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Lavieren in Nahost

Kein einziges globales oder regionales Problem könne ohne Russland gelöst werden, verkündete schon 2003 Wladimir Putin. In der Tat hat Russland eine außenpolitische Sonderstellung: Durch die guten Beziehungen zu verfeindeten Parteien ist der Kreml oft in der Lage, als Vermittler aufzutreten. Moskau verhandelt nicht nur mit den Taliban, sondern auch mit der Hamas oder Hisbollah. Gleichzeitig pflegt es gute Beziehungen zu Israel, aber auch wiederum zum Iran; zur PYD – syrische Schwesterpartei der kurdischen PKK –, aber auch zum türkischen Präsidenten Erdoğan. 

Eigentlich hat Russland damit sehr gute Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenspolitik. Auch das Potential für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist enorm. Trotzdem sei die Nahost-Strategie des Kreml ineffektiv, kritisieren die Nahost-Experten Anton Mardassow und Kirill Semjonow auf Riddle. Der Kreml betreibe in der Region oft nur Effekthascherei – „mit roten Teppichen und Lobeshymnen“.

Источник Riddle
  Der russische Außenminister Lawrow (rechts) in Syrien, September 2020 / Foto @ Flickr/MID Rossii CC BY-NC-SA 2.0

Viele sind der Ansicht, dass Russlands Rückkehr in den Nahen Osten mit der militärischen Intervention in Syrien begann. Dadurch konnte es Stärke demonstrieren und seine Spielregeln in den Ländern der Region durchsetzen, die wegen ihrer Differenzen mit den USA ohnehin nicht abgeneigt waren, eine Zusammenarbeit einzugehen und ihre Kontakte zu diversifizieren. 

Moskau hat tatsächlich die Müdigkeit der syrischen und ausländischen Akteure in diesem Konflikt genutzt, deren unterschiedliche Interessen und Positionen ihnen beim Aufbau einer starken Opposition gegen Assad im Weg standen. Russland hat in dieser Krisensituation gehandelt, während seine Widersacher zauderten. Und seine unzureichende wirtschaftliche und militärische Stärke in der Region kompensierte Moskau durch eine Kette von Bündnissen, um so seine Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung voranzutreiben. 

Der Auslöser: Krise um die Ukraine 

Russlands Rückkehr in den Nahen Osten und später nach Afrika hat nichts damit zu tun, dass Moskau geduldig auf den geeigneten Moment gewartet hätte, sich als Akteur ins Spiel zu bringen, ohne den kein einziges globales oder regionales Problem gelöst werden könne (wie Putin es schon 2003 verkündet hatte). Die Intervention in Syrien und die anschließende Umwandlung des Landes in ein Drehkreuz, über das Moskaus Stärke nach Libyen und Afrika projiziert wurde, wäre ohne die Krise um die Ukraine nicht möglich gewesen. 

Diese hatte den Kreml vor einige Fragen gestellt: 
Wie kann man verhindern, dass das Land mit einer sich verteidigenden „belagerten Festung“ assoziiert wird und wie kann man sich am globalen Wettbewerb beteiligen? 
Wie lässt sich angesichts der verhängten Sanktionen ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen erreichen? Wie kann Moskau bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen für seine Interessen eintreten (die 54 afrikanischen Mitgliedsstaaten machen fast ein Drittel aller Stimmen in der UN-Vollversammlung aus)?

In dem Bemühen, die Folgen ihres Vorgehens auf der Krim und im Donbass zu überwinden, richtete die russische Regierung ihre Anstrengungen neu aus und gab der Nahostpolitik eine neue Bedeutung. Sie entschied sich für eine flexible Politik, deren wichtigste Triebkraft der Export von Sicherheitsdienstleistungen war – so auch die Rekrutierung von Söldnergruppen mit Kampferfahrung in der Ukraine. 

Zeitlich begrenzte Wirkung

Dieser Ansatz ist für autoritäre Staatsführer verständlich und wichtig für die Stabilisierung ihrer Lage. Er ist nicht an Menschenrechte oder eine wirtschaftliche Liberalisierung geknüpft. Wie stimulierend diese Akzentuierung auch sein mag, so sehr ist sie in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt. Die russische Führung wird nun so lange Geisel dieses Ansatzes bleiben, bis ein Weg gefunden wird, wie man die Dividenden einstreichen und die eigene Position in der Region weiter stärken kann – ohne allerdings in irgendeine Krise verwickelt zu werden.

Es ist kein Geheimnis, dass es bei Russlands Vorgehen auf dem Öl- und Gasmarkt – insbesondere bei Projekten in der Türkei, im kurdischen Teil des Irak und im Libanon – mehr um Politik als um wirtschaftlichen Nutzen geht. Die Vorstellung jedoch, dass Russland beständig und präzise einer ausgeklügelten Strategie folge, ist nichts als ein Mythos, der hartnäckig von der Propaganda befeuert wird.

Ausgeklügelte Strategie? Ein Mythos

Die heutige Nahostpolitik Russlands muss durch das Prisma des gegenwärtigen Verhältnisses Moskaus zum Islam und zur islamischen Welt gesehen werden. Das Problem dabei ist: Der Kreml wird immer dann in dieser Richtung aktiv, wenn es Konflikte gibt oder wenn es gilt, schärfste Differenzen in den Beziehungen zu den führenden islamischen Staaten auszubügeln.
Die erste Phase, in der eine Annäherung Russlands an die islamische Welt erfolgte, war der Zweite Tschetschenienkrieg. In diese Phase fällt der Auftritt von Wladimir Putin beim Gipfeltreffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Russlands Erlangung des dortigen Beobachterstatus. Zu dieser Zeit fand auch der erste Staatsbesuch eines russischen Präsidenten in Saudi-Arabien statt. Russland hat es dennoch nicht vermocht, die Zusammenarbeit mit der islamischen Welt zu festigen oder sie vertrauensvoller zu gestalten.

Den zweiten Annäherungsversuch Russlands an die islamische Welt können wir aktuell beobachten. Er erfolgte aufgrund der Konfrontation mit den Anti-Assad-Kräften, von denen viele Ideen des Islam anhingen. Hier können wir von einer gewissen Institutionalisierung dieser Rückkehr Russlands in den Nahen Osten sprechen. Dadurch ist unter anderem der Beginn von Verhandlungen mit dem Iran und der Türkei in Astana möglich geworden. Ebenso konnte in den Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die den Einfluss der Türkei in Syrien und Libyen zurückdrängen wollen, eine neue Phase eingeläutet werden.

Das Tschetschenien-Syndrom

Der Tschetschenienkrieg war Anlass für eine Weiterentwicklung der Beziehungen Russlands zu den Staaten des Nahen Ostens [um durch Bündnisse den radikalislamischen Einfluss einzudämmen – dek], gleichzeitig schwebt über Moskaus Beziehungen zu vielen staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im Nahen Osten nach wie vor das „Tschetschenien-Syndrom“:
So sieht der Kreml in verschiedenen islamischen Kräften, die gewöhnlich als „islamistisch“ bezeichnet werden, potenzielle Sponsoren eines Aufruhrs in Russland, an dem sich Muslime aus Russland beteiligen könnten.

Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde. Die lässt sich – ungeachtet der offiziellen Haltung, die diesen Umstand leugnet – längst nicht immer verheimlichen. Ab und zu kommt sie in der Rhetorik des Kreml zum Vorschein.

Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde

Selbstverständlich hat Moskau seine Bereitschaft zu einem gewissen Pragmatismus demonstriert. Das gilt für seine Beziehungen und Kontakte zu Kairo, als dort die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei [der Muslimbrüder – dek] und die Regierung Mursi an der Macht waren. Es war auch im Verhältnis zum ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Baschir der Fall, der direkte Verbindungen zu sudanesischen Islamisten und der palästinensischen Hamas hatte. Vertreter der letzteren sind seit 2006 regelmäßig in Moskau zu Besuch. Russlands Einladung an die Hamas wurde im Westen logischerweise als Beginn einer Rückkehr Moskaus in die große Politik wahrgenommen. Die damals aktiven tschetschenischen Kämpfer gaben prompt ihren Unmut zu verstehen, dass „die Mudschahedin Palästinas, Brüder der Tschetschenen, sich entschieden haben, Putin die Hand zu reichen“. 

Spiel mit Widersprüchen statt durchdachte Strategie

In Wirklichkeit hat der Kreml damals keineswegs eine Schritt für Schritt durchdachte Politik betrieben: Vielmehr machtе Wladimir Putin seinerzeit genau das, was er heute immer noch macht – er spielte mit Widersprüchen und demonstrierte seine Unabhängigkeit gegenüber den Partnern im Nahost-Quartett (EU, UNO und USA): So hat Putin etwa den Wahlsieg der Hamas als „schweren Schlag“ für die Friedensinitiativen Washingtons im Nahen Osten bezeichnet und neun Tage später Vertreter der Hamas nach Moskau eingeladen. Seitdem sind die russischen Diplomaten genötigt, in jedem Interview zu lavieren, wenn es zu erklären gilt, weshalb die Hamas, die aus den seit 2003 in Russland verbotenen Muslimbrüdern hervorgegangen war, wenige Jahre nach diesem Verbot die russische Hauptstadt besucht. Oder warum Russland die Hamas nicht als Terroristen einstuft (offiziell deswegen, weil sie für die russische Bevölkerung keine Gefahr darstellt).

Gilt es zu entscheiden zwischen islamisch orientierten Politikern und anderen Akteuren, dann sind letztere die Gewinner – Hauptsache, sie verkünden eine säkulare Haltung und erklären allen Formen des Islamismus den Kampf. Kaum verkündet ein Akteur eine solche Haltung, schon ändert Moskau seine Richtung, oft nur als Reaktion und ohne klar definierte Position.

Dieses Vorgehen ist nicht allein der russischen Politik eigen, sondern in gewissem Maße auch der französischen. Der libysche Kommandeur Haftar hat dies intensiv ausgenutzt, indem er eine antiislamistische Agenda verfolgte und sagte, was man in Moskau und Paris von ihm hören wollte. Dabei waren seine antiislamistischen Parolen hauptsächlich an die Außenwelt adressiert. Für den internen Gebrauch verfolgte er einen durchaus fundamentalistischen islamischen Ansatz, instruiert von radikalen salafistischen Predigern. Zu seinen Truppen gehören auch salafistische Einheiten. Gleichwohl reichen öffentliche Bekenntnisse der eigenen Säkularität und deklarative Aufrufe zur Bekämpfung des Islamismus aus, die Gunst des Kreml zu erlangen.

Die Folge ist, dass Moskau im Nahen Osten einem breiten Spektrum politischer Kräfte gegenübersteht, die gemäßigt islamische Positionen vertreten. Das Regime in Russland ist genötigt, mit ihnen umzugehen und Gespräche zu führen, wobei es weiterhin Groll hegt und Medienkampagnen gegen die Betreffenden fährt. Allerdings verheddern sich die russischen Medien des Öfteren, wenn sie über Gespräche russischer Offizieller mit Politikern aus dem Nahen Osten berichten, die sie gestern noch als anrüchig bezeichnet haben. Dabei hätten diese Kräfte durchaus an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert sein können, wenn die russische Seite sich unter gewissen Umständen nicht gescheut hätte, auf sie zu setzen, und wenn Russland seine Nahostpolitik wirklich effektiv und nicht effekthascherisch gestaltet hätte.

Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen

Das Eingreifen in den Syrienkonflikt hat Moskau trotz der offensichtlichen geopolitischen Gewinne keine wesentliche Dividende gebracht. Vielmehr haben die enorme Konzentration auf eine Unterstützung des syrischen Regimes und die Bildung eines faktischen Militärbündnisses mit dem schiitischen Iran, der es ebenfalls vorzog auf einem Grat zwischen Krieg und Frieden zu wandeln, die Flexibilität Russlands im Nahen Osten eingeschränkt. Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen.

2015 hatte es für Moskau die Möglichkeit gegeben, zu Damaskus auf Distanz zu gehen, um nicht mit dem syrischen Regime in einen Topf geworfen zu werden. Man hätte sich auf die offiziell verkündeten Ziele der militärischen Operation in Syrien konzentrieren können, also darauf, den in Russland verbotenen „Islamischen Staat“ zu bekämpfen und das Angriffspotenzial der al-Nusra-Front (Dschabhat an-Nusra, heute Hai‘at Tahrir asch-Scham; die Organisation ist in Russland verboten) zu begrenzen. 2015 hatte die syrische Opposition nicht die Absicht, auf die Seite der Türkei zu wechseln und im syrischen Grenzgebiet für ihre Interessen zu kämpfen. Moskau hätte in diesem Bürgerkrieg die Rolle eines Vermittlers nicht nur imitieren, sondern wirklich übernehmen können – wenn man Schläge gegen Terrorzellen geführt und Assad zu Kompromissen gedrängt hätte. Trotzalledem wäre Assad zu einer russischen Militärpräsenz in diesem Format bereit gewesen.

Unter solchen Voraussetzungen hätte Moskau das syrische Regime womöglich allmählich „zähmen“, es vom Iran losreißen sowie einen vollwertigen Friedensprozess in Gang setzen können, durch den beträchtliche Investitionen ins Land geholt würden. Diese hätten auch von russischen Firmen kommen können, ohne dass sie hätten befürchten müssen, unter die westlichen Sanktionen zu geraten. Zudem hätte Russland seine Positionen behauptet und das Vertrauen des gesamten Kräftespektrums im Nahen Osten bewahrt. Vor allem hätte ein solches Szenario eine mögliche „Afghanisierung“ des Konflikts ausgeschlossen und die Kosten für die Intervention begrenzt.

Eine einzige Empfehlung 

Russland hat als Rechtsnachfolger der UdSSR eine einzigartige Möglichkeit: Es ist in der Lage, parallel und durchaus offiziell einen Dialog mit verfeindeten Seiten zu führen. Heute mit Israel und dem Iran, morgen mit den USA und der Hisbollah, übermorgen mit der Türkei und der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Gleichzeitig hat Moskau nicht die wirtschaftliche Macht der Sowjetunion, um sich eine Großzahl subventionierter und für gewisse Ideale kämpfender Bewegungen zu halten. Ebenso wenig ist Russland in der Lage, den Seiten einen vermittelten Dialog zu seinen Bedingungen aufzuzwingen und sich der Konkurrenz zu stellen. Daher ist der Kreml genötigt, sich in militärische Konflikte im Nahen Osten hineinziehen zu lassen, wodurch er den Status eines unabhängigen Vermittlers verliert.

Die Erfahrung, dass man erfolglos nach verbündeten Regimen gesucht hat, und die ständigen Versuche, als Mentor aufzutreten, sind für Moskau das Haupthindernis für eine Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas in der so sehr beschworenen multipolaren Welt. Und der Kurs auf eine Militarisierung der Außenpolitik sowie die Suche nach einem äußeren Feind zur Erhaltung des bestehenden Systems schließt die Beteiligung russischer Firmen an „politikfreien“ Projekten aus: Schließlich wissen die russischen Diplomaten sehr wohl, dass viele russische Wirtschaftsprojekte im Nahen Osten und Nordafrika nicht deshalb gescheitert sind, weil Washington da Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, sondern durch die Schuld russischer Politiker und Unternehmer. Für Moskau sind vor allem rote Teppiche und Lobeshymnen wichtig und erst dann Realpolitik.

Für den Kreml ist es an der Zeit, sich von dem sowjetischen Paradigma der Nahostpolitik zu verabschieden, bei dem die Blockkonfrontation im Zentrum stand. Außerdem muss die offizielle Haltung revidiert werden, dass Säkularität der wichtigste Indikator für die „Zurechnungsfähigkeit“ der politischen Kräfte im Nahen Osten ist. Zudem sollte die Reichweite der Kontakte in der Region ausgedehnt werden, und zwar ohne Säbelrasseln. Da Russland selbst einen Kurs in Richtung Unterdrückung Andersdenkender und der Medienfreiheit verfolgt, sind große Zweifel angebracht, ob Moskau zu einer solchen Neujustierung bereit ist. 

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Als Angela Merkel im Januar 2020 zu einem Spitzentreffen im Kreml eintraf, war es ihre erste Moskau-Reise seit fast fünf Jahren. Zwar haben Merkel und Putin in dieser Zeit häufig miteinander geredet, nach der Krim-Annexion hat die Bundeskanzlerin aber offenbar gemieden, in die russische Hauptstadt zu fliegen. 

Einer der wichtigsten Gründe ihres Besuchs war der Bürgerkrieg in Libyen. Durch den Vormarsch des libyschen Kriegsherrn Khalifa Haftar auf Tripolis droht das Land in einer Gewaltspirale zu versinken. Dabei wird dieser Vormarsch laut Experten maßgeblich von russischer Seite unterstützt: Rund 1400 Söldner des Militärunternehmens Gruppe Wagner sollen derzeit an der Seite von Haftar kämpfen.1 
Bei der Pressekonferenz nach dem Spitzentreffen sagte Putin, es sei möglich, dass russische Bürger in Libyen kämpfen, allerdings würden sie weder die Interessen des russischen Staates vertreten noch von ihm bezahlt werden.2

Tatsächlich erscheint Russlands Afrikapolitik diffus: So soll Russland beispielsweise in Madagaskar (Rang 148 im russischen Ranking der Länder nach Handelsvolumen) die Präsidentschaftswahl manipuliert haben,3 und in der Zentralafrikanischen Republik (Rang 1894) ist der wichtigste Sicherheitsberater des Präsidenten ein ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier. Hier wurden im Sommer 2019 drei russische Journalisten ermordet,  die zu den Machenschaften der Söldner von TschWK Wagner recherchierten. 

In den letzten Jahren hat Russland afrikanischen Ländern insgesamt rund 20 Milliarden US-Dollar Schulden erlassen, darunter 4,5 Milliarden US-Dollar von Libyen. Was für Interessen könnte Russland in Libyen haben? Und überhaupt in Afrika? 

Trotz erster Anläufe unter Dimitri Medwedew, richtete Moskau den Blick auf den afrikanischen Kontinent so richtig erst nach 2014. Die zunehmende internationale Isolation nach der Annexion der Krim katalysierten Moskaus Suche nach neuen wirtschaftlichen, aber auch diplomatischen Verbündeten. Die ersten bescheidenen Erfolge dieser Bemühungen zeigten sich bereits bei der Krim-Frage: Bei der Abstimmung vor der UN-Generalversammlung stimmten Sudan und Simbabwe mit Russland sowie acht weiteren Staaten gegen die Resolution zur territorialen Unversehrtheit der Ukraine. 

Russland-Afrika-Gipfel 

Um den neuen Stellenwert afrikanischer Länder zu unterstreichen, veranstaltete der Kreml im Oktober 2019 eine der kostspieligsten russischen Konferenzen der vergangenen zehn Jahre: Der erste Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi war mit Kosten von rund 4,5 Milliarden Rubel sogar noch teurer als das Petersburger Wirtschaftsforum. Vertreter aller afrikanischer Staaten, unter ihnen 43 Staats- und Regierungschefs, sind in die Schwarzmeerstadt angereist. Sie haben Verträge in Höhe von umgerechnet rund 13 Milliarden US-Dollar unterzeichnet, außerdem soll das Format als Russia-Africa Partnership Forum nun alle drei Jahre stattfinden. Das Amtsblatt Rossijskaja Gaseta titelte: „Nach Afrika! Russische Investitionen haben ein warmes Plätzchen gefunden“.5 Parallel zum Gipfel unterstrich Moskau seine Afrika-Ambitionen, indem es erstmalig zwei Tupolew-Bomber vom Typ Tu-160 auf den südafrikanischen Militärflugplatz Waterkloof verlegte.6 Insgesamt soll Moskau mit etwa 20 Staaten auf dem afrikanischen Kontinent Militärkooperationen haben.7  

Naher Osten und Afrika werden zusammengedacht

Nichtsdestotrotz hat Afrika jedoch per se keine prioritäre Stellung in der russischen außenpolitischen Agenda. Das gegenwärtige Handelsvolumen beträgt etwa 20 Milliarden US-Dollar und liegt damit deutlich unter den etwa 300 Milliarden der Europäischen Union oder den 200 Milliarden US-Dollar von China. Von diesen 20 Milliarden gehen alleine acht auf den Handel mit Ägypten zurück. Seit 2006 unterhält der russische Staat hier die erste russische Universität im Nahen Osten – die Egyptian Russian University (ERU). Insgesamt wird im russischen Außenministerium der afrikanische Kontinent zweigeteilt: in ein Departement Afrika, das in etwa für die Staaten Subsahara-Afrikas verantwortlich ist, und in ein Departement Naher Osten und Nordafrika. Dieses umfasst den Maghreb, den Nahen Osten oder etwa den Sudan. 

Dass die Kreml-Strategen womöglich eine Verbindung von russischem Engagement im Nahen Osten mit russischer Afrikapolitik verfolgen, erscheint von daher plausibel. 

Alte Netzwerke

Dabei soll auf Netzwerke aus der Sowjetzeit zurückgegriffen werden. Sowohl der vierte Präsident Ägyptens Hosni Mubarak als auch Hafez al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten Syriens Baschar al-Assad, wurden in der Sowjetunion ausgebildet, an der Höheren Militärkommando Schule Frunse, im heutigen Kirgistan. Die Funktion der Kaderschmiede für die sogenannte Dritte Welt übernahm insgesamt jedoch die 1960 eigens dafür gegründete heutige Russische Universität der Völkerfreundschaft (RUND).8 Von 1961 bis 1992 trug sie den Namen des ersten Staatschefs vom unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba. Dieser wurde 1961 mit Unterstützung von US-Geheimdienst und belgischer Regierung ermordet. 

Entkolonisierung = Kampf gegen kapitalistische Imperialisten

Nach dem Tod des Diktators Josef Stalin, der keine nennenswerte Afrikapolitik betrieben hatte, entdeckte die Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow den Kontinent. Im weltpolitischen Setting des Kalten Krieges erkannte Moskau viel Potenzial, nicht zuletzt in der afrikanischen Entkolonisierung. 
Als einzige ehemalige europäische Großmacht hatte Russland zu keiner Zeit Kolonien in Afrika besessen. So versprach man sich durch das Engagement neben geopolitischen Erwägungen, wie etwa neue Militärhäfen, vor allem auch einen Zugewinn an Softpower. Die Unabhängigkeitsbestrebungen sollten ideologisch mit dem Kampf gegen die sogenannten kapitalistischen Imperialisten verbunden werden. Die Lumumba-Universität sollte entsprechende Kader ideologisch vorbereiten. 

Ebenfalls Anfang der 1960er Jahre erscheint auch das erste umfassende sowjetische Nachschlagewerk über den Kontinent: Die Enzyklopädie Afrika wurde damals vor allem vom Afrika-Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften (RAN) erarbeitet.9 Auch heute ist das Afrika Institut der RAN wieder eine veritable Forschungseinrichtung. Gleichzeitig ist der Bildungsmarkt viel kompetitiver als noch zu Zeiten der Sowjetunion. Außenminister Sergej Lawrow sagte 2018 in einem Interview mit dem marokkanischen Magazin Hommes d’Afrique, dass von den etwa 15.000 Studenten aus Afrika in Russland gut 1800 ein Stipendium vom russischen Staat erhalten haben.10 

Konzept oder Opportunismus?

Insgesamt hatte die Sowjetunion Einfluss vor allem nur bei verhältnismäßig instabilen und sehr armen Staaten.11 Dies werteten Beobachter als Evidenz dafür, dass für das sowjetische Engagement ein Land so gut wie das andere gewesen sei – Hauptsache der sowjetische Einfluss ließ sich vergrößern. 
Auch heute stellt sich die Frage, ob Russland tatsächlich ein Konzept in Afrika verfolgt oder rein opportunistisch handelt. Für Dimitri Kosyrew, einen der prominenten Absolventen des Instituts der Länder Asiens und Afrikas der Lomonossow-Universität Moskau, ist klar: „Russlands zweiter afrikanischer Versuch“ bestehe etwa im Export von Know-How in Geologie und Geotechnik, Düngemitteln oder Atomkraftwerken. Gleichzeitig betont Kosyrew aber auch, „dass wir den Afrikanern immer noch angenehmer sind als die ehemaligen Kolonialherren“.12  

Fast 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist der Kreml international weitgehend isoliert, strebt aber gleichzeitig nach neuer Größe als international unumgänglicher Akteur. Auch die russische Afrikapolitik lässt sich teilweise in diesem Zusammenhang deuten: Hätten die russischen Söldnertruppen von Putins sogenanntem Koch Jewgeni Prigoshin beispielsweise nicht in den libyschen Bürgerkrieg eingegriffen, dann hätte sich die Lage im gebeutelten Land wahrscheinlich nicht so stark verschärft. Merkels Besuch in Moskau hätte dann also womöglich gar nicht stattgefunden, genauso wenig wie die dort verabredete Libyen-Konferenz im Januar 2020 in Berlin. Der britische Premierminister Boris Johnson jedenfalls ermahnte Putin am Rande der Konferenz äußerst undiplomatisch, als er sagte: „Es wird keine Normalisierung unserer bilateralen Beziehungen geben, bis Russland die destabilisierende Aktivität beendet, die Großbritannien und unsere Verbündeten bedroht.“13 


1.Süddeutsche Zeitung: Libyen. Profiteur unklarer Fronten 
2.RBK: Putin otvetil na vopros o rossijskich naemnikach v Livii 
3.vgl. Grossman, Shelby/Bush, Daniel/DiResta, Renée (2019): Evidence of Russia-Linked Influence Operations in Africa, Freeman Spogli Institute for International Studies, Stanford University 
4.vgl. exportcenter.ru: CAR (Central'noafrikanskaja Respublika) 
5.Rossijskaja Gazeta: V Afriku! Rossijskie investicii našli teploe mesto 
6.vgl. Die Presse: Premiere: Russische Langstreckenbomber in Südafrika gelandet 
7.vgl. The Guardian: Russia in Africa: Leaked documents reveal Russian effort to exert influence in Africa 
8.Im Rahmen des Afrika-Gipfels in Sotschi veranstaltete die Universität das erste internationale Festival „Ich will in Afrika arbeiten“, vgl. rudn.ru: Pervyj meždunarodnyj festival' «Ja choču rabotat' v Afrike» 
9.vgl.Yastrebova, I.: The Soviet Encyclopaedia on Africa. The Journal of Modern African Studies, 1(3), S. 386f. 
10.vgl. Interview mit dem russischen Außenminister Sergej Lavrov in der Zeitschrift Hommes d'Afrique, Moskau, 5. März 2018: mid.ru: Interv'ju Ministra inostrannych del Rossii S.V.Lavrova žurnalu «Hommes d’Afrique», Moskva, 5 marta 2018 goda 
11.vgl. Brayton, A.: Soviet Involvement in Africa, in: The Journal of Modern African Studies, 17(2), S. 253-269; Grey, R.: The Soviet Presence in Africa: An Analysis of Goals, in: The Journal of Modern African Studies, 22(3),S.  511-527 
12.zit. nach: ria.ru: Vtoraja afrikanskaja popytka Rossii 
13.zit. nach Süddetusche Zeitung: Johnson fordert von Putin Ende destabilisierender Aktivität 
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