Der Kampf gegen Fake News ist derzeit allerorten ein großes Thema. Auf der Website des russischen Außenministeriums sollen nun unter der Rubrik „Nedostowernie Publikazii“ (dt. „Unglaubwürdige Publikationen“) Fake News ausländischer Medien und Politiker entlarvt werden. Am gestrigen Mittwoch, 22. Februar 2017, ging die Rubrik online. Abgebildet ist jeweils der Screenshot eines nicht-russischen Textes, darüber ein roter Stempel mit Schriftzug „Fake“. Unter den einzelnen Screenshots steht: „Die in diesem Text verbreiteten Informationen entsprechen nicht den Tatsachen“. Auf eine tiefergehende Analyse der einzelnen Materialien scheint das Ministerium zunächst zu verzichten.
Stanislaw Kutscher nimmt die Initiative des Ministeriums zum Anlass, um auf Kommersant FM den journalistischen Umgang mit Fakten zu hinterfragen – nicht nur in Russland, sondern auch im Westen.
Als ich 1989 mein Studium am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) begann, war ich unangenehm überrascht, dass der Fachbereich Internationale Journalistik umbenannt worden war in Fachbereich für Informations- und Propagandaarbeit. Uns wurde damals geradeheraus gesagt, das sei ein Erfordernis der Zeit: Der Westen nutze die Perestroika, um die UdSSR zu zerstören, daher brauche man keine Journalisten, sondern Propagandisten, die fähig sind, das Vaterland im Informationskrieg gegen den Westen zu verteidigen.
„Manipulation der öffentlichen Meinung“, „Informations-Sabotage“, „Rhetorik und Psychologie der Massenpropaganda“ – all diese Begriffe lernte ich schon im ersten Semester. Ich hoffte allerdings naiv, dass dieses Wissen schon bald nutzlos sein würde. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Ein Vierteljahrhundert später bin ich Zeuge eines beispiellosen Triumphs der Propaganda über den Journalismus. Nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt. Jedoch muss ich zugeben, dass im neuen Jahrtausend gerade mein Vaterland die Gesetze vorgab für diesen Trend, der für jede gesunde Gesellschaft gefährlich ist.
„Es herrscht Krieg, die Zeiten des unparteiischen Journalismus sind vorbei“, so versicherte es mir mit funkelndem Blick 2014 ein alter Kamerad, der einst ein hervorragender Reporter war. „Von welcher Objektivität kann denn hier überhaupt die Rede sein, wenn dein Land angegriffen wird?!“
Diese Haltung wurde in Russland gegen Ende 2013 zur Norm. Denn nach jahrelanger Militarisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins war die These des „von Feinden umzingelten Vaterlandes“ für die Mehrheit im Land bereits ein Grundprinzip.
Was soll’s, dann gab es den gekreuzigten Jungen halt nicht! Aber es hätte ihn ja durchaus geben können!
„Was soll’s, dann gab es den gekreuzigten Jungen halt nicht! Aber es hätte ihn ja durchaus geben können! In Kiew gibt es ja tatsächlich Faschisten! Wieso sollten wir uns da für irgendwas entschuldigen?“ Dieses Zitat aus meiner Konversation mit einem Mitarbeiter des Ersten Kanals offenbart den Clou des „Journalismus“ zu Zeiten des neuen Kapitels im historischen Konflikt zwischen Moskau und Kiew – oder weiter gefasst: zwischen Russland und dem Westen. Fakes, Verdrehungen von Fakten, Inszenierungen und absichtliche Akzentverschiebungen gelten nicht mehr als Schwindelei, Verrat am Beruf oder Ausdruck von Unprofessionalität, sondern höchstens als unvermeidliche Abstriche, die man für die gute Sache im Dienst am Vaterland in Kauf nimmt.
Besessenheit vom Kampf gegen Feinde, innere oder äußere, ist eine ansteckende Krankheit. Nach Maidan, Krim und Donbass ist die Zeit des ehrlichen Journalismus auch für die Ukraine vorbei. „Von welcher Unparteilichkeit kann denn hier überhaupt die Rede sein, wenn dein Land angegriffen wird?!“ Diese Worte wiederholen nun meine Kiewer Kollegen. Und nicht nur die Kiewer! „Wenn ich davon überzeugt bin, dass Putin böse ist, was macht es dann für einen Unterschied, mit welchen Mitteln ich meine Leser davon überzeuge? Wichtig ist das Ergebnis!“ Das entstammt meinem Streit mit einem einst glänzenden liberalen Journalisten, der sich vor aller Augen verwandelt hat in einen nicht minder glänzenden Publizisten, gar Politkommissar.
Mittlerweile schreibt jeder Hinz und Kunz im Westen über die Notwendigkeit der Gegenpropaganda
Die US-amerikanische Presse hat sich am längsten gehalten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat man sich dort weit weniger um Russland gekümmert, als es die russischen Propagandisten gewollt hätten. Die Gefahr der russischen Propaganda ist dort erst seit vergangenem Jahr ein richtiges Thema, seit dem dortigen Wahlkampf. Mittlerweile schreibt jeder Hinz und Kunz im Westen über die Notwendigkeit der Gegenpropaganda, voller Vorwürfe gegen die eigenen Regierungen und gegen sich selbst: Man hätte die „Moskauer Informations-Aggression“ verpennt.
„Von welcher Objektivität kann denn hier überhaupt die Rede sein, wenn unser Land angegriffen wird?!“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich derlei Worte bald aus dem Mund befreundeter amerikanischer und europäischer Journalisten hören werde.
Der Westen ist natürlich kein zusammengehöriges Land, und alle westlichen Medien in eine zentral gelenkte Propagandamaschine umzuwandeln, ist schlichtweg unmöglich. Aber man kann erreichen, dass Journalisten zu Propagandisten werden und sich als Teil „der großen Sache im Widerstand gegen Moskau“ fühlen, das geht.
Kein Krieg kommt ohne Mythen und Lügen aus
Die Propaganda beschreitet triumphierend den Planeten. Die Nachfrage nach Websites und Experten für die Schaffung und Enthüllung von Fake News wächst eifrig. Kein Krieg kommt ohne Mythen und Lügen aus. Also macht Maria Sacharowa alles ganz richtig.
„Ein Dieb gehört ins Gefängnis, und die Menschen kümmert es nicht, wie ich ihn einbuchte. Komm, lass uns gleich hier hundert Leute fragen, was ihr Herz erreicht: meine Lügen oder deine Wahrheit?“ [So streiten die beiden Protagonisten Sheglow und Scharapow in einem sowjetischen Spielfilm – dek]
Die russischen Machthaber und mit ihnen die Propaganda haben zwischen den streitenden Sheglow und Scharapow gewählt. Nun trifft auch der Rest der Welt seine Wahl.