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Pakt mit dem Teufel

Am 23. August 1939 stieg der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop ins Flugzeug nach Moskau, um dort einen folgenreichen Vertrag zu unterzeichnen. Im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Außerdem unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit ebneten sie, so die eine Lesart, den Weg zum Zweiten Weltkrieg.

Den Grundstein für eine andere Lesart legte Molotow schon im August 1939: „Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags bezeugt, dass sich die historische Voraussicht des Genossen Stalin glänzend erfüllt hat.“ Die Erzählung über die „historische Voraussicht“ beherrschte auch die Auslegung des Pakts in den Nachkriegsjahren: Stalin, so hieß es, habe damit den Kriegsbeginn hinausgezögert und so Menschenleben gerettet. 

80 Jahre nach der Unterzeichnung des Pakts kommt die russische Politik zu demselben Schluss. Auch mit anderen Argumenten revidiert sie erstmals die seit der Perestroika geltende Verurteilung des Pakts, den auch Putin 2009 als amoralisch bezeichnete. 

Will Moskau mit dieser geschichtspolitischen Offensive zeigen, dass es auch heute solche Instrumente der Außenpolitik einsetzen will? Was würde das für die völkerrechtlichen Beziehungen bedeuten? Und wer ist hier eigentlich der Adressat? Diese Fragen stellt der Politologe und Außenexperte Wladimir Frolow auf Republic.  

Источник Republic

Moskau hat den 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes mit einer mächtigen Informationskampagne begangen. Diese hat einerseits die Verteidigung des Vertrags zum Ziel, andererseits die Rechtfertigung der Motive und Ziele der stalinschen Sowjetunion: sowohl beim Abschluss des Paktes als auch bei der territorialen Aufteilung Osteuropas auf Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls. An der Kampagne waren höchstrangige Persönlichkeiten beteiligt, die für Gestaltung des außenpolitischen Kurses Russlands verantwortlich sind.

„Diplomatischer Triumph der UdSSR“

Außenminister Sergej Lawrow erklärte, dass „die UdSSR genötigt gewesen“ sei, den Nichtangriffspakt mit Deutschland zu unterzeichnen, weil England und Frankreich nicht zu einem Militärbündnis mit Moskau bereit gewesen seien. Wladimir Medinski, Kulturminister und Vorsitzender der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, bezeichnete den Pakt als einen „diplomatischen Triumph der UdSSR“.

Den Schlussakkord der Kampagne bildete ein Post des Außenministeriums in den sozialen Netzwerken, in dem behauptet wurde, dass „durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag der Krieg an für die UdSSR strategisch günstigeren Grenzen begann und die Bevölkerung dieser Gebiete erst zwei Jahre später dem Naziterror ausgesetzt wurde. Dadurch wurden hunderttausende Menschenleben gerettet.“

Vollständiger Wechsel des historischen Narrativs

Die Dimension der Kampagne und der hohe Status der Beteiligten übersteigen den Rahmen der üblichen propagandistischen Reaktionen auf „diffamierende Ränke“ der westlichen Partner.

Es geht um einen vollständigen Wechsel des historischen Narrativs. Diesem hatte seit dem 24. Dezember 1989 und dem Beschluss des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR zum Hitler-Stalin-Pakt folgende Einschätzung zugrunde gelegen: dass es sich um einen verfehlten „Akt persönlicher Macht“ (Stalins) gehandelt habe und dass der Pakt in keiner Weise „den Willen des sowjetischen Volkes widerspiegelte, das keine Verantwortung für dieses Komplott trägt“.

2009 hatte Premierminister Wladimir Putin diese Bewertung des sowjetischen Parlaments erneut bekräftigt, als er den Hitler-Stalin-Pakt als „amoralisch“ bezeichnete. Das Außenministerium der Russischen Föderation erklärte im selben Jahr, dass „der politische und moralische Schaden für die UdSSR durch den Abschluss eines Vertrages mit Nazi-Deutschland offensichtlich war“.

Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung

Heute wird womöglich der Versuch unternommen, das Narrativ über den Beginn des Zweiten Weltkrieges unter Kontrolle zu bringen, womöglich aus bestimmten, weitreichenden, außenpolitischen Zielen heraus – etwa zur Stützung der Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung und einem zukünftigen Sicherheitssystem in Europa. Welche Folgen kann diese intensive Apologetik haben, die etwas rechtfertigt, das vor 30 Jahren zurecht als amoralischer und nicht zielführender (was die Abwendung der Kriegsgefahr von der UdSSR betrifft) Akt persönlicher Macht erklärt worden war, der für die UdSSR „die Folgen der hinterhältigen nazistischen Aggression“ verschärfte?

Für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands ist die Kampagne kontraproduktiv

Die pathetische Apologetik des Hitler-Stalin-Paktes ist für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands kontraproduktiv. Moskau hat sich in den vergangenen Monaten einem Punkt genähert, an dem es in den Beziehungen zum Westen endlich „das Thema Ukraine und Krim abschließen“ könnte. Hoffnung sollte für Moskau in dem neuen Gaullismus von Emmanuel Macron bestehen. Der ruft dazu auf, Russland zurückzuholen und zusammen mit ihm eine „neue europäische Sicherheits- und Vertrauensarchitektur“ aufzubauen. Außerdem könnte die Hoffnung in dem geerdeten Pragmatismus von Donald Trump bestehen, der dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky väterlich rät, sein „Problem [mit Wladimir Putin] zu lösen“.

Sensible Einstimmung statt propagandistischer Salven

Ein solches Gespräch erfordert allerdings eine sorgsame Vorbereitung und eine Atmosphäre neuer Perspektiven. Hier ist eine sensible Einstimmung des medialen Hintergrunds vonnöten und nicht propagandistische Salven zu militärhistorischen Themen.

In einer derart sensiblen Situation sollte man es zumindest unterlassen, Salz in die Wunden seiner Verhandlungspartner zu streuen, deren politische Position zu schwächen oder das Misstrauen in die eigenen Ziele und Absichten zu verstärken. Eine Propagierung des Hitler-Stalin-Pakts bedeutet, ein außenpolitisches Instrumentarium und ein Konzept von Völkerrecht gutzuheißen, die der heutigen UNO-Charta widersprechen. Die Charta war 1945 verabschiedet worden, damit „sich derartiges nicht wiederholt“.

Wofür steht der Hitler-Stalin-Pakt? 

Der Bruch bestehender bilateraler Vertragsverpflichtungen, die Unterminierung der Souveränität von Nachbarstaaten, Einmischung in deren innere Angelegenheiten, Diktate unter Androhung von Gewalt, militärische Aggression, Neuziehung von Grenzen, die Annektierung von Teilgebieten (Polen, Rumänien, Finnland) oder ganzer Staaten (Litauen, Lettland, Estland) – für das alles stehen der Hitler-Stalin-Pakt und das Vorgehen der UdSSR bei dessen Umsetzung.

Bedeutet nun, 80 Jahre später, die Verherrlichung des Paktes, dass Moskau auch heute solche Instrumente der Außenpolitik gutheißt und rundum entschlossen ist, sie zukünftig einzusetzen, wenn es dies für nützlich und den Augenblick für geeignet hält? Schließlich waren 2014/15 bei den Ereignissen in der Ukraine ähnliche Instrumente zum Einsatz gekommen. Zudem enthielt das zur Begründung dienende propagandistische Narrativ sogar direkte Parallelen (siehe den „Minderstaat Polen“ und den „Staatsstreich in der Ukraine“), die die vertraglichen Verpflichtungen Moskaus wegwischen sollten. Und auch in den Minsker Abkommen sind die bekannten Züge einer „künftigen politischen Neugestaltung“ zu erkennen.

Es wäre jetzt, so scheint es, angebracht zu zeigen, dass die „Exzesse“ von 1939 und 2014 einmaliger Natur waren und derartiges von Russland nicht mehr zu erwarten ist. Die Tweets des russischen Außenministeriums behaupten jedoch das Gegenteil. Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen, nullt sie aus. Bei einer normalen außenpolitischen Planung wäre eine solche Diskrepanz zwischen propagandistischem Diskurs und prioritärer Agenda unmöglich. Bei uns scheint das jedoch anders zu sein.

Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen

Lawrows Wortklauberei soll den Unwillen Moskaus maskieren, eines der zentralen Prinzipien des Völkerrechts anzuerkennen, nämlich die Gleichheit souveräner Staaten. Dieses Prinzip legt fest, dass alle Subjekte völkerrechtlicher Beziehungen – Großmächte wie Kleinstaaten – über gleiche Rechte verfügen und ihre Souveränität in keiner Weise durch dritte Staaten eingeschränkt werden kann. Moskau hingegen vertritt fast schon offiziell ein Konzept von „Einflusssphären“ und einer „multipolaren Welt“, demzufolge nur einige „Großmächte“ über volle und uneingeschränkte Souveränität verfügen und auf der Basis eines auszuhandelnden „Gleichgewichts der Interessen“ Entscheidungen treffen und jene Spielregeln festlegen, die dann für die kleineren Staaten in den jeweiligen Zonen „privilegierter Interessen“ verbindlich sind. Das wird dann als Beispiel für „Realismus in der Weltpolitik“ dargestellt.

Der Pakt ist ein Beispiel für die „Schaffung einer pseudorechtlichen Realität“ und den Aufbau „einer Welt, die auf Regeln basiert“, die nur einem engen Kreis von Staaten nützen, nicht aber der Stärkung eines universalistischen Ansatzes dienen, bei dem objektiv geltende Rechtsnormen für alle Subjekte völkerrechtlicher Prozesse verbindlich sind.

Moskau gegen die Stärkung eines universalistischen Ansatzes

Moskau lehnt einen universalistischen Ansatz ab. Es behauptet, wenn die USA die Normen des Völkerrechts nicht immer befolgen und zuweilen mit dem Recht des Stärkeren vorgehen, dann habe Russland genau das gleiche Recht, die Regeln zugunsten seiner Interessen zu verletzen. Regeln und Recht sind für Moskau heute das Produkt von Laissez-faire der beteiligten Seiten und konkreter Abmachungen. Und Russland müsse, wenn es darum geht, diese Regeln auf Moskau und seine Verbündeten anzuwenden, über ein Vetorecht verfügen (im UN-Sicherheitsrat). Daher rühren zum Beispiel auch die Versuche, im Rahmen des Sekretariats der OPCW einen unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung und Schuldfindung beim Einsatz von Chemiewaffen zu blockieren. Gleiches gilt für die Nichtanerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Seegerichtshofes bei den Vorfällen in der Straße von Kertsch. Die Glorifizierung des Hitler-Stalin-Paktes deckt diese versteckte Agenda auf, die durch Lawrows Erklärungen maskiert wird.

Schließlich wäre da noch die Frage des Zielpublikums. Wen wollen wir eigentlich davon überzeugen, dass der Hitler-Stalin-Pakt die Krönung der Kunst der Diplomatie ist? 

Für eine Wirkung auf die westlichen Eliten ist die derzeitige Apologetik des Paktes vollkommen kontraproduktiv. In den europäischen Eliten ist niemand bereit, unserer Logik zur Rechtfertigung des Paktes zu folgen. Wem gilt also die Botschaft vom „diplomatischen Triumph“? Bleibt allein die russische Gesellschaft. Es wäre also ein Instrument, mit dem eine Delegitimierung des Stalin-Regimes verhindert werden soll. Warum aber muss das alles dann auf höchster diplomatischer Ebene präsentiert werden?

Die wichtigste historische Lehre aus dem Abkommen lautet: Ein Pakt mit dem Teufel, mit dem absoluten Bösen lässt sich durch keinerlei rationale Argumente oder Verweise auf das amoralische Vorgehen anderer Mächte rechtfertigen. Bei einem langfristigen „Investitionshorizont“ bringt moralische Relativierung niemals Gewinn.

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Der Hitler-Stalin-Pakt

Am 23. August 1939 landete das Flugzeug des deutschen Außenministers in Moskau. Nur ungern hatte Joachim von Ribbentrop seine Sommerfrische bei Salzburg verlassen, um einen Vertrag zu unterzeichnen, an dem seiner Meinung nach sowieso nichts mehr zu rütteln war. Auch seinem Zustandekommen drohte nach dem Scheitern der britisch-französischen Gespräche in Moskau keine Gefahr mehr. Wozu also der Aufwand?
Für Stalin freilich war noch nichts entschieden. Er verlangte Ribbentrop in Moskau, um, wie Hitler rasch zusicherte, „das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatz-Protokoll […] in kürzester Zeit substantiell“ zu klären. Nach sieben Stunden harter Verhandlungen lag das geheime Zusatzprotokoll vor: Darin einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Nach weiteren vier Stunden unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit war der Weg zum Zweiten Weltkrieg in Europa frei.

Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei

Wenige Tage später, am 1. September, marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, und am 17. September folgte die Rote Armee aus Osten kommend. In den ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkriegs waren das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Verbündete, die den europäischen Kontinent gewaltsam untereinander aufteilten. Als der Pakt knapp zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, brach, herrschte Hitler über ein um 800.000 Quadratkilometer erweitertes Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422.000 Quadratkilometer ausdehnen konnte. Historische Freunde, wie die nationalsozialistische Propaganda behauptete und auch Ribbentrop selbst, der sich in Moskau „wie unter Parteigenossen“ fühlte, waren sie allerdings nie. Der stets von Misstrauen und Skepsis begleitete Hitler-Stalin-Pakt folgte eindeutigen geopolitischen Interessen, die weniger für Hitler, aber stets für Stalin Vorrang hatten vor den Imperativen der Ideologie. Diese Expansionsinteressen wurden im berühmt-berüchtigten geheimen Zusatzprotokoll vereinbart. Bis zur Reformära Michail Gorbatschows in den 1980er Jahren stritt die damalige Sowjetunion die Existenz des Geheimprotokolls vehement ab.    

Die Teilung Polens

Die im Geheimprotokoll vereinbarte Teilung Polens war das erste Ziel, das Deutschland und die Sowjetunion erreichten. Zynisch hatte Molotow das Land als „Bastard des Versailler Vertrages“ verunglimpft, dem im Herbst 1939 weder Großbritannien noch Frankreich – ungeachtet bestehender Garantieerklärungen – zur Hilfe eilten. Nach der erfolgreichen Besatzung errichteten Hitler und Stalin grausame Gewalt- und Terrorregime. Die Deutschen verwandelten das sogenannte Generalgouvernement in ein „Auffangbecken“ für tausende deportierte Juden und Polen. Im Generalgouvernement nahm der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, seinen Anfang. Stalin wiederum setzte die Sowjetisierung der gewonnenen Gebiete brutal in die Tat um. Von nun an gehörten Westbelarus und die Westukraine zu seinem Imperium. 

Beide Diktaturen verübten grausame Kriegs- und Massenverbrechen. Im Frühjahr organisierten die deutschen Besatzer die so genannte AB-Aktion, in deren Zuge tausende vermeintliche und tatsächliche Mitglieder des polnischen Widerstands verhaftet und hingerichtet wurden. Etwa zur selben Zeit erschossen Kommandos des sowjetischen NKWD weit über 20.000 polnische Offiziere in den berüchtigten Massenerschießungen von Katyn. 
Dass die Vollstrecker des Terrors nicht nur neben-, sondern häufig auch miteinander planten und agierten, gehört zu den vergessenen Kapiteln in der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts. Mehrfach trafen SS-Schergen und teils hochrangige NKWD-Offiziere zusammen und besuchten sich gegenseitig in den Besatzungsgebieten. Gemeinsam berieten sie etwa im Dezember 1939 über Aktionen gegen den polnischen Widerstand, koordinierten groß angelegte Umsiedlungsaktionen und setzten 1940 eine deutsch-sowjetische Flüchtlingskommission in Kraft, deren Aufgabe es unter anderem war, illegale Flüchtlingsströme zu unterbinden. 

Auf dem Höhepunkt des Bündnisses 

Die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gingen weit über Polen hinaus. Auf dem Höhepunkt im Frühjahr 1940 ermöglichte das Bündnis Hitlers „Blitzkriege“ in Westeuropa. Immense Wirtschaftslieferungen aus der Sowjetunion versorgten die deutsche Kriegsmaschinerie mit notwendigen Rohstoffen wie Erdöl und Eisen. Auf der Grundlage eines umfangreichen Wirtschaftsabkommens vom Februar sandte Deutschland im Gegenzug Fabrik- und Industrieanlangen nach Osten. Mit dem deutschen Einmarsch in Paris und der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 erreichte die nationalsozialistische Expansionspolitik in Westeuropa ihren Zenit. Ohne den Hitler-Stalin-Pakt wäre sie nicht möglich gewesen. 

Die scheinbar mühelosen Siege der Deutschen markierten gleichzeitig die Kehrtwende im deutsch-sowjetischen Bündnis. Stalin hatte sie mit wachsender Skepsis und Sorge beobachtet. Um sich seinen Teil der „Beute“ zu sichern, besetzte er die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die seit 1939 mit lädierter Souveränität überlebt hatten. „Sie hatten keine Chance“, gab Molotow noch Jahrzehnte später zu: „Ein Land muss sich um die eigene Sicherheit kümmern. Als wir unsere Forderungen formulierten – man muss handeln, bevor es zu spät ist – schwankten sie noch. […] Aber schließlich mussten sie sich entschließen. Und wir brauchten die baltischen Staaten.“ 

Dass die Sowjetunion danach Ansprüche auf Bessarabien und die Nordbukowina erhob, provozierte eine handfeste bündnispolitische Belastungsprobe. Denn auch Deutschland stand diesen, zu Rumänien gehörenden Gebieten, nicht gleichgültig gegenüber: Es benötigte im Zuge der nationalsozialistischen Wirtschaftspläne in Südosteuropa das Wohlwollen Rumäniens, um auf dessen Ölfelder und Landwirtschaftsressourcen zugreifen zu können. Stalin entschied die Bessarabienkrise für sich. Danach aber konnten keine Freundschaftsschwüre mehr die tiefen Risse im deutsch-sowjetischen Bündnis übertünchen. Schon im Frühherbst 1940 streckten beide die Fühler nach anderen Partnern aus. Stalin empfing in Moskau einen Sondergesandten Londons. Hitler schuf mit dem Dreimächtepakt, den das Deutsche Reich, Italien und Japan am 27. September in der Reichskanzlei unterzeichneten, die Achse Berlin-Rom-Tokio. 

November 1940: Molotow in Berlin

Der Besuch des sowjetischen Außenkommissars in der Reichshauptstadt im November 1940 gilt gemeinhin als letzter Versuch der Verständigung und Wiederbelebung des Hitler-Stalin-Pakts. Dabei hatte Hitler den Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion bereits getroffen. Die militärischen Vorbereitungen waren im Gange, die Führung der Wehrmacht war unterrichtet und schon im Sommer wurden Militäreinheiten aus dem Westen gen Osten und nach Finnland verlegt, wo sie für Moskau zu großer Besorgnis Anlass gaben. 
Vor diesem Hintergrund versuchte Hitler seinen Bündnispartner, die Sowjetunion, nach Asien und in einen Konflikt mit Großbritannien zu treiben. Denn als Ausgleich für die Aufgabe territorialer Ambitionen in Finnland und in Südosteuropa bot Hitler der Sowjetunion Indien an; ein „primitives Spiel“, das Molotow leicht durchschaute. Dass Stalin insbesondere auf Finnland beharrte – sein Anspruch war im geheimen Zusatzprotokoll verankert und von den Deutschen anerkannt worden – bestätigte den ideologischen Antibolschewismus, den Hitler nie abgelegt, sondern nur hintangestellt hatte. Die Sowjetunion als gleichberechtigten Partner und nicht als minderwertigen Erfüllungsgehilfen zu betrachten, war in seiner ideologischen Überheblichkeit unvorstellbar. Am 18. Dezember 1940 diktierte Hitler in der Weisung Nr. 21 den Überfall auf die Sowjetunion. Der Weisung zufolge sollte die Wehrmacht bis 15. Mai 1941 alle Vorbereitungen für einen Einmarsch abgeschlossen haben. 

Vom Bündnis zur Feindschaft 

Die Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts endete am 22. Juni 1941. Noch Jahre später, mitten im Kalten Krieg, bedauerte Stalin den Bruch seiner Tochter Swetlana zufolge mit den Worten: „Zusammen mit den Deutschen wären wir unschlagbar gewesen“. Und er meinte wohl, unschlagbar, hätte Deutschland keinen Krieg gegen die Sowjetunion begonnen. Es war Hitlers fanatischer Wille, Stalin aus Europa zu vertreiben, einen ideologischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu führen. Diesen setzte er als grausamen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in die Tat um. Aus den Verbündeten wurden erbitterte Gegner, die sich auf altbewährte ideologische Feindschaften stützen konnten. Stalin hätte diesen Krieg gern vermieden. Gegen territoriale Eroberungen hatte er nichts. Hitler aber wollte den Krieg, der im Mai 1945 nach unvorstellbarem Leid und Millionen Toten mit der Niederlage des „Dritten Reiches“ endete.

Der Hitler-Stalin Pakt und die Erinnerung

Das deutsch-sowjetische Bündnis bestimmte die ersten 22 Monate des Zweiten Weltkriegs in Europa. Ungeachtet seiner immensen historischen Bedeutung erscheint es oft wie ein Präludium, wie ein hinführendes Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der, so der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers „Drittem Reich“ und Stalins Sowjetunion begann. In der teleologischen Sichtweise läuft der Weltkrieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöst.

Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0

Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs hat, unterschätzt. Auf das „Dritte Reich“ bezogen fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. In der sowjetischen Lesart galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Deutung lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die damaligen Erinnerungsdebatten große Bedeutung. In dieser Zeit prägte der Pakt die Kontroversen um eine gemeinsame historische Erinnerung Europas. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind dabei gelegentlich als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden. Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern. Sondern es ging darum, ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg. Und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran bislang viel ändern.


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Von der Autorin ist aktuell zum Thema erschienen: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019 
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