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Sprache in Zeiten des Krieges

Ende April hat die ukrainische Rada ein neues Sprachgesetz beschlossen. Es soll das Ukrainische stärken und sieht es unter anderem als einzige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vor. Außerdem ist etwa auch eine höhere Quote für Ukrainisch in Filmen und TV- und Radiosendungen vorgesehen (bei landesweiten Medien soll sie von 75 auf 90 Prozent steigen, bei Regionalsendern von 60 auf 80 Prozent). Landesweit soll das Erlernen der ukrainischen Sprache gefördert werden. Gleichzeitig sieht das Gesetz Geldstrafen vor, wenn die neuen Regelungen nicht eingehalten werden.

Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Ukrainische alleinige Amtssprache, mit dem Krieg in der Ostukraine und nach Angliederung der Krim 2014 wurde die russische Sprache zunehmend zum Politikum. So wurde das neue Sprachengesetz verabschiedet unmittelbar nachdem Russlands Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet hatte, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete erleichtern soll, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Bereits im Vorfeld hatte es heftige Debatten um das neue Gesetz gegeben. Tatsächlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land, wobei Ukrainisch vorwiegend im Westen, Russisch vorwiegend im Osten und Süden gesprochen wird. Viele Ukrainer sind bilingual: So sprechen einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge 46 Prozent der Befragten hauptsächlich oder ausschließlich Ukrainisch mit ihrer Familie, 28,1 Prozent Russisch und 24,9 Prozent Ukrainisch und Russisch (die umkämpften Gebiete im Donbass und die Krim sind von solchen Umfragen ausgenommen).
Der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der vorwiegend Russisch spricht, kündigte schließlich auch an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt prüfen zu wollen.

Auf Republic kommentiert Wladimir Pastuchow, Politologe am Londoner University College, das neue Sprachengesetz und befindet, es sei „das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte“. 

Источник Republic

Irgendwie bekommt man den Eindruck, als hätte man weder in Moskau noch in Kiew verstanden, was bei dieser Wahl eigentlich passiert ist – und ob überhaupt was passiert ist. Bis jetzt tun alle so, als wäre Selensky ein Stein im Schuh des „großen Spiels“, das die „ernsthaften Männer“ miteinander spielen. Und die sind entschlossen, in der Zeit bis zur Amtseinführung eine so vielversprechende Agenda vorzulegen, dass dem neuen Präsidenten das Lachen vergeht. Poroschenko wirkt bei diesem Unterfangen nicht weniger einfallsreich als Putin. Blitzartig beförderte er die Sprachenfrage, die lange irgendwo in der Mitte der To-do-Liste vor sich hin geschmort hatte, ganz nach oben. So wird Selensky sich zum Auftakt wohl nicht mit prosaischen Dingen wie Korruption abgeben dürfen, sondern gleich eine Grundsatzdiskussion führen. Diese wird nicht leicht und allem Anschein nach langwierig.

Die Kompassnadel spielt verrückt

Was die europäische Integration angeht, spielt die Kompassnadel offenbar völlig verrückt und zeigt in eine ganz andere Richtung – in der man mit europäischen Werten kreativer umgeht als in der EU selbst. Ein kurzer Blick auf die europäische Praxis zeigt, dass die Ukraine hier alles andere als im Trend liegt.

In Finnland, wo die schwedischsprachigen Finnen etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Amtssprachen Finnisch und Schwedisch; jede Schule muss das Recht auf schwedischsprachigen Unterricht für schwedische Muttersprachler gewährleisten. Auf den Åland-Inseln ist Schwedisch die einzige Amtssprache. Darüber, dass die Straßennamen dort allesamt zweisprachig sind, hat schon jeder geschrieben, der sich nicht zu schade war. Und selbstverständlich senden die Medien für jedes Publikum in der jeweiligen Sprache.

In Belgien verteilen sich die beiden großen Sprachgruppen – Französisch und Niederländisch – auf etwa 40 zu 60 Prozent. Es erstaunt nicht weiter, dass beides Amtssprachen sind. Erstaunlich ist allerdings, dass wegen eines winzigen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils Deutsch die dritte Amtssprache ist.

Mindestens seltsam

Vor diesem Hintergrund sieht die Ukraine, die das Russische nicht als Amtssprache anerkennen will, mindestens seltsam aus – nach vorsichtigsten Schätzungen beträgt hier der Anteil der russischen Muttersprachler 30 Prozent. Natürlich können Verweise auf fremde Erfahrungen nichts beweisen – auf der Welt gibt es alle möglichen Erfahrungen.

Und die Einwände liegen auf der Hand. Die Schweden versuchen nicht, Finnland zu besetzen, und die Deutschen marschieren nicht durch Antwerpen. Das ist richtig, auch wenn die Schweden Finnland einst besetzt hatten und die Deutschen durch Antwerpen marschiert sind. Aber das ist lange her, und es ist Gras drüber gewachsen, wohingegen die hybride russische Intervention sich im Netz weiterentwickelt. Deshalb muss das Sprachengesetz als eine Art Notgesetz in Kriegszeiten betrachtet werden, das die nationale Sicherheit der Ukraine gewährleisten soll. Und so wird es heute im Grunde auch begründet.

Sprache in Zeiten des Krieges

Ich will das nicht grundsätzlich bestreiten. Ich will nur sagen, dass Russland wirklich alles dafür getan hat, damit so ein Gesetz in der Ukraine entstehen konnte, und dass es die volle Verantwortung dafür trägt, dass der Status der russischen Sprache in einem Land mit einer der weltweit größten russischsprachigen Gemeinden geschwächt wird, ja unter Umständen zu Trash verkommt. Es bringt nichts, auf Poroschenko zu schimpfen, wenn an den eigenen Händen Blut klebt. Nachdem ich das gesagt habe, erlaube ich mir allerdings, den Nutzen dieses Gesetzes für die Ukraine zu bezweifeln, und zwar innerhalb genau der Logik, mit deren Hilfe es vorangetrieben wird: der Logik eines Staates im Krieg.

Wie ein ukrainischer Kommentator auf meinem Blog bei Echo Moskwy treffend bemerkte, besteht das Problem der russischen Sprache in der Ukraine darin, dass dort, wo sie sich konzentriert, schnell auch der russki mir mit der Kalaschnikow auf den Plan tritt. Dieses Problem ist absolut real. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression im Osten der Ukraine werde ich nicht darüber streiten, wie moralisch es ist, das Problem lösen zu wollen, indem man den Gebrauch der Sprache einschränkt, die für ein knappes Drittel der eigenen Bevölkerung grundlegend ist. Ich will nur anmerken, dass mir das gesetzte Ziel völlig utopisch erscheint, und aller Voraussicht nach wird genau das Gegenteil erreicht: Die nationale Sicherheit des jungen ukrainischen Staates wird nicht gestärkt, sondern gefährdet.

Die breite Masse wird vergrämt

Auf dem Papier lässt sich alles Mögliche verordnen, auch die russische Sprache über Nacht aus dem Verkehr ziehen. Aber im Leben ist das unmöglich. Mit welchen Konsequenzen muss man rechnen? 15 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung werden sich vielleicht wirklich bemühen, schnellstens auf Ukrainisch umzusteigen und zu vollwertigen Staatsbürgern zu werden. Nochmal so viele werden versuchen, nach Russland auszureisen, deutlich mehr jedoch in die EU (danke, Visafreiheit – die sagt nichts zum Thema Sprache). Doch die breite Masse wird vergrämt und gedemütigt zurückbleiben und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, wobei sie ihre Minderwertigkeit im Rahmen der Neuerungen auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen wird: Ihre Kinder werden in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen können, sie werden weder Filme noch Theaterstücke in ihrer Muttersprache sehen, bei keinem Amt in ihrer Muttersprache vorsprechen können und so weiter.

Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte

Und wie wird sich das auf die nationale Sicherheit der Ukraine auswirken? Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte. Die Rolle, die dieses Gesetz bei der Bildung der russischen Fünften Kolonne in der Ukraine spielt, ist womöglich so bedeutend, dass man schon jetzt allen Mitwirkenden per Geheimdekret den Titel „Held der Russischen Föderation“ verleihen könnte. 
Wenn diese Fünfte Kolonne bislang als Frucht entzündeter Phantasie des radikal eingestellten Flügels der ukrainischen Intelligenz existiert hatte, allenfalls als Potenzial, dann materialisiert sie sich jetzt buchstäblich aus dem Nichts, und allein beim Donbass wird es nicht bleiben. Von Odessa bis zum Dnepr wird die Situation wieder genau so verworren sein wie ganz zu Beginn des „russischen Frühlings“.

Die überstürzte Verabschiedung des Sprachengesetzes kann genauso wenig mit der Sorge um nationale Sicherheit begründet werden wie mit dem Prozess der Eingliederung in die EU. Objektiv betrachtet rückt das Gesetz die Ukraine weiter weg von europäischen Standards und gefährdet die nationale Sicherheit noch stärker, weil es in einer Grundsatzfrage zu einer beunruhigenden neuen Spaltung der Gesellschaft führt. Nach den Gründen und Ursprüngen der Eile muss man also woanders suchen …

Genau zu diesem Zeitpunkt sollte man sich erinnern, dass die Ideen, die dem just verabschiedeten Gesetz zu Grunde liegen, schon lange vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland existierten, ja noch bevor die Ukraine den EU-Integrationskurs eingeschlagen hatte, und sich bei Teilen der ukrainischen Intelligenz großer Beliebtheit erfreut hatten. Sie waren ein Teil dessen, was man als den „ukrainischen Traum” bezeichnen könnte – dem Streben weg von Russland hin zu einem unabhängigen ukrainischen Staat. Der Schlüsselbegriff ist hier „weg von Russland“.

Flucht aus der russischen Sprachzone

Ein wesentlicher Teil dieser Unabhängigkeit bestand für viele Ideologen eines ukrainischen Nationalstaates in der kulturellen Unabhängigkeit, der Befreiung vom Kleiner-Bruder-Komplex. Viele sahen das Erlangen der kulturellen Eigenständigkeit schon vor einem halben Jahrhundert in der Flucht aus der russischen Sprachzone.

Der Krieg mit Russland war also nie der Grund, warum die Partei, die für die Verdrängung der russischen Sprache eintritt, gewonnen hat. Ohne diesen Krieg hätte diese Partei aber kaum je eine echte Chance gehabt, ihr radikales Projekt umzusetzen. Putin kann daher als Koautor des Projekts gelten. Mit seiner Ukraine-Politik hat er geholfen, den Traum des radikalsten Flügels der ukrainischen Intelligenz zu verwirklichen. Zumindest vorerst.

An sich ist der Wunsch, die Ukraine zu ukrainisieren, historisch wie politisch gerechtfertigt. Fraglich ist die Wahl der Mittel und des Tempos. Kein Staat der Welt kann ohne einen einheitlichen Sprachraum existieren. Der Wunsch, einen solchen Raum zu schaffen und zu schützen, ist daher vollkommen adäquat.

Ferner besteht kein Zweifel, dass sich in der Ukraine – genau wie in einer ganzen Reihe anderer ehemaliger russischer Kolonien – eine Schieflage ergeben hat, als sich dieser universelle Sprachraum nicht auf der Basis der Sprache der Titularnation herauszubilden begann, sondern auf der einer großen ethnischen Minderheit (wobei ein nicht unwesentlicher Teil der ethnischen Ukrainer Russisch als Muttersprache empfindet). Sprich: Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Russisch in der Ukraine immer noch die Sprache der innerukrainischen Verständigung.

Die Wahl der Mittel

Es ist völlig klar, dass keine normale Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates möglich ist, solange die Situation sich nicht umkehrt und Ukrainisch zu jener universellen Sprache wird, welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integrität festigt. Bis zu diesem Punkt verstehe und unterstütze ich die Beschützer der ukrainischen Sprache. Doch dann kommen wir zur Wahl der Mittel. Entweder man erschafft den Sprachraum, indem man die Verbreitung des Ukrainischen fördert oder indem man die Verbreitung des Russischen zurückdrängt. Das heißt, man hat die Wahl zwischen einem diskriminierenden und einem nicht-diskriminierenden Modell.

Das Sprachengesetz wurde eilig unter dem Druck der Radikalen Maidan Partei beschlossen, die um ihre letzte Chance fürchtete, ihr Ideal in die Tat umzusetzen. Das Gesetz ist mehrdeutig und enthält eine Reihe von Bestimmungen, die als gegeben gelten können und sollten.

Unumstritten ist der Status des Ukrainischen als Amtssprache, vernünftig erscheint die Forderung, dass sie obligatorisch auf allen Bildungsstufen gelehrt werden soll, gerechtfertigt ist die Forderung, dass jeder Staatsbürger sie in der einen oder anderen Form beherrschen soll, wobei im öffentlichen Dienst das fließende Beherrschen verpflichtend ist. Selbst in der Forderung, dass fremdsprachige Filme und Theateraufführungen mit ukrainischen Unter- beziehungsweise Übertiteln versehen gehören, liegt eine gewisse Logik. Man darf in dieser Frage nicht die Auffassung vieler Anhänger des russki mir übernehmen, die meinen, es würde irgendwie ihre Rechte und ihre Würde verletzen, wenn man von ihnen fordert, die Landessprache des Landes zu lernen, in dem sie leben und deren Staatsbürger sie darüber hinaus sind.

Die Situation sieht jedoch anders aus, wenn es um diskriminierenden und äußerst selektiven Maßnahmen in Bezug auf russische Muttersprachler geht. Hier nur die wichtigsten: Unmöglich ist die freie Entfaltung der kulturellen Identität durch die Einschränkung von muttersprachlicher Lehre auf allen Bildungsebenen, durch begrenzten Zugang zu Informationen und kulturellen Gütern in der jeweiligen Muttersprache, durch eingeschränkten Zugang zum Rechtssystem aufgrund von sprachlicher Angreifbarkeit und durch weitere Auswüchse der Diskriminierung aufgrund der Sprache. Solche Maßnahmen machen nicht so sehr das Ukrainische zum universellen Mittel der Kommunikation, sondern vielmehr das Russische zur Sprache der Spaltung. Das eigentliche, ausdrückliche Ziel wird nicht erreicht – es wird kein gemeinsamer Sprachraum geschaffen.

Die tieferen Ursachen für die Popularität des diskriminierenden Ansatzes bei einem großen Teil der ukrainischen Intelligenz liegen auf der Hand, und sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Krieg und der daraus resultierenden psychologischen Sprengkraft der Diskussion. Der Grund ist die Ungeduld, der Unwillen und die Unfähigkeit zu warten. Die heutige Sprachsituation in der Ukraine ist über Jahrhunderte gewachsen, und es braucht mitunter viel Zeit, um die Stellung der beiden Sprachen umzukehren. Ein nicht-diskriminierender, motivationsbasierter Weg würde Jahrzehnte mühevoller Arbeit bedeuten. Aber das Ergebnis soll ja noch zu Lebzeiten sichtbar werden, am besten sofort. Das führt zu einem Sprach-Bolschewismus mit seiner Philosophie des großen Sprungs. Wenn man schon nicht das Ukrainische schnell verbreiten kann, dann kann man doch wenigstens das Russische schnell verdrängen. Wie jeder andere große Sprung ist das eine Utopie.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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