Am 23. April veröffentlichte der Journalist und YouTuber Juri Dud seinen Film Kolyma – Heimat unserer Angst. Mit mehr als 14 Millionen Views und über 700.000 Likes ist die mehr als zwei Stunden lange Doku eines der erfolgreichsten Videos des jungen Journalisten.
https://www.youtube.com/watch?v=KdoBaxnKfSY&feature=youtu.be
Kolyma gilt als Inbegriff des Gulag und der Stalinschen Säuberungen. Allein in Sewwostlag, dem 1932 gegründeten größten Lager in der Region, saßen unter unmenschlichen Haftbedingungen jährlich bis zu 190.000 Menschen ihre Strafe ab. Viele davon, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. In den Kolyma-Lagern waren unter anderem der Autor der Kolymskije rasskasy (Erzählungen aus Kolyma) Warlam Schalamow inhaftiert sowie Sergej Koroljow, der später als Vater der sowjetischen Raumfahrt berühmt wurde. Mit Nachfahren und Historikern führt Dud lange Interviews.
Duds Zuschauerschaft gilt als jung. Da fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland laut einer Umfrage noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört hat, feiern viele seinen Dokumentarfilm nun als eine aufklärerische Leistung. Auch vor diesem Hintergrund löste der Film eine heftige Diskussion in den russischen Medien aus: Ist es ein Auftrag, Russland zum Einsturz zu bringen? Ist es ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, oder eine Möglichkeit für die Nation, in den Abgrund zu schauen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.
Echo Moskwy: Hohlraum der Erinnerungskultur
Laut einer Umfrage haben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Russland noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört. Diese Leerstelle füllt jetzt der Film Kolyma aus, meint Ex-Polittechnologe Gleb Pawlowski auf Echo Moskwy:
[Он] заполняет пустоту на этом месте, пустоту на месте слова «Сталин». Сталина-то все знают, сто процентов. А что это такое, чем это заполнено? Не все же знают, что это особый тип зверства, который практиковался властью, практиковался именно под личным, я бы сказал даже, давлением Иосифа Виссарионовича Сталина; что он автор этого, что он лично просматривал паточные [sic – dek] документы и ставил резолюцию: «Бить!» Вот эти вещи кто знает?
erschienen am 29.04.2019, Original
Rossijskaja Gaseta: Mächtige journalistische Arbeit
In der regierungsnahen Zeitung Rossijskaja Gaseta bringt der Schriftsteller Andrej Maximow eine persönliche Note in seine lobenden Worte ein:
Meine Mutter ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Und bis zu ihrem Tod ist sie zusammengezuckt, wenn sie nachts hörte, wie jemand Autotüren zuschlug: Meinen Opa hatten sie geholt.
Ein junger Mensch in zerfetzten Jeans und roter Winterjacke hat nun über diese Angst einen Film gedreht. Ich nicht. Und viele andere nicht. Er hat es gemacht. Danke, Juri Dud, für diese mächtige journalistische Arbeit. Danke für das Beispiel. [...]
Dem Autor des Films wird fehlender Patriotismus vorgeworfen und unterstellt, etwas in den Dreck ziehen zu wollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen, meine Lieben: Kolyma ist nicht nur – was sag ich – vielleicht gar nicht so sehr ein Film über die Stalinschen Säuberungen als vielmehr ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, über einen Geist, den zu zerstören nicht möglich war. Ein Film darüber, dass die Menschen hier bei uns immer stärker und gütiger sind als das System.
Моя мама умерла более десяти лет назад. И до самой смерти она вздрагивала, если слышала, как ночью хлопает дверь машины: мой дедушка был репрессирован. Молодой человек в рваных джинсах и красной куртке снял кино про этот страх. Я не снял. И много кто еще не снял. А он сделал. [...] Спасибо, Юрий Дудь, за мощную журналистскую работу. Спасибо за пример.
[...]
… автора картины обвиняют в отсутствии патриотизма и желании чего-то там опорочить. А знаете, что я вам скажу, дорогие мои: "Колыма" - это не только, а, может быть, и не столько картина о сталинских репрессиях, сколько фильм - о силе духа советского человека, духа, который невозможно было сломить. Про то, что люди у нас всегда сильнее и добрее системы.
erschienen am 05.05.2019, Original
Livejournal/Arkadi Babtschenko: Hipper Jüngling in teuren Klamotten
Der oppositionelle Journalist Arkadi Babtschenko sieht auf Livejournal ein Authentizitätsproblem der Doku:
Geht in die Bibliotheken, ihr Infantilos.
Nehmt eure Kinder mit.
Und lest.
Идите в библиотеки, инфантилы.
Детей своих ведите.
Читайте.
erschienen am 03.05.2019, Original
Swobodnaja Pressa: Wir klauen euch eure Zukunft
Zu den schärfsten und lautstärksten Kritikern des Dokumentarfilms gehört Sachar Prilepin. Auf Swobodnaja Pressa erläutert der polarisierende Schriftsteller seinen Standpunkt:
Offensichtlich ist es möglich, den historischen Fokus, der 1987 bis 1991 gesetzt wurde, einfach zu wiederholen. Mit dem bisherigen Resultat waren die Auftraggeber nicht zufrieden: Denn wir sind wieder hervorgekrochen und fluchen nun, was das Zeug hält. Nun gut, sagen sie, dann fangen wir euch eben eure Zukunft weg: eure naiv dreinschauenden Erben. Und sie sind äußerst erfolgreich auf ihrem Fang: 500.000 Likes – das ist ein ganz veritabler Maidan, ein Versammlungsplatz gefüllt bis in die letzte Ecke.
Оказывается, фокус, который был произведён в 1987—1991 гг. — вполне можно еще раз повторить. Прежним результатом заказчики не удовлетворены: мы как-то выползли и отругиваемся теперь. Ну, ладно, сказали они, мы своруем у вас ваше будущее: ваших лупоглазых наследников. И более чем успешно воруют. Пятьсот тысяч лайков — это вам, имейте в виду, хорошая майданная площадь, заполненная до краёв.
erschienen am 29.04.2019, Original
The New Times: Guter Grund für Optimismus!
Nicht nur die Doku selbst hat in Russland für Aufsehen gesorgt, auch die implizite Kontroverse zwischen Prilepin und Dud ist ein großes Thema. Auf The New Times sieht der Politologe und Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow diesen Streit entschieden:
Die Niederlage Prilepins und seinesgleichen war unausweichlich, weil all ihre faulige UdSSR-Nostalgie, all ihre masochistische Liebe zu Stalin-Stiefeln, ihr gewissenloses Jonglieren mit Orden toter Kriegsveteranen und das Posieren in Soldatenmänteln, all die Sagen über den Donbass, den provinziellen Hass gegen Amerika und Europa – all das kannst du nicht denen verkaufen, die mit dem Internet geboren sind und ihr Leben lang damit gelebt haben. Diese junge Menschen interessiert kein Prilepin, der über den Donbass redet, sie interessiert Dud, wenn er über Kolyma spricht – und das lässt Optimismus aufkommen!
Поражение Прилепина и ему подобных неизбежно, потому что всю их протухшую ностальгию по СССР, всю их мазохистскую любовь к сапогам тов. Сталина, их бессовестное жонглирование медалями умерших ветеранов и позирование в мундирах, все эти былины про Донбасс и провинциальную ненависть к Америке и Европе — всё это не продать тем, кто родился и прожил всю жизнь в интернете. Им, этим ребятам, не интересен Прилепин про Донбасс, им интересен Дудь про Колыму — и это хороший повод для оптимизма!
erschienen am 06.05.2019, Original
Spektr: Wenn man lange in einen Abgrund schaut ...
Semjon Nowoprudski betrachtet Duds Kolyma als „die größte Tat des gegenwärtigen russischen Journalismus“. Auf Spektr argumentiert er für seine These:
In der russischen Geschichte ist immer viel Blut geflossen. Die Machthaber haben das Volk immer als „menschliches Material“ angesehen, als „Personal“, jetzt auch noch als „Elektorat“. Dieser Film – beinahe mutet er unterhaltsam, ruhig an, mit Elementen aus dem ganz normalen Leben – erweist sich als Möglichkeit für unsere Nation, in den Abgrund zu schauen. Und dort ihr Spiegelbild zu sehen.
erschienen am 07.05.2019, Original
dekoder-Redaktion