckt haben, die ganz genau wussten, wie es aussah, wo seine Nervenzentren liegen. Dort haben sie die jeweiligen Nadeln gesetzt. So ist das mit dem vaterländischen Voodoo. Ich fürchte, die Folgen dieses Experiments werden katastrophal sein.

Und diese neue Sprache des Hasses – erforschen Sie die? Das ist doch Ihr Element.

Was die Sprache des Hasses angeht, war unser Land schon immer reich. Es genügte schon, in der Stoßzeit im sowjetischen Bus zu fahren. Eine Fundgrube! Da braucht es eigentlich keine besondere Aufmerksamkeit, ich habe feine Ohren. Doch der heutige, neoimperiale, sozusagen offizielle Hass ... in dieser Sprache liegt trotz all ihrer Grimmigkeit und Vulgarität etwas Hysterisches, eine gewisse Schwachheit. Man kriegt so ein Gefühl, die Leute würden kapieren, dass sie das jetzt hinausschreien müssen, weil es morgen vielleicht nichts mehr zu schreien und niemanden mehr anzuschreien gibt.Man spürt in alldem eine gewisse Agonie. Wenn man das mit der Rhetorik des alten totalitären Regimes vergleicht, dann wurde damals mit großem Vertrauen in den morgigen Tag gesprochen. Der Massenterror half dabei. Sie wussten, solange es den Eisernen Vorhang gibt, gehört die Zukunft ihnen. Und das spürte man in jeder Zeile der Prawda

Aber wenn jetzt der Fernsehmoderator sagt: „Wir können die USA jederzeit in radioaktive Asche verwandeln“, dann glaub ich ihm das nicht. Der glaubt sich ja selbst nicht.

Im Grunde leben wir in einer üüüberaus spannenden Zeit! Das ist schon lange nicht mehr Gogol, sondern Charms ... 

Ist so etwas wie Reue möglich, ein Eingeständnis eigener Fehler, eigener Schuld – als Form der endgültigen Einschläferung dieses Zombies, dieses Monsters? 

Reue kann es erst nach der Katastrophe geben. Das ist keine Arznei, die man verabreichen kann. Ich glaube, freiwillig wird es hier keine Reue geben. Um zu bereuen, muss man erst ordentlich hinfallen, sich den Kopf anschlagen und, während man sich die Beule reibt, fragen: Was hab ich falsch gemacht? Für die Reue muss man sich selbst von der Seite sehen, als Ganzes und ohne Beschönigung.

Die Geschichte insgesamt hat auch die absolute Schwäche der zeitgenössischen Kultur aufgezeigt. Ist das nicht ihr grandioses Scheitern?

Die Kultur ist eine zarte Dame, keine Junge Frau mit Ruder. Für sie war das Déjà-vu mit dem Sowok zu viel des Guten. Sie braucht Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Setzt sich erstmal ein Weilchen auf die Chaiselongue und verschnauft.

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Vladimir Sorokin

Man schreibt das Jahr 2027. Volksfeinde, sofern sie noch nicht außer Landes sind, werden öffentlich in Kesseln gekocht. Zeitungsschreiber „mit Entenfedern im Arsch“ vom Turm gestürzt. Nach Westen ist das Land durch eine „große Mauer“ abgeschottet. Der Herrscher hat „den russischen Bären“ wieder zum Brüllen gebracht, „so dass die ganze Welt ihn hören kann“. Die mit Sonderprivilegien ausgestattete Schutzstaffel der Opritschniki säubert das Land von aufsässigem Gesindel.

Diese fiktive Realität, die Vladimir Sorokin in seinem Roman Den Opritschnika (dt. Der Tag des Opritschniks) kreiert hat, sollte ein kritisch auf die Gegenwart zielendes Lehrstück sein. Verschlüsselt durch bildhafte Verfremdungen erschien der Roman im Jahr 2006 und avancierte sehr schnell zum umstrittenen Kultbuch. Sorokins Welt in diesem wie auch in anderen Texten kennzeichnen Gewaltszenen, obszöne Sprache und dystopische Visionen. Für die einen ist das nichts als postmodernes Geschreibsel voller Zoten und Flucherei, für die anderen sind Sorokins Texte dagegen prophetische Meisterwerke.

Geboren 1955 im Moskauer Vorort Bykowo wuchs Vladimir Sorokin in der Sowjetunion des Tauwetters auf. Beeinflusst durch den Moskauer Konzeptualismus schrieb er seinen ersten, ganz in Dialogform gehaltenen Text Otschered (dt. Die Schlange). Dieser erschien 1985 in der Pariser Emigrantenzeitschrift Syntaxis und brachte dem Leser das „Erlebnis“ Schlangestehen in der Sowjetunion als elementares Lebensgefühl nahe. Da seine Werke zunächst nur in Westeuropa veröffentlicht wurden, wurde Sorokin in seiner Heimat erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt. Heute gehört er zu den anerkanntesten und meist diskutierten Schriftstellern in Russland. Neben Viktor Jerofejew, Viktor Pelewin und Tatjana Tolstaja gilt er als einer der Hauptvertreter der russischen Postmoderne. Fast noch bekannter ist der Autor allerdings außerhalb seines Heimatlandes: Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab Sorokin bekannt, nicht nach Russland zurückzukehren, solange Putin an der Macht sei. Er lebt in Berlin, seine Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ins Deutsche wurden die meisten seiner Texte, unter anderem Der Tag des Opritschniks, von Andreas Tretner übertragen.

Politischer Visionär

In vielen seiner literarischen Werke verstößt Sorokin gezielt gegen politische und moralische Tabus und gilt deshalb als enfant terrible der russischen Literatur. Zum Beispiel wurde er aufgrund seines Romans Goluboje Salo (dt. Der himmelblaue Speck) angegriffen, wo er etwa in einer grotesken Kopulationsszene zwischen einem Stalin-Klon und dem fiktiven Chruschtschow das Fortwirken stalinistischer Tendenzen anprangert. Seit dem Erscheinen dieses Romans im Jahr 1999 gilt sein Autor als politischer Visionär. Immer wieder wird Sorokin seitdem auf seine neue, engagiert staatsbürgerliche Haltung hin angesprochen und deswegen auch kritisiert.

Verstößt gezielt gegen politische und moralische Werte – Autor Vladimir Sorokin / Foto © Wodnik/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

2002 warfen Vertreter der kremlnahen Jugendorganisation Iduschtschije wmeste Exemplare seiner Bücher in eine Toilettenattrappe. Sorokin landete wegen Pornographie vor Gericht, wurde aber 2003 freigesprochen. Während er in Goluboje Salo aus dem Jahr 2068 in die Hitler-Stalin-Zeit und wieder zurück springt, malt er in Den Opritschnika ein düsteres Bild der Gegenwart im Gewand der Zukunft des Jahres 2027.

Der aus der Täterperspektive erzählte Tagesablauf des Opritschniks Komjaga beginnt mit dem Klingelton seines „Mobilos“: den Schmerzensschreien eines Gefolterten. Entsprechend gewalttätig gestaltet sich der ganze Arbeitstag. Der Opritschnik beginnt ihn mit der Hinrichtung eines staatsfeindlichen „Bojaren“ (der gleichnishaft für eigenmächtige Regionalgouverneure oder Oligarchen stehen könnte) und der Gruppenvergewaltigung von dessen Witwe. Und er endet nach dem Abendmahl, dem der „Gossudar“ (dt. Herrscher) virtuell zugeschaltet ist und bei dem auch kirchliche Würdenträger anwesend sind, mit einem perversen Gruppenritual der Opritschniki in der Banja.

Gegenwart Russlands liegt in seiner imperialen Vergangenheit

Sorokin ist der Auffassung, das gegenwärtige Russland sei nur noch mit den grotesken Mitteln der Satire abzubilden. Seine scheinbar paradoxe Prämisse lautet: Die von Machtvertikale und Geheimdienst bestimmte Gegenwart Russlands liegt in seiner imperialen Vergangenheit. So ist die Erzählung im Den Opritschnika zwar in der Zukunft angesiedelt, aber die Sprache und die Realien sind der Zeit Iwans des Schrecklichen (16. Jahrhundert) angenähert, von wo der Begriff Opritschniki auch stammt.

Markenzeichen des Opritschnik-Textes und weiterer retrofuturistischer Erzählbände und Romane Sorokins, wie Sacharni Kreml (dt. Zuckerkreml, 2008), Metel (dt. Schneesturm, 2012) und Telluria (2013), ist die Vermischung von Zukunft und Vergangenheit auf der Sprach- und Erzählebene, und andererseits eine Poetik, die auf der Ästhetik von Obszönität und Gewalt basiert. Freilich entziehen sich Sorokins verfremdende Dystopien, mit denen er die Schmerzpunkte der russischen Gesellschaft treffen möchte, einer wörtlichen Lesart. Sie fordern vielmehr eine parabelhafte Lektüre. Doch selbst so können seine explosiven Texte nicht entschärft werden, weil sie die schwarze Satire als einzige Alternative zum Bestehenden aufrufen.

Sorokins vielschichtige Parabeln stellen eine Dystopie im Sinne von Huxley und Orwell dar. Das Wesentliche an ihnen ist, dass sie der russischen Gegenwart beklemmend nahezukommen scheinen. Sorokin reagiert mit seinen fiktionalen Texten vor allem auf die herrschenden Post-Perestroika-Diskussionen, die von einem nationalpatriotischen beziehungsweise neoimperialistischen Ton1 dominiert werden. Diesem zeithistorisch-politischen Hauptdiskurs sind weitere untergeordnet, wie der kulturanalytische, der literarische, der folkloristische und der popkulturelle. So bestehen seine Texte wie Flickenteppiche aus verschiedenen Verweisen, Motiven und Allusionen, was das Lesen der meist unterhaltsam geschriebenen Werke in der Tat zu einem intellektuellen Akt macht.

Warnung versus Vorbild

Seine Texte, die als Lehrstücke auf die Gegenwart zielen und vor totalitärer Staatsgewalt warnen wollen, werden kontrovers und oft sehr unerwartet rezipiert. So wird etwa Den Opritschnika von vielen „Kremlnahen“ gelesen und geschätzt: Während sein Roman für die einen die Realität abbildet, die unbedingt verhindert werden muss, lobten ihn die anderen dafür, dass er zeige, was Russlands inneren Feinden droht.2

Bemerkenswert ist, dass die öffentliche Diskussion der von ihm aufgegriffenen Themen auch jenseits der Literaturwelt geführt wird – ganz im Geiste des Postmodernismus. Der Journalist Michail Leontjew – Mitherausgeber des Bandes Festung Russland und somit einer, gegen den Sorokin in seinen Büchern indirekt polemisiert – gründete 2008 in einem fensterlosen Moskauer Gewölbekeller ein Nobelrestaurant namens Opritschnik. Dort werden die Gäste nach alter Sitte des Zarenreichs bewirtet. Aktivisten der subversiven Künstlergruppe Woina schweißten den Eingang zu, um zu demonstrieren: Ein Revival der Zeit Iwans des Schrecklichen – wie es etwa Sorokin im Den Opritschnika andeutet – verheißt nicht imperiale Freuden, sondern einen neuen Eisernen Vorhang.3


1.Sorokins „Opritschnik“-Roman ist eine parodistische Auseinandersetzung sowohl mit Aleksandr Prochanovs Text Gospodin Geksogen (2001) als auch mit dem u. a. von Michail Leont’ev hrsgg. Band Krepost’ Rossija: Proščanie s liberalizmom (2005) sowie Michail Jur’evs Thesenroman Tret’ja Imperija: Rossija, kotoraja dolžna byt’ (2006), vgl. Schmid, Ulrich (2015): Technologien der Seele: Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin, S. 27-33
2.Siehe zum Beispiel die Rede von Alexander Dugin auf der Buchmesse Non-fiction 9 im Jahr 2007: „Alles, was Sorokin beschreibt, wird sich bewahrheiten. Es wird sich nach 2008 bewahrheiten, und zwar in der härtesten Form. Es wird keine spielerische Homoerotik sein, es wird metaphysischer sein, aber insgesamt werden Sorokin-Projekte Wirklichkeit.“
3.Žurnal’nyj zal: Ot opričniny – k dvorcovomu perevorotu: nacional’nye i antisovetskie motivy v akcijach art-gruppy «Vojna»
 
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