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Entfesselte Gewalt als Norm

Irpin, Butscha, Mariupol … Die beispiellose Gewalt, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine sät, so schreibt der Historiker Sergej Medwedew auf Holod, hat ihre Wurzeln in der russischen Gesellschaftsstruktur.

Источник Holod

Nach hundert Tagen Krieg stumpft die Fähigkeit ab, entsetzt und schockiert zu sein. Doch dann tauchen neue Beweise für die Gräueltaten der russischen Armee auf, und man stürzt wieder in den Abgrund.

Anfang April holten russische Soldaten im Dorf Termachiwka bei Kyjiw fünf junge Männer von der Straße, fesselten sie, legten sie im Kreis auf ein Feld, ließen sie zwei Wochen lang so liegen, ein Gewehr auf sie gerichtet. Nachts fielen die Temperaturen auf -10 ° C, es schneite. Einem der Männer schossen sie ins Bein. Neun Tage lag er mit der offenen Wunde da. Dann schleppten die Soldaten die Leiche eines Dorfbewohners an und warfen sie in die Mitte des Kreises: „Damit ihr gut schlafen könnt.“ 

Diese Soldaten haben wohl kaum den Film Grus 200 von Alexej Balabanow gesehen – dem prophetischen Regisseur, der unter anderem das Phänomen des russischen Faschismus vorausgesagt hatte –, doch von ihren perversen Fantasien hätte selbst der verstorbene Filmemacher noch etwas lernen können.

Orgie epischer, entgrenzter Gewalt

Was seit drei Monaten in der Ukraine passiert, ist eine Orgie epischer, entgrenzter Gewalt. Mit Massenerschießungen und bestialischer Folter, der Ermordung von Zivilisten, einfach so, aus Langeweile, zum Spaß, mit Vergewaltigungen und Morden von Eltern vor den Augen ihrer Kinder und umgekehrt, mit Gewalt an Frauen und Mädchen im Alter von acht bis 80 Jahren. Diese Berichte zu lesen ist unerträglich, aber notwendig, aus einer Pflicht des Mitgefühls und der Empathie heraus, aber auch im Versuch zu verstehen, woher dieses archaische Böse kommt, das die russische Armee über das Land gebracht hat, aus welchen irdischen Abgründen, aus welchen Albträumen und Horrorfilmen? Hat in Russland eine genetische Mutation stattgefunden, die gleichgültige Sadisten hervorgebracht hat, die jetzt auf ukrainischem Boden angekommen sind? 
Die Überlebenden, die Zeugen dieser Gräueltaten wurden, erzählen davon gar nicht so sehr voller Angst als vielmehr maßlos erstaunt: „Wpersche take batschymo“, sowas sehen wir zum ersten Mal, „Wir hatten keine Vorstellung davon, dass so etwas möglich ist“.

Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate

Man muss nicht Fjodor Dostojewski, Juri Mamlejew oder Vladimir Sorokin sein, um die dunkelsten Winkel der russischen Seele zu erkunden. Man braucht sich nur die Chronik der Polizeigewalt anzusehen, die Folter auf den Polizeirevieren und in den Strafkolonien, die Verbrechen der Armee, um zu verstehen, dass die Ereignisse in Butscha, Irpin und in den ganzen anderen von den Russen okkupierten Städten und Dörfern weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind vielmehr ein Teil der Norm, Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate.

Die Journalisten von Projekt haben die Vorgeschichte der russischen Einheiten aufgedeckt, die in Butscha stationiert waren – der Name dieses Dorfes bei Kyjiw wird ab jetzt sprechend sein, wie Katyn oder Samaschki. 

Und wie sich zeigt, handelt es sich um Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren. So ist zum Beispiel die 64. motorisierte Schützenbrigade der 35. Armee aus Chabarowsk daheim berühmt-berüchtigt. Ihren Rufnamen Mletschnik benutzt man sogar, um Kindern einen Schrecken einzujagen. Immer wieder kommt es dort zu Selbstmorden, Wehrdienstleistende und Vertragssoldaten fliehen aus der Einheit; allein im Februar 2014 gab es in der Truppeneinheit 51460, die in Knjas-Wolkonskoje stationiert ist, sieben Todesfälle innerhalb von drei Wochen. Es ist bezeichnend, dass Wladimir Putin gerade dieser Einheit nach dem Abzug aus dem Gebiet um Kyjiw den Ehrentitel einer Gardeeinheit verliehen hat – als würde er sie für die Kriegsverbrechen auszeichnen, die sie begangen hat. 

Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren

Eine ähnliche Spur zieht die 127. motorisierte Schützendivision der 5. Armee hinter sich her, ebenfalls im Fernen Osten stationiert: Sie taucht regelmäßig in den Verbrechensberichten auf, und in ihrem Umkreis findet man Leichen von Soldaten ohne Kopf.

In Butscha waren nicht irgendwelche Fanatiker am Werk (es gab Gerüchte über Spezialeinheiten der Rosgwardija und von tschetschenischen Truppen – wobei offenbar auch die an den brutalen Massakern beteiligt waren), sondern reguläre Einheiten der russischen Armee, die allen Reformen von Anatoli Serdjukow und großangelegten Imagekampagnen zum Trotz nach wie vor auf Brutalität als einzigem Mittel der Führung setzt. 

Kriegsverbrechen blieben ungestraft

Jeffrey Hawn von der London School of Economics and Political Science hat die gewalttätigen Praktiken der russischen Armee erforscht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Kriegsverbrechen der russischen Armee im 21. Jahrhundert – von Tschetschenien und Georgien über Syrien und den Donbass bis hin zum Beginn der aktuellen Phase des Kriegs – ungestraft geblieben sind. Die russischen Streitkräfte haben im Unterschied zu den westlichen Armeen keine institutionelle Kultur entwickelt, die die Verluste unter der Zivilbevölkerung minimieren würde: In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt.

„Die heutigen Gräueltaten der russischen Armee resultieren aus der latenten Unfähigkeit, das Erbe ihres sowjetischen Vorgängers zu überwinden“, sagt Hawn. „Letalität und Sieg um jeden Preis bleiben die obersten Prioritäten der russischen Armee.“

In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt

Das Gleiche gilt auch für die anderen Institutionen des russischen Machtapparats: die Polizei, die OMON-Einheiten an die Front schickt, die Russische Garde, das Strafvollzugssystem. In den vergangenen Jahren sind dank der Verbreitung von mobilen Endgeräten in den Strafvollzugsanstalten und dem Zugang zu sozialen Netzwerken Terrabytes von schockierenden Beweisen für Folter, Missbrauch und Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit gedrungen, die seit Jahrzehnten zur gängigen Praxis in den russischen Gefängnissen gehören und zur Norm im Umgang der Verwaltung mit den Häftlingen und der Häftlinge untereinander geworden sind. 

Die russische Gefängniswillkür ist über die Grenzen des Landes gedrungen

In der Ukraine kämpfen heute Soldaten, die aus den depressivsten und kriminellsten russischen Regionen kommen, wo die Gefängnissubkultur die männliche Bevölkerung maßgeblich prägt: Die meisten Männer haben entweder selbst gesessen oder haben enge Freunde und Verwandte, die gesessen haben, die Jugendlichen dort sind in die Netzwerke der AUE involviert – und jetzt ist diese Ordnung mit ihren „Sitten“ und Praktiken der extremen physischen und sexualisierten Gewalt auf die okkupierten Gebiete der Ukraine übergeschwappt: Die russische Gefängniswillkür ist über die Mauern der Lager und über die Grenzen des Landes gedrungen.

Dabei beschränkt sich die Gewalt nicht auf staatliche Institutionen, sie herrscht auch in den Familien, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Jüngeren und Älteren, Vorgesetzten und Untergebenen. Sie dringt aus den abgefangenen Telefongesprächen zwischen russischen Soldaten und ihren Kommandeuren, in denen Mat, Drohungen und Demütigungen grassieren. Aus den Telefonaten und Chatnachrichten der Soldaten mit ihren Familien, in denen sich rührselige Sentimentalität mit Grausamkeit und Zynismus vermischt, in denen Ehefrauen ihren Männern sagen, was sie in den Häusern der Ukrainer essen und welche Schuhgröße sie mitnehmen sollen, und andere sie ermahnen: „Beim Vergewaltigen der ukrainischen Weiber nimm ein Kondom.“

Diese Gewalt ist der russischen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode für das Sozium geworden, das auf Hierarchie und Unterwerfung gründet, auf dem Wegnehmen und Aufteilen von Ressourcen, in dem die rohe Gewalt über der Moral steht und die Macht über dem Gesetz. 
Diese Ordnung wird abgesegnet durch das Verhalten der regierenden Schicht, die das einfache Volk mit ihren Blaulicht-Limousinen zu Tode fährt, die immer ungestraft davonkommt; sie wird abgesegnet durch die Reden von Präsident Putin, der lehrt, dass man „die Schwachen haut“ und man „als Erster zuschlagen muss“, und dafür tosenden Applaus erntet.

Staatlich sanktionierte und ideologisch begründete Gewalt

Normalerweise ist diese Gewalt, die die soziale und politische Ordnung im Land aufrechterhält und legitimiert, für den inneren Gebrauch reserviert, aber jetzt ist sie zum ersten Mal – mit einer zweihunderttausendköpfigen Invasionsarmee – massenhaft über die russischen Grenzen geschwappt, staatlich sanktioniert und ideologisch begründet. Putins Äußerungen zu den „Nazis und Drogenabhängigen“, die er aus den Propagandafakes aufgeschnappt hat (die ihm offensichtlich als Hauptinformationsquelle über die Lage in der Welt außerhalb seines Bunkers dienen), nehmen die Besatzer wörtlich und fragen die überraschten Ukrainer, in deren Häuser sie einbrechen: „Wo sind denn hier die Nazis?“. 

Wenn wir versuchen zu verstehen, was hinter der Bestialität der russischen Besatzer in der Ukraine steckt, sehen wir, dass das Problem nicht einzelne Sadisten und Marodeure sind, sondern das russische System selbst.

 

Ein Anwohner in Odessa vor einem zerstörten Wohnhaus. / Foto © Nina Lyashonok/imago-images

Um bei der Militärmetapher zu bleiben: Russland ist genäht wie ein Soldatenmantel. Nicht wie der von Akaki Akakijewitsch, aus dem die ganze russische Literatur hervorgegangen ist, sondern wie die Uniform eines einfachen Soldaten, eines der grundlegenden Archetypen einer ewig kämpfenden Nation. Der Mantel hat eine Außen- und eine Innenseite. Auf der Außenseite – rau, grob und durchgescheuert von den Jahrhunderten – ist das Land, das Imperium, die Weite, der Krieg, die Panzer und Flugzeuge, die Atombombe, das All, die Kultur, Moskau und Petersburg, Kirchen und Schlösser. Auf der Innenseite, für die Außenwelt unsichtbar, aber eng am Körper anliegend, sind Sklaverei, Pöbel, Kriminalität, Lüge, Tyrannei und die unentrinnbare Grausamkeit des russischen Lebens. 

Wir haben uns daran gewöhnt und tragen sie, uns ständig juckend und kratzend; vereinzelte Patrioten sind sogar der Ansicht, dass das der Preis für unsere Größe sei und sind heimlich stolz auf diese Ordnung des russischen Lebens: Unser Garten mag nicht gejätet sein, und unsere Notdurft verrichten wir im Freien, aber dafür haben wir das Ballett, die Literatur, eine rätselhafte Seele und ein riesiges Imperium.

Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist

Aber jetzt ist etwas durcheinandergeraten: Russland hat sich „entblößt“, den Soldatenmantel umgekrempelt und seine ganze innere Schäbigkeit in Form der „Invasionsarmee“ enthüllt. Es hat der ganzen Welt die sinnlose russische Wut, die finstere Barbarei, seine Verbrechermentalität, Grausamkeit, Gewalt und die Verachtung gegenüber der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben präsentiert, sowohl dem der Ukrainer als auch dem der eigenen Soldaten. 

All die nationalen Merkmale, mit denen wir gelernt haben zu leben, sind plötzlich sichtbar geworden: Die ungeflickten Löcher, die Schwachstellen, schiefen Nähte, der halbverrottete Stoff des russischen Soldatenmantels sind ans Tageslicht getreten, und das ist nicht mehr eine Katastrophe für die Reputation, sondern für die Zivilisation. Sie zerstört die Macht der Inszenierung, auf der Russland die letzten paar Jahrhunderte gegründet war: Die äußere Form des Landes, die sich in diesem obszönen Krieg offenbart hat, entspricht nun seinem Inhalt – Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist. 

Man kann schockiert sein angesichts des abgrundtiefen Bösen, das sich in Butscha und Mariupol aufgetan hat, aber man sollte sich nicht darüber wundern: Ganz Russland ist unser Butscha.

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Russki Mir

Russki Mir (dt. „Russische Welt“) ist ursprünglich ein Kulturkonzept, das in seiner ideologisierten Form auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt wird. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität.
Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, der jeweils am 9. Mai in großen Paraden und darüber hinaus in zahlreichen Produkten der Populärkultur inszeniert wird. Die Russische Welt umfasst ihrem Anspruch nach alle Gebiete, in denen die russische Kultur präsent ist.1

Die Anfänge der Russischen Welt gehen mindestens zehn Jahre zurück. Präsident Putin definierte das Konzept programmatisch bei einem Treffen mit Kulturschaffenden im Jahr 2006: „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch leben, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen Ausdruck so oft wie möglich – Russische Welt.“2 Putin erklärte das Jahr 2007 offiziell zum „Jahr der russischen Sprache“ und verwies dabei auf die Wichtigkeit des Russischen als eines verbindenden Elements zwischen den Bürgern der Russischen Föderation und den „Landsleuten“ im nahen Ausland.
Neben der Sprache wurden aber auch eklektisch einzelne Elemente aus den Werken von Philosophen wie Wladimir Solowjow, Nikolaj Berdjajew oder Iwan Iljin zur Begründung der Ideologie der Russischen Welt herangezogen.
Inhaltlich ist die Ideologie der Russischen Welt weitgehend konturlos und unbestimmt. Immer wieder werden eigene „geistig-moralische Werte“ beschworen, die sich angeblich grundlegend von den Idealen eines als feindlich wahrgenommenen Westens unterscheiden.3

Vom kulturellen Projekt zur Ideologie

Aus einem zunächst nur kulturellen Projekt wurde aber bald eine politische Ideologie, die zur Rechtfertigung der russischen Intervention in Georgien (2008) und der Angliederung der Krim (2014) eingesetzt wurde. Die Militäraktion in Südossetien wurde vom damaligen Präsidenten Medwedew mit dem Schutz der „Landsleute“ begründet (die meisten Südosseten verfügen über russische Pässe).
Wladimir Putin verkündete bereits am Nationalfeiertag 2013, dass „die Russische Welt nicht auf dem Prinzip ethnischer Exklusivität“ beruhe, sondern offen für alle sei, die „sich selbst als Teil Russlands und Russland als ihre Heimat“ betrachteten.4 Ein Jahr später hob der Präsident hervor, Russland habe auf der Krim bewiesen, dass es seine „Landsleute“ beschützen und „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verteidigen könne.5

Auch in den ostukrainischen Kriegsgebieten zeigt der Begriff der Russischen Welt seine Wirkmächtigkeit: In der Präambel der Verfassung der Donezker Volksrepublik wird er gleich vier Mal erwähnt.6

In der nationalen Sicherheitsstrategie, die am 31. Dezember 2015 in Kraft trat, taucht das Konzept der Russischen Welt zwar nicht explizit auf, es gibt aber ein ganzes Kapitel, das sich der Kultur widmet.
Artikel 81 hält explizit fest, dass die russische Sprache folgende Aufgaben erfülle: Sicherung der staatlichen Einheit des Landes, Kommunikation zwischen den einzelnen Nationen der Russischen Föderation, Integration im postsowjetischen Raum sowie Kulturleben der Landsleute im Ausland.7

Die Stiftung Russki Mir

Parallel zur politischen Instrumentalisierung des Kulturprojekts erfolgte eine Institutionalisierung der Russischen Welt. Seit 2007 existiert eine staatliche Stiftung mit dem Namen Russki Mir, die im Jahr 2015 aufgrund der Wirtschaftskrise allerdings nur etwa 60 Prozent der vorgesehenen 750 Millionen Rubel [etwa 10,5 Millionen Euro] erhielt.8 Auf ihrer Website legt die Stiftung offen, dass ihr Ziel in der „Förderung der Verbreitung objektiver Information über Russland, über die russischen Landsleute und Schaffung einer Russland wohlgesonnenen öffentlichen Meinung“ bestehe.9

Die Stiftung Russki Mir ist hauptsächlich im kulturpolitischen Bereich tätig. An ausgewählten ausländischen Universitäten werden Russische Zentren eingerichtet, die Sprachunterricht und Bibliotheksdienste anbieten.10
Bereits die hochkarätige Zusammensetzung des Stiftungsbeirats zeigt, welche Wichtigkeit dieser Organisation beigemessen wird: Aus dem Kabinett sind der Bildungsminister, der Kulturminister und der Außenminister vertreten.

Der Vorsitzende der Stiftung Russki Mir, Wjatscheslaw Nikonow, befindet sich ganz auf der Linie der patriotischen Staatsideologie. Die Ukraine hält er für einen „failed state“, der über „keine Regierung, keine Armee, keine Wirtschaft, keine innere Einheit, keine Demokratie und keine Ideologie“ verfüge.11 Russland sei demgegenüber eine starke Nation, die auf bedeutende historische Errungenschaften zurückblicken könne.

Nikonow beschreibt die russische Geschichte als fortwährende Expansion – von der sibirischen Landnahme über die Kolonisierung Amerikas bis zur Eroberung des Kosmos.12 In solchen Verlautbarungen zeigt sich auch der Unterschied zu ähnlichen Institutionen anderer Länder wie etwa der Goethe-Institute.

Die Reichweite des ideologischen Konzepts der Russischen Welt ist allerdings beschränkt. In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Dezember 2014 in Russland stellte sich heraus, dass 71 Prozent der Befragten noch nie von Russki Mir gehört hatten.13


1. Jilge, Wilfried (2014): Was treibt Russland? Zum Hintergrund der Ukraine-Krise, in: Andruchowytsch, Juri (Hrsg.): Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Berlin, S. 183–194
2. Tztver.ru: Imperia postfaktum: Russkij mir
3. Eltchaninoff, Michel (2016): In Putins Kopf: Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten, Stuttgart, S. 7
4. Kremlin.ru: Reception to mark National Unity Day (2013)
5. Kremlin.ru: Presidential Adress to the Federal Assembly (2014)
6. Zabirko, Oleksandr (2015): „Russkij Mir”: Literatrische Genealogie eines folgenreichen Konzepts, in: Russland-Analysen Nr. 289
7. RG.ru: Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federatcii ot 31 dekabrja 2015 goda N 683 "O Strategii nacional'noj bezopasnosti Rossijskoj Federacii"
8. Kommersant.ru: Minobrnauki nužny den'gi na „Russkij mir“
9. Siehe die Website der Organisation. Die Übersetzung des Zitats folgt dem russischen Original, die deutsche Website von Russki Mir ist sprachlich mangelhaft.
10. Gasimov, Zaur (2012): Idee und Institution: Russkij Mir zwischen kultureller Mission und Geopolitik, in: Osteuropa 5, S. 69–80
11. Wjatscheslaw Nikonow auf RG.ru: Korotkaja telegramma: „Ne nadorvites'”
12. Duma.gov.ru: Wjatscheslaw Nikonow: Otnošeniye k strane vo mnogom zavisit ot togo, čto budet napisano v učebnike istorii
13. Wciom.ru: Press-vypusk №2728
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