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Russlands neue Revoluzzer?

Protest-Starre in Russland? Nach den heftigen Bolotnaja-Protesten 2011/12 hat der Kreml zahlreiche Aktivisten verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Außerdem wurde zuletzt eine Reihe von Anti-Terror-Gesetzen verabschiedet, die unter anderem auch die Internetzensur weiter ausbauen. Blogger – gemeint sind damit auch Social-Media-User mit mehr als 3000 Lesern am Tag – dürfen beispielsweise andere Personen nicht „in Misskredit” bringen.

Der Petersburger Politologe Michail Komin kritisiert auf dem russischen Wirtschaftsportal forbes.ru die Anti-Protest-Maßnahmen des Kreml: Nicht nur, dass das Unruhepotential derzeit weder von Social-Media-Nutzern noch von Bolotnaja-Anhängern, sondern von anderen sozialen Gruppen ausgehe. Die größte Gefahr für den Kreml liege sowieso ganz woanders.

Источник Forbes

Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage zu sozioökonomischen und politischen Spannungen in Russlands Regionen hat bestätigt, was längst spürbar war: In den vergangenen Monaten ist die Unzufriedenheit der Bürger mit ihrer Situation bedeutend gewachsen.

Auch wenn die Soziologen eine leichte Abnahme in der Protestbereitschaft feststellen: Es bleibt doch der Eindruck, dass die russische Gesellschaft in einer „aggressiven Reglosigkeit“ verharrt – einem Zustand, in dem der Ärger über das Verhalten des Vorgesetzten, der lokalen und der föderalen Machthaber enorm groß ist, aber der Punkt, an dem sich die aufgestaute Aggression am Umfeld entlädt, noch nicht erreicht ist.

Aber dieses „noch nicht“ kann nicht ewig anhalten. Die Probleme, die den gesellschaftlichen Ärger verursachen, haben institutionellen Charakter, doch die herrschende Elite ist offenbar nicht in der Lage, dies zu erkennen.

Kreml kämpft mit alten Waffen

Die Maßnahmen-Strategie des Kreml, Proteste einzudämmen, hat sich seit dem Bolotnaja-Platz faktisch nicht verändert – ungeachtet dessen, dass sich die sozialpolitische Landschaft nach der Krimeuphorie gewandelt und sich der Lebensstandard seit dem Ende der 1990er dramatisch verschlechtert hat. Man bleibt dabei, politische Anführer zu verfolgen oder ihnen Verfolgung anzudrohen, jeden, dessen Meinung vom offiziellen Diskurs abweicht, als Verräter abzustempeln und vor den Wahlen innere Säuberungen zu imitieren sowie jeglichen Protest zum Zwergenaufstand zu erklären.

Aber alle diese Maßnahmen des Kreml haben ausgesprochen wenig mit den tatsächlich wachsenden Spannungen im Land zu tun. Der potentielle Protest, der die Legitimität der Elite unterminieren könnte, geht weniger von den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung oder den aktiven Facebook-Nutzern aus. Er kommt vielmehr von ganz anderen sozialen Gruppen, deren Forderungen die Regierung wohl kaum erfüllen kann.

Die erste und wohl offensichtlichste Quelle des neuen Protestes: Einzelne Berufsgruppen in den großen Städten, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage mobilisiert werden. Wir konnten bereits beobachten, dass der Kreml keinerlei Vorstellung davon hat, wie er auf Streiks der Ärzte und der Devisenkreditnehmer oder auf die Protestaktionen der Fernfahrer reagieren soll.

Im Grunde genommen kann man diese Streiks natürlich kaum als Protest bezeichnen. Der Großteil von ihnen steht im Zusammenhang mit nicht gezahlten Löhnen und ist vielmehr ein kollektiver Appell an die Vorgesetzten „die Sache zu klären“. Doch die Zahl der Proteste von Berufsgruppen steigt im Verhältnis zum Vorjahr an. In der ersten Hälfte von 2016 gab es russlandweit in unterschiedlichen Städten bereits mehr als 150 solcher Aktionen.

Katastrophale Kluft zwischen Elite und „Putin-Mehrheit“

Auch die lauten Skandale wie Medwedews Ausspruch „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, der schon jetzt zum meistzitierten politischen Mem des Jahres avanciert ist, stärken nicht gerade den Glauben der Russen an den paternalistischen Versorgungsstaat. Dasselbe gilt für das zweite Mem des vergangenen Monats – den Hohn des Vizepremiers Schuwalow über die 20-Quadratmeter-Wohnungen der Russen.

Das alles sind Lakmustests der katastrophalen Kluft zwischen dem, wie die Elite das Leben der einfachen Menschen wahrnimmt und dem, welche Art von Maßnahmen diese einfachen Menschen aus der „Putin-Mehrheit“ derzeit von der Elite erwarten.

Im Laufe der Geschichte wurden die Bürger in Situationen, in denen ihnen das Ausmaß dieser Kluft bewusst wurde, häufig von einer „aggressiv schweigenden“ zu einer „aggressiv rebellierenden“ Mehrheit, das heißt, sie dienten als Auslöser für revolutionäre Umwälzungen. Die Unaufmerksamkeit des Zaren gegenüber dem Volk am Blutsonntag oder die Versuche der kommunistischen Partei, die Atomkatastrophe in Tschernobyl zu vertuschen, sind nur zwei von vielen Beispielen.

Zudem sind Arbeitsproteste für jedes autoritäre Regime aus zweierlei Gründen schwer zu verkraften: Erstens ist es kaum möglich, sie einfach vom Tisch zu wischen, sie zu ignorieren und sie den Machenschaften von westlichen Agenten oder der Fünften Kolonne aus dem Inneren zuzuschreiben. Denn die Probleme sind dem Bewusstsein der Massen zu verständlich und zu nah. Das ursprünglich Apolitische des Protestes ist seine Kraft. Sollten einmal Rufe nach einem Machtwechsel folgen, so klingen sie weitaus aufrichtiger, wenn die Regierung es bis dahin nicht vermochte, den grundlegend ökonomischen Forderungen der Protestierenden nachzukommen. Erinnern wir uns daran, dass der Sargnagel für das Sowjetregime Bergarbeiter waren, die mit ihren Helmen gegen die Steine am Roten Platz schlugen. Gorbatschow wusste einfach nicht, wie er auf sie reagieren sollte.

Zweitens belegen aktuelle Studien, dass spontan entstandene Strukturen in Gesellschaften mit geschlossenem sozialen Kapital (zu ihnen gehört auch das autoritäre Russland) über ein höheres Mobilisierungspotential verfügen. Innerhalb solcher Strukturen entschließen sich Individuen nämlich nicht über die Netzwerke bestehender Organisationen für eine Teilnahme an Protesthandlungen, sondern über lockere soziale Bindungen, wie einem gemeinsamen Arbeitsplatz oder gemeinsamer Nachbarschaft.

Die Spontaneität solcher Proteste lässt den Teilnehmern offenbar nicht genug Zeit, um an mögliche Risiken und Repressionen zu denken. Zusätzlich erhöht das Gemeinschaftsgefühl die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand kollektiven Handlungen anschließt. In ihrem Erscheinungsbild ähneln diese Proteste den berühmten russischen „Volksversammlungen“.

Nichtstun und den Bogen überspannen

Die zweite große soziodemographische Gruppe, die sich als Quelle des Protests erweisen könnte, falls grundlegende Veränderungen in sozialpolitischen Institutionen ausbleiben, ist die neue Generation von selbstgenügsamen Russen in den Nicht-Hauptstädten.

Laut soziologischen Studien ist die Zahl der Menschen, die sich und ihre Familie selbst versorgen können und nicht auf staatliche Hilfe angewiesen sind, in Russland auf 44 Prozent gestiegen. Zudem ist der Trend erkennbar, dass ihre Zahl in Städten, die weniger als eine Million Einwohner haben, häufig sogar 50 Prozent übersteigt.  

Dort, wo das Niveau der staatlichen Leistungen niedriger ist als in der Hauptstadt, die Lohn- und Gehaltsangleichung gering ausfällt und die Qualifikation der Beamten nur für Verwunderung sorgt, bleibt nichts anderes, als sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen. Denjenigen, denen das einigermaßen gelingt, wird schnell klar, dass der Staat nur zwei Dinge wirklich gut kann: Nichtstun und den Bogen überspannen.

Die wachsende Ungleichheit und die nicht funktionierenden sozialen Fahrstühle, die allzu oft von den Kindern der herrschenden Elite besetzt sind – das alles trägt dazu bei, dass der Ärger zunimmt und auch das Gefühl, die „Herrschaftsriege“ mische sich zu sehr ins Privatleben ein. Es ist durchaus möglich, dass sich diese soziale Schicht in fünf bis zehn Jahren vollends zu dem entwickelt, was in der Revolutionstheorie als „überflüssiger Mensch“ bekannt ist. Sprich zu einer Generation, der es nicht gelingt, im Leben einen Platz zu finden, der ihrer Bildung und Erfahrung angemessenen wäre, und einen signifikanten Fortschritt in ihrer sozialen und materiellen Situation zu erzielen.  

Der Glaube an die eigene Kraft wird diesen Gemeinschaften helfen, die mit kollektiven Handlungen verbundenen Mühen zu meistern. Auch kann das Ausbleiben von sichtlichen Verbesserungen in der staatlichen Politik sowie die fortschreitende ökonomische und soziale Abwertung der Regionen zu jenem starken Antrieb werden, der sie auf die Barrikaden treibt.
Wenn sie sich dann beispielsweise mit den neuen Gesichtern der russischen Arbeiterproteste, den neuen „Bergarbeitern“, auf dem Roten Platz vereinten, könnten aus dieser explosiven Mischung durchaus revolutionäre Umwälzungen folgen.

Die neuen Anhänger des Russischen Frühlings

Ein weiterer Herd beim Anwachsen politischer Spannungen könnten die neuen Anhänger des Russischen Frühlings werden: Junge Männer, die von den Kämpfen im Südosten der Ukraine zurückgekehrt sind, weil es ihnen nicht gelungen ist, dort nach dem Krieg Fuß zu fassen.

Gut ausgebildet und geübt im Umgang mit der Waffe werden sie in Russland keinen Platz finden, bedenkt man die allmähliche Zurücknahme der aggressiven Rhetorik und die Kehrtwende in Richtung einer Zusammenarbeit mit dem Westen. Dann bleiben ihnen zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzen ihre militärische Laufbahn in einer Privateinheit wie der TschWK Wagner fort, oder – was weitaus wahrscheinlicher ist – sie versuchen ihr angesammeltes symbolisches und soziales Kapital in der Heimat zu verwenden. Zum Einsatz kommen diese Inhalte und sozialen Gruppen bereits beim Helden des Russischen Frühlings Igor Strelkow, indem er mal das Komitee des 25. Januar, mal die neue Allrussische nationale Bewegung gründet.

Wenn es ihnen nicht gelingt, sich in das System der politischen Macht einzufügen, werden sie, enttäuscht und frustriert über die faktische Aufgabe des Projekts Noworossija, ihre Loyalität gegenüber dem Kreml gewiss nicht beibehalten. Sie werden sich alternativen Machtzentren zuwenden. Sicherlich würde es ihnen schwerfallen, die beiden oben genannten „revolutionär gefährlichen“ sozialen Gruppen zu verstehen und sich mit ihnen zu vereinen. Dafür liegen die Beweggründe für den Protest und die jeweilige Weltsicht zu weit auseinander. Doch gesetzt den Fall, das System würde mit den sozialen Spannungen nicht mehr fertig, ist es durchaus vorstellbar, dass Menschen mit der Erfahrung militärischer Mobilmachung diese Situation ausnutzen, um unter Losungen der Bewahrung von Ordnung und Einheit des Landes eigene lokale Kontrollzonen zu errichten.

Betrachtet man das Manifest von Strelkow, so propagiert er keine Machtergreifung sondern eine „Übernahme“ der Staatsmacht, wenn die Krisensituation erreicht ist. Das beschriebene Szenario gilt unter den Anhänger der ANB [Allrussische Nationale Bewegung] als eine durchaus realistische Strategie.

Das Hauptproblem liegt woanders

Das Hauptproblem für die Stabilität des russischen Regimes allerdings besteht nicht so sehr in den wachsenden sozialen Gruppen, die zu neuen Quellen des Protestes werden können. Und noch nicht einmal darin, dass der Kreml die Gefahr, die von ihnen ausgeht, übersieht. Es besteht vielmehr darin, dass die politischen Institutionen (insbesondere in den Regionen) degradieren, zunehmend primitiver werden und von Jahr zu Jahr weniger fähig sind, dem wachsenden Widerspruch auf friedliche Weise zu begegnen.

Die sich verschlechternde sozialpolitische Lage einerseits und das zunehmende Unvermögen, sich an diese anzupassen, andererseits: Derart entgegengesetzte Tendenzen können zu einer sozialen Explosion führen.

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Sozialprotest

Liest man in den Medien über Proteste in Russland, so geht es meist um Aktionskünstler, oppositionelle Aktivisten und Menschenrechtler. Spektakulären Aktionen wie denen von Pjotr Pawlenski oder Pussy Riot wird zumeist viel Platz eingeräumt. Die relativ große Medienwirkung dieser Akteure ist nicht verwunderlich, sind doch Aktionskünstler und politische Aktivisten im Umgang mit den Medien in aller Regel gut bewandert. Zudem finden ihre Proteste meist in den großen Städten statt.

Aufs Ganze gesehen ist Protest zu anderen, eher praktischen Anliegen in Russland aber weitaus stärker verbreitet, und zwar schon seit der spätsowjetischen Zeit.1 An Aktionen zu Themen wie Lohnrückständen und Wohnungsnot beteiligen sich Menschen in den verschiedensten Regionen. Sie veranstalten Einzelproteste und Kundgebungen, organisieren Arbeitsniederlegungen und Bummelstreiks, Betriebsblockaden und Autokorsos. Doch auch Hungerstreiks und sogar Selbstverbrennungen kommen vor.

Der Sozialprotest betrifft meist die unmittelbaren Lebensumstände, nicht das politische System als ganzes. Er wendet sich meist gegen staatliche Institutionen, doch zunehmend auch gegen private Firmen, die oft mit diesen verzahnt sind.

Proteste gegen Lohnrückstände

Ein Dauerthema sind Lohnrückstände, die zumeist im Vergleich zu Lohnkürzungen als schlimmer empfunden werden. Von den frühen 1990er Jahren bis zum Beginn des Öl- und Gasbooms um 1999 hatten Verzögerungen bei der Auszahlung von Arbeitslöhnen systematischen Charakter. Aber auch seit 2014 häufen sie sich wieder, sowohl bei staatseigenen wie bei einigen privaten Betrieben. Auch gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Betriebsschließungen2 wird immer wieder protestiert. Allerdings sind die Vorbehalte gegen gewerkschaftliche Selbstorganisation weiterhin stark – schon wegen des oft harten Durchgreifens gegenüber den Streikenden.

Widerstand gegen Reformen der Sozialpolitik

Außerdem wird gegen die Reformen von Gesundheits-, Bildungs- und Forschungsinstitutionen protestiert. Diese Bereiche werden seit einigen Jahren gemäß einer neoliberalen Logik umstrukturiert, die zunehmend auf marktwirtschaftliche Prinzipien, Eigenfinanzierung und quantitative Indikatoren setzt.

Wie auch in anderen Ländern geht dies zu Lasten von Ärzten, Lehrern und Forschern.

Die Proteste wenden sich gegen die Reformen als solche, aber auch gegen die Schließung einzelner Einrichtungen – etwa durch den Wegfall liberaler oder ausländischer Stiftungen oder durch die Umwidmung zu Luxuskliniken für hohe Staatsdiener.

Ein weiteres wichtiges Thema sind Kürzungen, Rückstände oder Änderungen bei staatlichen Sozialleistungen. Im Jahr 2005 fand die bis zu jenem Zeitpunkt größte Protestwelle seit der Perestroika statt. Die landesweiten Aktionen richteten sich gegen die Ersetzung diverser Vergünstigungen etwa für Rentner oder behinderte Menschen durch Geldzahlungen. Bis heute wird auch oft gegen die schleppende Zuteilung von Sozialwohnungen protestiert.

Das Thema Wohnen ist generell eines der wichtigsten Protestanliegen. Geprellte Mitglieder von Baugenossenschaften demonstrieren ebenso wie krisengeplagte Baudarlehensnehmer. Noch zahlreicher sind die überall im Land stattfindenden Anwohnerproteste gegen verdichtende Bebauung, die Innenhöfe, Spielplätze und Parks verschwinden lässt.

Proteste der Kraftfahrer und der Umweltschützer

Eine besondere Sichtbarkeit haben in den letzten Jahren auch Autofahrerproteste unterschiedlicher Art erhalten. Im fernöstlichen Wladiwostok und in der baltischen Exklave Kaliningrad weiteten sich in den Jahren 2008–09 Demonstrationen gegen Einfuhrzölle und Steuererhöhungen auf PKWs zu Massenprotesten gegen die regionalen Machthaber aus. Seit 2015 demonstrieren die in Russland landesweit gut organisierten LKW-Fahrer gegen die Einführung des neuen Mautsystems Platon, deren Einnahmen zu einem bedeutenden Anteil einer Firma zugute kommen sollten, die dem Sohn eines Vertrauten des Präsidenten gehört.

LKW-Fahrer behindern mit langsam fahrenden Kolonnen den Verkehr – Foto ©paehali.ru

Schließlich wird auch Umweltprotest manchmal zum Sozialprotest gerechnet. Die Umweltschutzbewegung hat in Russland eine lange Tradition, ist verhältnismäßig gut organisiert und hat vereinzelt Erfolge vorzuweisen, etwa beim Kampf gegen die Einfuhr von Atommüll oder den Bau von Umgehungsstraßen durch Wälder. Besonders energisch geht seit 2012 die Bewegung gegen den Nickelabbau am Chopjor-Fluss vor, die von Einwohnern der ländlich geprägten Region zwischen Woronesh und Wolgograd getragen wird.

Wie politisch ist der Sozialprotest?

Bereits diese Aufzählung macht deutlich, dass der Übergang zwischen Sozialprotest und offen politischem Protest oft fließend ist. Dennoch beklagen Moskauer Publizisten, Politiker und Politikwissenschaftler häufig, die Sozialproteste zeigten eine traditionelle Anspruchshaltung gegenüber dem Versorgerstaat, sie seien ein Ausdruck von Passivität und daher grundsätzlich unpolitisch. Dem widersprechen allerdings neben den Teilnehmern selbst auch einige Sozialforscher, die argumentieren, Sozialproteste seien oftmals politischer als die Aktionen der Opposition. Es gehe bei ihnen um konkrete Interessen und nicht bloß um formale Regeln und einen Austausch des politischen Personals.3 Während der großen Protestwelle von 2011–13 führten diese unterschiedlichen Sichtweisen auf den Sinn von Protest zu Konflikten zwischen Oppositionellen und Graswurzel-Aktivisten und schließlich auf beiden Seiten zu großer Enttäuschung.4


Die aktuellen Sozialproteste in Russland untersucht Michail Komin in seinem Artikel Russlands neue Revoluzzer?.

https://www.youtube.com/watch?v=jHgojMoUhKI

 
Verkehrspolizei überprüft Teilnehmer der LKW-Protestkolonne bei Wladiwostok. Links im Hintergrund die Flagge der Organisation TIGR (Towarischtschestwo Iniziatiwnych Grashdan Rossii, dt. Gesellschaft der selbständigen Bürger Russlands)


1.Dies gilt selbst für Moskau, wie etwa für 2013 die statistischen Daten von OVD-info belegen: Protest na tormozach: političeskie zaderžanija v 2013 godu
2.Das Institut für Arbeitsrecht legt regelmäßige Berichte zur Streikhäufigkeit vor. Für die Jahre 2008–2015 verzeichnet es 2097 Aktionen, wobei 2015 nicht nur die Häufigkeit stark zunahm, sondern auch die Vielfalt der betroffenen Sektoren. Diese Daten sind zuverlässiger als diejenigen des Justizministeriums, das dank einer restriktiven Definition meist Streikzahlen im einstelligen Bereich pro Jahr erfasst.
3.siehe zum Beispiel: Kleman, Karin [Clément, Carine] (Hrsg.) (2013): Gorodskie dviženija Rossii v 2009–2012 godach: na puti k političeskomu, Moskau
4.Gabowitsch, Mischa (2016): Protest in Putin’s Russia, Cambridge (im Erscheinen), S. 138–159

 

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