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Cancel Culture im Namen des „Z“

Ich beteilige mich nicht am Krieg, so lautete der Titel des Theaterstücks, das am Moskauer Gogol Center am 29. Juni aufgeführt wurde. Dann fiel der Vorhang. Es war der letzte – für das Gogol Center selbst. Die Moskauer Stadtverwaltung tauschte den künstlerischen Leiter aus, gab dem Haus wieder seinen alten Namen Gogol Theater, wollte aber nicht von „Schließung“ sprechen.

Zum experimentellen und schließlich international ausgezeichneten und renommierten Gogol Center war das Theater 2012 geworden, als Kirill Serebrennikow die Leitung übernahm. So viel künstlerische Freiheit jedoch währte nicht lange, 2017 wurde Serebrennikow verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Im Juni 2020 wurde er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. 2022 hat Serebrennikow Russland verlassen. Im Mai eröffnete der Wettbewerb in Cannes mit seinem Film Tchaikovsky's Wife. Dabei sprach sich Serebrennikow nicht nur gegen den Krieg aus, sondern auch gegen ein Verbot russischer Kultur. Außerdem forderte er, den Oligarchen Roman Abramowitsch wieder von der EU-Sanktionsliste zu nehmen – was ihm heftige Kritik einbrachte.

Um Konzertabsagen und „Verbote“ russischer Kultur im Ausland ist in Russland eine Diskussion entbrannt. Michail Piotrowski etwa, Direktor der Sankt Petersburger Eremitage, heizte diese kürzlich in einem Interview mit der staatlichen Rossijskaja Gaseta an – das die Zeitschrift Osteuropa ins Deutsche übersetzt hat: Darin bezeichnete er den „Angriff auf unsere Kultur“ als „Abziehbild von dem, was zu Sowjetzeiten bei uns los war“. 

Solche Kritik greift Alexander Baunow auf, bis zum Angriffskrieg in der Ukraine Chefredakteur von Carnegie.ru, und fragt: Wer ist es tatsächlich, der heute die russische Kultur zerstört?

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Viele finden es seltsam, über die Schließung eines Theaters zu weinen, während woanders Theater zerbombt werden. Dennoch wissen wir alle, dass der Angriff auf das Gogol Center von denselben Leuten initiiert und unterstützt wird wie der Angriff auf Mariupol, wobei das Gogol Center schon früher angegriffen wurde. Der Fall Serebrennikow war offenbar nur die Probe für die folgenden Schließungen, Verbannungen, Bombardierungen und Angriffe.

Wenn man sich anschaut, wie die russischen Politiker bei ihrer Suche nach Vorwürfen gegen Feinde und Kampfziele mit Schaum vor dem Mund zwischen Faschisten, der NATO, den Angelsachsen und Transpersonen wechseln, fällt auf, dass sie sich neuerdings für die Wörter Cancelling und Cancel Culture begeistern. Im Namen der Kultur, in der alles erlaubt ist, kämpfen sie nun für die Freiheit und gegen „die Verbotskultur“.

Ein Ende ist nicht in Sicht

Dieser Kampf begann schon Ende Februar mit der Schließung von Grisha Bruskins Einzelausstellung in der Tretjakowka, als man es weltweit noch gar nicht geschafft hatte, auch nur eine einzige russische Ausstellung abzusagen. Und an dem Tag, an dem das Gogol Center und noch drei weitere Theater geschlossen wurden, erreichte der Kampf seinen vermeintlichen Höhepunkt – vermeintlich, weil das Ende noch nicht in Sicht ist. Uns erwarten noch die Entfernung russischer und ausländischer Bücher aus den Buchhandlungen, die Änderung der Lehrpläne, Verbote von Konzerten, Filme, die im Giftschrank landen, Kunsträte und Samisdat. 

Paul McCartneys Songtitel ‚Back in the USSR‘ war offenbar prophetisch

Die karnevaleske Verbrennung von Sorokins Büchern durch die Jugendorganisation Naschi 2004 im Park beim Bolschoi Theater erwies sich im Nachhinein als genauso prophetisch wie Sorokins Bücher selbst. Insofern ist es nicht überraschend, dass wir in einem Land leben, in dem es kein Gogol Center geben kann. Wir leben in einem Land, in dem Grebenschtschikow und DDT wieder zu Musikern geworden sind, die man nur in Privatwohnungen hören, und in das Paul McCartney erneut nicht einreisen kann. Wäre die Verbreitung von Musik, wie damals, vom Plattenverkauf abhängig, würden diese Platten längst nicht mehr verkauft. Auch Paul McCartneys Songtitel Back in the USSR war offenbar prophetisch. Denn streng genommen wird die Sowjethaftigkeit nicht anhand der Flaggenfarbe bestimmt, sondern genau daran: Sind die Beatles und ein Gogol Center dort möglich? Die Antwort ist: negativ. 

Dieses Moskau und dieses Land gibt es nicht mehr

Das Gogol Center ist natürlich der Ort, an dem ich häufiger war als an jedem anderen Ort in Moskau in den letzten zehn Jahren, und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass es dieses Moskau (und dieses Land) nicht mehr gibt. Menschen, die in Nostalgie nach der realen (oder meistens eher imaginären) Sowjetunion schwelgen, klagen gern, unsichtbare Feinde hätten ihnen ihr Land gestohlen, und sind blind dafür, dass sie selbst einigen Dutzend Millionen ziemlich konkreter Menschen das Land gestohlen haben. Vielleicht sogar der Mehrheit – hieß es doch, dass es vor dem Krieg nicht nur ein paar Exoten gut ging, sondern tatsächlich der Mehrheit. Aber jetzt heißt es plötzlich, ohne den Krieg sei es ihnen schlecht gegangen. Wobei sich ein paar gerade sehr darüber freuen, wie sie sich am unsichtbaren Feind rächen, indem sie ihren Mitbürgern geliebte Dinge wegnehmen.

Unauflöslicher Widerspruch

Die Zerstörung der russischen Kultur in Russland geschieht unter Wehklagen über die ach so schlimme Cancel Culture gegen alles Freie und Russische, und wird begleitet von eifrigen Gesprächen über Importsubstitution. Der unauflösliche Widerspruch liegt auf der Hand. Stellen Sie sich mal ein Konstruktionsbüro oder eine Fabrik vor, wo erfolgreiche, konkurrenzfähige Autos produziert werden, die bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet werden und auf dem inländischen und internationalen Markt gefragt sind. Genau so eine Fabrik war, wenn man so will, das Gogol Center, und so ein Industriezweig war das russische Theater. Seltsamerweise sind wir es gewohnt, herausragend im Ballett zu sein, dabei waren wir in den letzten Jahren im Theater nicht weniger erfolgreich. Und während man darüber spricht, dass die Russen vom internationalen Markt ausgeschlossen werden, nur weil sie Russen sind, macht man jetzt eben jene Fabrik dicht, die auf dem Markt ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Das ist es nämlich, was gerade mit dem Gogol Center und dem gesamten Theater geschieht – einem der wenigen Industriezweige, die auf internationalem Niveau konkurrenzfähig waren.

Das unsichtbare Z um den Hals

Und das geschieht nicht wegen der Qualität des Produkts, sondern wegen des stereotypen Denkens im Obkom (ein echter Kerl fährt einen Moskwitsch), und weil die Erzeuger und die Käufer dieses Produkts sich niemals ein unsichtbares oder ein sichtbares Z um den Hals hängen würden. 

Aber das gilt auch für alle anderen Industriezweige: Es wird keinen technischen Fortschritt oder sonst irgendeinen Durchbruch in Russland geben, solange das wesentliche Kriterium nicht das Wissen oder die Kompetenz eines Menschen ist, und auch nicht, was er herstellt. Sondern nur, ob er willens ist, sich den letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets umzuhängen. 

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Kirill Serebrennikow

Kurzgeschnittener Bart, kahlgeschorener Kopf, Mütze, Brille, ernster Blick. Seit Jahren kennt man den intellektuellen Habitus von Kirill Serebrennikow, der im Moskau der 2000er Jahre eine steile Karriere hingelegt hat. Nach den Theaterbühnen in seiner Heimatstadt Rostow am Don eroberte er innerhalb weniger Jahre die weit bedeutenderen in Moskau. Von 2012 bis 2021 hatte er mit dem Gogol Center sein eigenes Theater und Kulturzentrum, mit einem eigenen Ensemble. Darüber hinaus bekommt er Einladungen zu den wichtigsten Theaterfestivals in Europa und inszeniert auch an großen Opernhäusern in Deutschland.

Seit Mai 2017 sind die medialen Schlagzeilen über Serebrennikow jedoch von einer anderen Art. Er und seine Mitarbeiter sollen 2012 staatliche Gelder veruntreut haben. Konkret geht es um eine Förderung in Millionenhöhe für die Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum im Rahmen des hochsubventionierten Theaterprojekts Plattform. Während des Ermittlungsverfahrens musste der Regisseur einen fast zwei Jahre langen Hausarrest absitzen. Im Juni 2020 hat ein russisches Gericht Serebrennikow schuldig gesprochen und zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er darf das Land nicht verlassen: Zu der Premiere seines Films Leto auf dem Festival in Cannes – wo Serebrennikow den Preis für den besten Soundtrack gewann – durfte er nicht reisen.  Auch die Filmfestspiele 2021 werden ohne den russischen Regisseur stattfinden – obwohl sein Film Die Petrows mit Grippe im Wettbewerb läuft.

Die Frage, warum ausgerechnet Serebrennikow in das Visier der Strafermittlung geraten ist, gibt Anlass zu einer Fülle von Spekulationen, die viel über die politische und gesellschaftliche Situation im Land verraten.

 

Die Mütze ist sein Markenzeichen – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Sasha Kargaltsev/Flickr

Kirill Serebrennikow ist ein vielseitiger Künstler. In erster Linie aber ist er Theaterregisseur. Seit er Anfang der 2000er Jahre in Moskau Fuß fassen konnte, hat er an den besten Häusern der Hauptstadt inszeniert: am Moskauer Künstlertheater MChT, wo einst Stanislawski die Stücke von Anton Tschechow in Szene setzte, am Sowremennik-Theater, am Puschkin-Theater und am Staatlichen Theater der Nationen. Von 2013 bis Februar 2021 waren seine Inszenierungen im Moskauer Gogol Center zu sehen. Dieses Theater- und Veranstaltungszentrum hat der damalige Leiter der Moskauer Kulturabteilung Sergej Kapkow praktisch für Serebrennikow neu geschaffen, es löste das antiquiert-sowjetische Gogol-Theater ab.

Serebrennikows Inszenierungen haben zwei unterschiedliche Stoßrichtungen. Zum einen handelt es sich dabei um originelle Neubearbeitungen der literarischen Klassik, vor allem der russischen Literatur, wie zuletzt Die toten Seelen nach Nikolaj Gogol (2014), Eine alltägliche Geschichte (2015) nach Iwan Gontscharow oder Wer lebt glücklich in Russland? nach Nikolaj Nekrassow (ebenfalls 2015). 
Zum anderen hat sich Serebrennikow mit Inszenierungen zeitgenössischer Dramatiker einer sozial- und gesellschaftskritischen Richtung einen Namen gemacht. So war seine erste Inszenierung am Moskauer Künstlertheater im Jahr 2002 Terrorismus der Brüder Presnjakow, deren Stücke längst auch außerhalb Russlands gespielt werden. Zu seinen neueren Arbeiten am eigenen Haus gehört Märtyrer des deutschen Autors Marius von Mayenburg, ein Stück über religiösen Fanatismus unter Jugendlichen, dessen Schauplatz Serebrennikow vom protestantischen Deutschland ins orthodoxe Russland verlegte.

Avantgarde und Slapstick

Serebrennikow vereint in seinen Inszenierungen zwei scheinbar entgegengesetzte Pole. Zum einen weisen seine Aufführungen eine experimentelle, avantgardistische Seite auf – mit komplexen Sinnstrukturen und einer Fülle an Referenzen quer durch die Literatur- und Kulturgeschichte. Zum anderen tendieren die Inszenierungen zum Spektakel, zu Humoreske und Burleske, was Serebrennikow den Zuspruch des Publikums sichert. 
Serebrennikows Darsteller, insbesondere die Mitglieder des von ihm ins Leben gerufenen Siebten Studios, mimen nicht nur Rollen, sondern verstehen sich auch auf Gesang und Tanz. Auch exzentrische Kostümierungen und Slapstick-Einlagen gehören zum Repertoire. 

Die körperbetonten, stellenweise derben und dann doch wieder tragisch-ernsten Spektakel sind nicht auf ein kleines Theaterstudio, sondern auf den großen Bühnenraum ausgerichtet. Das prädestiniert Serebrennikow geradezu für die Opernbühne, wie seine Inszenierungen an deutschen Opernhäusern zeigen: Salome (2015) und Hänsel und Gretel (2017) an der Oper Stuttgart und Der Barbier von Sevilla (2016) an der Komischen Oper in Berlin. 

Abgesehen davon ist Serebrennikow im Filmgeschäft aktiv, wobei seine Kinoprojekte häufig aus der Theaterarbeit hervorgehen. So auch Utschenik (2016, dt. Der Schüler), der auf der Märtyrer-Inszenierung im Gogol Center basiert, seine Premiere in Cannes feierte und unter dem deutschen Verleihtitel Der die Zeichen liest im Januar 2017 in die deutschen Kinos kam. 
Die Theater-Kritikerin Marina Dawydowa verortet Serebrennikows größtes Talent allerdings im Genre der sozialen Burleske: „Egal, wo er inszeniert – in der Oper, im Theater, im Kino – wenn er sich in diesem Genre bewegt, dann ist er praktisch konkurrenzlos.“1 Diese Stärken zeigen sich besonders in der originellen, international jedoch kaum beachteten Presnjakow-Verfilmung Isobrashaja Shertwu (2006, dt. Das Opfer spielen2).

Symbolfigur des russischen Kulturlebens

Serebrennikows Erfolge im In- und Ausland machen den Regisseur zweifelsohne zu einer Symbolfigur des russischen Kulturlebens. Dabei hat Serebrennikow keine professionelle Theaterausbildung, sondern in seiner Geburtsstadt Rostow am Don ein Physik-Studium absolviert. Der traditionell beziehungsweise konservativ gestimmte Teil der russischen Theater- und Künstlerszene beäugt den umtriebigen Serebrennikow daher seit Jahren nicht nur mit einem gewissen Neid, sondern auch mit dem Argwohn, dass der „Laie ohne Diplom“ die russische Theatertradition zerstöre.3 Allerdings dürfte die zunehmend konservative Stimmung im Land auch unter der kulturellen Elite nicht mehr als ein Mosaikstein im angestrengten Strafverfahren sein. 

Verhaftung: Politische Stimmungsmache?

Indes bezweifelt niemand in der systemkritischen Kulturszene, dass im Fall Serebrennikow ein politischer Wille zum Ausdruck kommt. Als ein mögliches Motiv für die Verhaftung von Serebrennikow wird politische Stimmungsmache im Vorwahljahr 2017 vermutet. So soll die russische Bevölkerung unter dem Schlagwort der Korruptionsbekämpfung von der Effizienz des Staatsapparats überzeugt werden. Der mediale Rummel um den Fall einschließlich der bekannten Unterstützungsrituale wäre dann nicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung sondern Kalkül. Der schauprozessartige Ablauf und die Schlagzeilen über verschwendete Steuergelder weisen durchaus in diese Richtung. 

Gleichzeitig wird der Fall als weiterer Akt im zu beobachtenden Kampf der ideologisch-konservativen Kräfte gegen die Reformer beziehungsweise Pragmatiker gedeutet – so unter anderem von Alexander Baunow vom Moskauer Carnegie Center.4 Mit seiner eindeutigen Haltung gegenüber der Ukraine-Politik oder gegenüber Homosexualität verwundert es nicht, dass Serebrennikow den sogenannten Patrioten schon länger ein Dorn im Auge ist. Besonders bezeichnend erscheint dabei die zynische Reaktion des gewichtigen Filmregisseurs Nikita Michalkow: „Wenn ein Gouverneur oder Minister hinter Gitter kommt, würde das als normal empfunden – nicht dagegen bei einem Regisseur. Vielleicht wären da Gitterstäbe aus Lorbeer angebracht?“5

Der Fall Serebrennikow muss insbesondere den liberalen Kulturschaffenden als ernsthafte Bedrohung erscheinen. Unübersehbar erscheinen die Parallelen zur Verhaftung des Wirtschaftsoligarchen Michail Chodorkowski im Jahr 2003. So könnte der Fall ein Signal dafür sein, dass man nun darangeht, nach Wirtschaft und politischer Opposition auch die Kultur der autoritären Politik zu unterwerfen. 

aktualisiert: 09.07.2021


1.Meduza: «Emu ničevo ne stoit žit na zapadnye kontrakty»
2.Das Stück wurde unter dem Titel Opfer vom Dienst auch auf deutschen Bühnen gespielt, u.a. am Hessischen Staatstheater Wiesbaden im Jahr 2004.
3.vgl. dazu den ausführlichen Artikel von Marina Davydova in der deutschen Zeitschrift Theater heute: Davydova, Marina (2017): Der Staat regiert: Was Ausländer über den Fall Kirill Serebrennikov wissen müssen – sieben Anleitungen, in: Theater heute, Heft Juli 2017, S. 6-9
4.vgl. Alexandr Baunov in der Sendung Osoboe mnenie auf Radio Echo Moskvy, 23.08.2017
5.Nikita Michalkov im Interview mit dem Fernsehsender REN-TV, 25.08.2017
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