Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt.1 Viele russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Sergej Medwedew zum Beispiel behauptet, dass Putins Politik dann im Einklang mit Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes stünde, wenn der Präsident gegen Normen verstößt2 – sei es bei systematischen Repressionen, die verfassungswidrig sind, oder bei der Angliederung der Krim, die das Völkerrecht verletzt. Andere Wissenschaftler betonen gar, dass Putins grundsätzliches Politikverständnis aus Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung bestünde.
Die Schmittsche Unterscheidung von Freund und Feind beschäftigt auch das unabhängige Lewada-Institut. Seit 2006 ermittelt es in jährlichen (außer 2008) Meinungsumfragen, wie die russische Gesellschaft das Verhältnis verschiedener Staaten zu Russland einschätzt:3 Welche fünf Länder sind Russland am freundlichsten gesinnt, welche am feindlichsten?
Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa
Meinungsumfragen funktionieren in Russland nach einem besonderen Prinzip, meint der Soziologe Grigori Judin. Die Meinungsforscher nehmen sehr oft „einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“.
Diese Umfrage macht es besonders deutlich, denn die Antworten sind nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml, die wiederum auch die Fernsehnachrichten bestimmt, aus denen die meisten Menschen in Russland wiederum ihre Informationen beziehen.
Was sind dann solche Meinungsumfragen überhaupt wert? Zumindest zeigen sie den Trend, was schon für sich interessant sein kann. Außerdem spiegeln sie in Umkehrung der These von Judin auch die Abendnachrichten. In diesem Sinne sind Meinungsumfragen indirekte Mediendiskursanalysen. Schließlich zeigen sie auch, wie die (geäußerte) öffentliche Meinung in Russland gemacht wird. Im konkreten Fall heißt das, dass der Kreml Feindbilder forciert und damit die (geäußerte) Resonanz in der Gesellschaft erzeugt. Der Topos wird schon seit einigen Jahren von russischen Staatsmedien verbreitet: Russland sei von Russophoben umzingelt, die danach trachten, das Land genauso in die Knie zu zwingen wie in den 1990er Jahren. Auch im Inneren der belagerten Festung Russland gebe es feindlich gesinnte Menschen, die sogenannten ausländischen Agenten, also Agenten des eigentlichen Belagerers der Festung.
Viele Wissenschaftler meinen, dass die Konstruktion dieser Feindbilder von innenpolitischen Problemen ablenken soll und durch „Gefahren“ den sogenannten konstituierenden Anderen schaffe, der eine einende Kraft stiftet und so das Volk hinter dem Präsidenten versammelt.4 Feindbilder sind demnach also Legitimationsstrategien.
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten. Quelle: Lewada-Zentrum
Russlands wichtigster Referenzpunkt
Dieser Zusammenhang wird vor allem bei der Frage „Wie stehen Sie zu den USA?“ deutlich. Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab in dieser Meinungsumfrage mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.
In letzterer bedeutet es auch, dass die USA seit 2013 zu den am feindlichsten gesinnten Staaten stets an erster Stelle stehen – 2018 glauben es 78 Prozent der Befragten. Bis zur Mitte der 1990er Jahre sahen das aber nur rund sieben Prozent so.5 Viele Wissenschaftler erklären den krassen Umschwung auch mit der jahrelangen antiamerikanischen Propaganda, die – angefangen mit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz6 – letztendlich in der Formel belagerte Festung gipfelte.7
„Handlanger“
Im feindlich gesinnten Fahrwasser der USA, so der Tenor von Staatsmedien, schwimme auch die Ukraine. Schon 2009 war das Land in der Umfrage nur wenige Prozentpunkte von den USA entfernt. Die Daten für 2008 fehlen, es ist aber wahrscheinlich, dass die Ukraine schon damals – und nicht erst 2009 – den Sprung von 23 auf 41 Prozent machte (der Wert bei den USA stieg entsprechend von 35 auf 45 Prozent). Der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko galt für die russischen Staatsmedien nämlich schon 2008 als ein Handlanger der USA. 2010 wurde Juschtschenko abgewählt, und da der neue Präsident Viktor Janukowitsch kremlnah war, wurde die Ukraine auch nicht mehr als feindlich gesinnt wahrgenommen: Der Wert fiel auf 13 Prozent.
2013 lag er gar bei elf Prozent, doch vor dem Hintergrund des Euromaidans, der Krim-Angliederung und des Krieges im Osten der Ukraine kletterte er in der Folgezeit kontinuierlich auf 49 Prozent im Jahr 2018.
Ähnlich verhielt es sich mit Georgien: Auch dort galt der Präsident (Micheil Saakaschwili) für die Staatsmedien Russlands als ein Handlanger der USA. 2008 entfesselte er zudem den Georgienkrieg, und 2009 besetzte Georgien die Spitzenposition im Ranking der feindlich gesinnten Staaten.
Interessant ist auch die Entwicklung bei den baltischen Ländern: Abgesehen von besagten Ereignissen 2008 und 2009, waren sie bis 2011 stets in der Top-Fünf der feindlich gesinnten Staaten. Vor allem Estland sticht 2007 hervor – damals ging es um die Demontage eines Denkmals des sowjetischen Soldaten in Tallinn, was scharfe Kritik aus dem Kreml und eine entsprechende Kampagne in den staatlich-gelenkten Medien provozierte. Interessanterweise halbierte sich im Folgejahr der Wert bei Estland, auch Litauen und Lettland wurden in der Folgezeit immer weniger als feindlich gesinnt wahrgenommen.
Sonderfall Türkei
Von gestern auf heute zum Feind, morgen zurück – nach diesem Schema verlief 2016 die ermittelte Haltung zur Türkei. Von einem Prozent stieg der Wert auf 29, bevor er im Folgejahr auf acht Prozent fiel. Hintergrund war der türkische Abschuss eines russischen Kampfjets an der Grenze zu Syrien im November 2015. Ende Juni 2016 äußerte Erdogan in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss, kurz darauf gab es ein Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Danach waren die Beziehungen wieder so gut, dass manche Beobachter sich an Orwells 1984 erinnerten, wo Ozeanien abwechselnd mit Eurasien oder mit Ostasien Freund-Feind spielte.
Sanktionen
Einen steilen Ausschlag in der Statistik gab es 2018 für Großbritannien: Der Wert schnellte von 15 im Jahr 2017 auf 38 Prozent. Auslöser war der Fall Skripal. 27 Staaten entschlossen sich zu einem Schulterschluss mit Großbritannien und wiesen über 140 russische Diplomaten aus. Die russischen Machthaber protestierten, und die staatlich-gelenkten Medien ätzten in einer massiven Kampagne gegen Theresa May.
Schon seit der Angliederung der Krim wettern sie gegen Angela Merkel. 2013 stand Deutschland noch mit 14 Prozent auf dem vierten Rang der freundlich gesinnten Länder, 2017 teilte es sich mit Litauen und Lettland aber schon den dritten Platz im Ranking der feindlich gesinnten. Da sich der Wert bei Frankreich nach 2014 nur minimal veränderte, liegt der Referenzschluss nahe, dass Merkel im Kreml als Motor der Einführung und turnusmäßiger Verlängerungen der EU-Sanktionen gegen Russland gilt. Deswegen wurde in russischen Staatsmedien gegen die Bundesregierung, weniger gegen Frankreich gehetzt.
Freundlich gesinnte Staaten
„Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“, soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mal gesagt haben. Die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die er bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz Anfang 2017 in Richtung Russland losließ, deuteten einen Umschwung in der traditionellen Freundschaft an. Obwohl Belarus seit 2006 mit 34 bis 55 Prozent immer das Freunde-Ranking anführt, müsste der Beziehungsstatus wohl dennoch auf „es ist kompliziert“ geändert werden. So wird in jüngster Zeit in Belarus ein Verbot des St. Georgs-Bandes diskutiert – solche Initiativen bewerteten russische Staatsmedien aber als Affront gegen Russland. Außerdem gilt Lukaschenko für viele Beobachter ohnehin als zunehmend unberechenbar8, seine ständigen Volten und Pendelbewegungen könnten durchaus irgendwann in einer Westbindung münden.
Eine solche ist bei dem zweitplatzierten „freundlich gesinnten“ China in nächster Zeit nicht zu erwarten. Doch ließe sich der Beziehungsstatus von Russland und China eher als Zweckfreundschaft beschreiben. Bis zur Angliederung der Krim pendelte China nämlich bei etwa 20 Prozent, 2014 verdoppelte sich der Wert, auch 2018 steht er bei 40 Prozent.
Damit überholte China die traditionelle Nummer zwei – Kasachstan. Der kasachische Präsident Nasarbajew war schon 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990 übernahm er nahtlos die Präsidentschaft. Russland verbindet mit Kasachstan nicht nur die längste Landgrenze, sondern auch die Nachbarschaft in Ranglisten der Pressefreiheit9 oder Bürger- und Freiheitsrechte.10
Neu in der Top-Fünf der am freundlichsten gesinnten Länder ist seit 2016 Syrien. Zuvor unter „ferner liefen“, schnellte das Land auf den vierten Rang, 2018 zählen rund 21 Prozent der Befragten Syrien zu einem freundlich gesinnten Land.
Wirksamkeit der belagerten Festung
Diese Meinungsumfrage untermauert die Eingangsthese von Grigori Judin: Die öffentliche Meinung wird durch Fernsehnachrichten gelenkt, in denen der Kreml Feindbilder forciert. Da die öffentliche Meinung aber nur ein Produkt dieser Umfrage ist, bleibt es infrage gestellt, ob die Technologie des „konstituierenden Anderen“ tatsächlich zu einer wirksamen Legitimationsstrategie taugt. Die wirkliche Meinung der Menschеn in Russland bleibt nämlich ungewiss. Ebenfalls unbeantwortet bleibt also auch die Frage, ob es dem Kreml im Ergebnis gelingt, durch Feindbilder von den massiven innenpolitischen Problemen abzulenken. Und so liegt es für manche Politikwissenschaftler auf der Hand, dass die Legitimationsstrategie belagerte Festung eigentlich einer Ohnmacht gleiche.11 Ähnliches lässt sich übrigens auch von Carl Schmitts Freund-Feind-Schema behaupten.
Grafik: Daniel Marcus
Text: Anton Himmelspach
Stand: Juli 2018