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Tiergarten-Mord: Nachgeschobene Rechtfertigung

Der Mord an dem 40-jährigen Georgier Zelimkhan Khangoshvili in Berlin hat eine diplomatische Krise zwischen Russland und Deutschland ausgelöst. Der mutmaßliche Täter war schnell gefasst, die Bundesanwaltschaft sieht „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür, dass „staatliche Stellen“ in Russland den Mord in Auftrag gegeben haben. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, würde der Kreml des Staatsterrorismus beschuldigt – was weitere diplomatische Verwerfungen nach sich ziehen würde.

Diese aber gibt es schon jetzt zuhauf: Da Moskau bei der Aufklärung des Mordes nicht kooperiere, hat sich Berlin entschieden, zwei Agenten des Militärgeheimdienstes GRU auszuweisen, die als Diplomaten akkreditiert waren. Der Kreml reagierte traditionsgemäß „symmetrisch“, indem er zwei deutsche Diplomaten des Landes verwies. 

Auf der Pressekonferenz des Normandie-Gipfels in Paris am 9. Dezember 2019 sagte Putin noch, Russland habe mehrmals ohne Erfolg die Auslieferung von Khangoshvili beantragt. „Wir sind nicht angefragt worden, jemanden auszuliefern [...] Das kommt jetzt alles im Nachhinein, das hört sich ein bisschen nach Rechtfertigung an“, dementierte der deutsche Außenminister Heiko Maas einige Tage später. (UPDATE: Auf der Jahrespressekonferenz am 19.12.2019 räumte Putin ein, dass über eine Auslieferung nicht auf offizieller, nur auf Geheimdienstebene gesprochen wurde.)

Wer war eigentlich Zelimkhan Khangoshvili? Was wirft der Kreml ihm vor? Und warum nimmt Moskau trotz weitgehender internationaler Isolation erneut solch gravierende Verwerfungen in Kauf? Oleg Kaschin kommentiert auf Republic

https://www.youtube.com/watch?v=WPi4ZX3uq6Y

Quelle Republic

Mit dem am 23. August in Berlin ermordeten georgischen Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili geschehen die sonderbarsten Dinge, und zwar nach dessen Tod. So etwas passiert wohl zum ersten Mal überhaupt: Erst wird jemand ermordet und danach denkt man sich aus, warum. Ganz allgemein ist die Rede von einem „tschetschenischen Warlord“, aber das kann alles Mögliche bedeuten. 1979 geboren, war er 15 Jahre alt, als der erste Einmarsch begann, und 20 Jahre zu Beginn des zweiten. In beiden Fällen war das zwar ein durchaus wehrfähiges Alter (es geht schließlich um den Kaukasus), trotzdem wird der junge Mann wohl kaum ein außerordentlicher Schlächter gewesen sein. Wenn, dann hätte sicher irgendjemand schon von ihm gehört.

Wer war Zelimkhan Khangoshvili?

Er lebte im Pankissi-Tal – und ja, das war in dieser Zeit ein übler Ort. Damals war es sehr wahrscheinlich, dass ein junger, dort lebender Tschetschene (in dem Tal liegen tschetschenische Dörfer) einer gewissen Logik folgend auf der Seite der tschetschenischen Rebellen kämpft. Doch hat damals ganz Tschetschenien gekämpft. 

Schon unter Saakaschwili wurde über Khangoshvili in der georgischen Presse geschrieben, dass er für die georgischen Geheimdienste arbeite, ihnen dabei helfe, einen Einmarsch Russlands ins Pankissi-Tal zu verhindern. Dann, nach dem Krieg, haben georgische Sicherheitskräfte vor sieben Jahren im Pankissi-Tal irgendeine tschetschenische Bande entwaffnet – und unter deren Unterhändlern soll wohl auch Khangoshvili gewesen sein. Das ist bestimmt nichts Gutes, aber nicht Horror Horror Horror, wie man es uns heute erzählen will.

Wer erzählt, und was wird erzählt?

Wer erzählt, und was wird erzählt? Hauptquelle ist die Polizei in Inguschetien, das berüchtigte inguschische Zentrum E, also eine Behörde, in die kein deutscher Journalist hineingelangt, der noch ein paar Nachfragen hat, und wo ein Moskauer Journalist nicht mal per Telefon durchkommt. (Erst kürzlich wurde der oberste Extremismusbekämpfer dort zu Grabe getragen, der wahrscheinlich einer Blutrache zum Opfer fiel – so viel zu Sitten, Recht und so weiter)

Nun erinnern sich die inguschischen Extremismusbekämpfer nach dem Mord an Khangoshvili daran („erinnern“!), dass sie ihn seit 2008 suchen. Ganz schön lange, aber das nur, weil sie sorgsam Ermittlungsinformationen über seinen möglichen Aufenthaltsort durchgearbeitet haben. Warum er gesucht wurde? Weil er 2004 an dem Überfall von Bassajews Einheiten auf Nasran beteiligt gewesen sei.

Jetzt in Paris hat Putin auf die Frage eines deutschen Journalisten eine Zahl genannt: 98 Tote. Was ist das für eine Ziffer? Eben die vom Überfall auf Nasran. Das war der größte und gewiss verwegenste Überfall Bassajews in der Nachkriegszeit (die aktive Phase der Kampfhandlungen war damals schon vorüber). Selbst wenn die (durch nichts bestätigten) Information über eine Beteiligung Khangoshvilis an diesem Überfall zuträfe, so wäre es doch vermessen, die Verantwortung für die 98 Toten ihm persönlich zuzuschreiben – vielleicht saß er am Steuer eines LKW oder kaufte auf dem Markt Essen für Bassajew.

Dann sprach Putin von den Explosionen in der Moskauer U-Bahn, ohne genauer zu sagen, von welchen (entweder von 2004 zwischen den Stationen Awtosawodskaja und Pawelezkaja, oder denen von 2010 in den Stationen Lubjanka und Park Kultury). Und es wäre peinlich, daran zu erinnern, dass die russischen Behörden in beiden Fällen öffentlich verkündet haben, die Organisatoren der Terroranschläge seien ermittelt worden. Weder 2004 noch 2010 war von einem Khangoshvili die Rede. 

Moskau hat die deutschen Behörden doch sicher um Auslieferung gebeten?

Aber gut, einmal angenommen, alles war genauso, wie es Putin und die inguschischen Extremismusbekämpfer sagen, und wir glauben, dass Khangoshvili ein blutrünstiger Terrorist war, der lange gesucht wurde. Daran kann man tatsächlich nur glauben (Beweise liegen ja nicht vor), und die stärkste Probe für diesen Glauben, das sind Anfragen. Wenn ein Terrorist in Deutschland lebt und Russland an ihn herankommen möchte, dann hat Moskau die deutschen Behörden doch sicher um eine Auslieferung gebeten?

Die deutsche Regierung aber sagt: Nein, es gab keine Anfragen. Der deutsche Peskow, Regierungssprecher Steffen Seibert, erklärt offiziell, dass es keinen Antrag gegeben habe. Russlands Peskow sagt, es habe einen gegeben, nimmt dann Worte in den Mund, die selbst für ihn untypisch sind, und spricht von „außerordentlich blutigen Terroranschlägen und Massenmorden“, wobei er nichts belegt. 

Welchem Peskow glaubt man da eher, unserem oder dem deutschen? 

Wer ist Wadim Sokolow?

Der Killer – das ist eine Frage für sich. Die Deutschen haben ihn gefasst, er hat einen russischen Pass auf den Namen Wadim Sokolow, und der Insider bezeichnet ihn als Wadim Krassikow, einen 2014 untergetauchten mehrfachen Mörder, der früher in einer Spezialeinheit des FSB gedient hat. Wird er reden, und was wird er aussagen – das ist die bisher spannendste Frage. 
Die russische Seite, unter anderem Putin persönlich, leugnet eine Verwicklung des russischen Staates in die Ermordung Khangoshvilis. Doch auf eine Stelle aus dem Buch des Genres „Das waren wir nicht!“ kommen zehn aus einem anderen Genre: „Das war ein derart übler Schurke, dass es schon lange an der Zeit war, ihn zu töten.“ 
Das ist das gleiche Verhältnis wie im Fall Skripal, und es ist klar, wie das in den Ohren der Deutschen klingt – wohl kaum anders als letztes Jahr in den Ohren der Engländer. Sanktionen, zerrüttete Beziehungen, neue spannende Details, das alles wird es zweifellos geben. Und mit der gegenseitigen Ausweisung von Diplomaten wird die Sache nicht beendet sein. Für Russland, das sowieso mit allen im Streit liegt, stehen die Dinge offensichtlich nicht allzu gut. Doch war es das wohl wert.

Warum? Wer hat das entschieden?

Die wichtigste Frage ist aber: Warum? Der Insider nimmt an, der Grund für alles sei darin zu suchen, dass Khangoshvili 2008 die georgische Armee beraten hat, und dass auf Leute, die den Georgiern während des Fünftage-Krieges irgendwie geholfen haben, Jagd gemacht wird. So schrieb etwa die New York Times über einen russischen Killer im ukrainischen Riwne: Dieser hat einen Angehörigen der ukrainischen Sicherheitskräfte ermordet, der ebenfalls 2008 in Georgien tätig gewesen war. Bei dem Killer hat man eine Liste von sechs Ukrainern gefunden, die in Georgien gekämpft hatten. 

Wer weiß – vielleicht führen die russischen Geheimdienste tatsächlich jenen Krieg zu Ende, irgendwie ist die Sache ja heilig. Aber dafür die Beziehungen zu Deutschland aufs Spiel setzen? Wer hat das entschieden, wer hat die Risiken gegeneinander abgewogen, wer hat die Szenarien vorausgesehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln? Entweder niemand, oder es gibt einen zehn Jahre alten Befehl, der lautet „Alle umbringen“, und alle führen ihn aus, ohne darüber nachzudenken, in welchem Maße sie jetzt damit ihrem Staate schaden. Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?

Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?

Die schlimmste (und wahrscheinlichste) Antwort wäre: Nichts. Einfach, weil sie es wollten; sie liquidierten ihn, weil sie sich das leisten können. Das Problem ist nur, dass längst auch so schon niemand mehr daran zweifelt, dass sie das können. Und doch versuchen sie immer weiter, es zu beweisen, als ob es ihr Ziel wäre, in der ganzen Welt dieses unstrittige Bild vom Übeltäter Russland zu erzeugen. Damit ja niemand darauf kommt, mit Russland Beziehungen zu knüpfen. Damit von außen ein Eiserner Vorhang fällt und eine Isolation entsteht, die sie selbst hervorrufen.

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GRU – russischer Militärgeheimdienst

Am 5. November 2018 feiert Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije GRU (dt. „Hauptverwaltung für Aufklärung“) 100-jähriges Jubiläum. Pünktlich zu seinem Ehrenjahr steht der Militärgeheimdienst Russlands so sehr im Fokus der Weltöffentlichkeit wie nie zuvor. Vier schwere Vergiftungen in England und Cyberangriffe auf internationale Einrichtungen sind nur die Spitze eines Eisberges an Operationen, mit denen die GRU 2018 öffentlich in Verbindung gebracht wird. Das klingt zunächst einmal nach einem außerordentlich potenten Geheimdienst mit wenig Skrupel, viel Know-how und einem breiten Spektrum an Tätigkeiten.

Von den vier schweren Vergiftungen in England war nur einer der Giftanschläge auch tatsächlich so geplant: der auf den ehemaligen GRU-Offizier Sergej Skripal. Der Doppelagent überlebte, seine Tochter, das zweite und unerwartete Giftopfer, ebenfalls. Die beiden anderen Opfer, von denen eines der Vergiftung mit Nowitschok erlag, waren „Kollateralschäden“: Sie fanden zufällig das Behältnis, in dem das Gift transportiert worden war. Alles in allem war es eine ziemliche Blamage für die GRU, vor allem weil sich der Fall unter ständiger Beobachtung der Medien abspielte. 
Und dann wurden auch noch die beiden Tatverdächtigen präsentiert und von britischen und russischen Investigativjournalisten eindeutig mit der GRU in Verbindung gebracht. Dabei kam sogar heraus, dass die GRU 305 Fahrzeuge mehr oder weniger offiziell auf ihre Mitarbeiter registriert und sie damit praktisch selbst enttarnt hatte.1 Für alle ersichtlich.
Mitnichten weniger peinlich war es, als im April 2018 niederländische und britische Ermittler der Spionageabwehr eine Gruppe von vier GRU-Computerspezialisten in ihrem Auto während eines Cyberangriffs verhafteten. Das komplette Equipment im Kofferraum, dazu gefälschte Pässe mit fortlaufender Nummerierung, wie schon bei Petrow und Boschirow. Das Ziel des Angriffs war die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), die zu dieser Zeit die Giftproben des Anschlags aus Salisbury untersuchte. Geparkt hatten die vier Hacker in einem blauen Citroën direkt gegenüber der OPCW in Den Haag. 
Was an Dreistigkeit wohl kaum zu überbieten ist, gehört allerdings nicht in die Kategorie professionellen Arbeitens, wie es sich die geheimdienstliche Elitetruppe auf die eigenen Fahnen schreibt. Wo also steht die gefürchtete und nun verspottete russische Militäraufklärung 100 Jahre nach ihrer Gründung?

Die GRU im System

Wie der gesamte Sicherheitsapparat der Russischen Föderation hat die GRU ihre Wurzeln tief im kommunistischen Staat der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917. Eine Besonderheit war es, dass die GRU trotz aller Wirren der Zeit nicht mit anderen Geheimdiensten vereint wurde. Wo der mächtige KGB jahrzehntelang In- und Auslandsgeheimdienst, Personenschutz, Grenztruppen und technische Abteilungen mit mehreren hunderttausend Mann vereinte, war und ist die GRU der Armee und dem Verteidigungsministerium unterstellt. Im Vergleich zum KGB und seinen Nachfolgern FSB und SWR nahm und nimmt die GRU damit eine Sonderstellung ein, denn diese sind direkt dem Präsidenten unterstellt. Einerseits bedeutet das für die GRU eine größere Unabhängigkeit vom Gravitationszentrum staatlicher Macht in der russischen Präsidialadministration. Andererseits ist die Entfernung zum Präsidenten ein Nachteil im ständigen Ringen der Sicherheitsdienste um Präsidentengunst und knappe Ressourcen.

Wie wechselhaft sich diese Stellung im politischen System auswirken kann, hat die GRU in den vergangenen 20 Jahren mehrfach erfahren. Im Zuge der Armeereformen der postsowjetischen Zeit wurde die stolze Truppe erst einmal herabgestuft: Spezialeinheiten wurden den regulären Truppen unterstellt, Mittel gekürzt, aus GRU wurde „GU“, also einfach nur Hauptverwaltung. Die stille, aber alles hörende Fledermaus im Wappen wurde durch eine Nelke ersetzt – Symbol für Standfestigkeit und Entschiedenheit. 
Als 2012 Sergej Schoigu Verteidigungsminister wurde, machte er sich daran, die GRU nicht nur symbolisch wieder aufzuwerten. Personell soll die GRU mit rund 12.000 Mitarbeitern ungefähr dasselbe Niveau wie der Auslandsgeheimdienst SWR erreichen.2 Nach Angaben eines GRU-Überläufers aus dem Jahr 1997 führte der Militärgeheimdienst damals allerdings sechsmal so viele Auslandsagenten wie sein ziviles Pendant.3 Die Anzahl der Spezialkämpfer, die der GRU unterstellt waren, soll darüber hinaus deutlich über 20.000 Mann betragen haben.4

Aufträge und Einsätze

Auch in ihrem Arbeitsauftrag sticht die Sonderrolle der GRU durch. 1918 oder 1941 ging es vor allem um traditionelle militärstrategische Aufklärung auf allen Schlachtfeldern der Roten Armee, von Polen bis zum Pazifik. Im Kalten Krieg kam dann schon Rüstungs- und Wirtschaftsspionage hinzu. Eine weitere Besonderheit der GRU war und ist, dass sie nicht nur im Ausland aufklärt, sondern auch die Spionageabwehr der Armee in sich vereint. Was der FSB im zivilen Sektor ist oder in Deutschland der Militärische Abschirmdienst MAD für die Bundeswehr, ist die GRU für die russische Armee. 
Ebenso waren die berühmt-berüchtigten Speznas-Elite-Kampftruppen der GRU ein Kind der Stellvertreterkriege während des weltweiten Systemkonflikts. Wo reguläre sowjetische Truppen zu auffällig gewesen wären oder wo inoffizielle Waffenlieferungen in Krisengebiete besonderer Tarnung bedurften, dort waren die Speznas zu finden. Das gilt auch für sogenannte Kommandoeinsätze wie Sabotage, Geiselbefreiungen, Entführungen und gezielte Tötungen im Ausland. 
Dabei ist die GRU global orientiert: USA, NATO, Westeuropa, aber eben auch der Nahe und Mittlere Osten, Afrika, China und der Pazifikraum sind Aufklärungsziele und Einsatzgebiete. 

Agenten und Operationen  

Lange Jahre schwamm die GRU eher leise im Kielwasser der wesentlich bekannteren NKWD, KGB und schließlich SWR. Öffentliche Nennungen hielten sich in Grenzen, Experten und Forscher konzentrierten sich ebenfalls lieber auf die zivilen Brüder. Bis auf den heutigen Tag existiert keine Gesamtgeschichte der GRU, wo es selbst die offizielle Geschichtsschreibung der russisch-sowjetischen Auslandsaufklärung auf ganze sechs Bände bringt. Ganz so eben, wie man es von einem klassischen Geheimdienst erwartet: Im Großen und Ganzen ein Mysterium, presseabstinent, unter Kennern aber als absolute Profis ihres Metiers bekannt.
Dass dem tatsächlich so ist, zeigt ein Parforceritt durch die Spionagegeschichte. Wie die gesamte Sowjet-Spionage, war die GRU in der Zeit zwischen den Weltkriegen außerordentlich erfolgreich: Gleich zwei der bekanntesten Spione aller Zeiten arbeiteten für die GRU – und waren Deutsche. Der als Journalist getarnte Richard Sorge meldete 1941 aus Japan den bevorstehenden Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion (und wurde von Stalin deswegen geopfert). Der Physiker Klaus Fuchs, einer der Väter der amerikanischen Atombombe, war ebenfalls ein GRU-Agent und sorgte dafür, dass auch die Sowjets zur Nuklearmacht werden konnten.5 

Diese Taktik, sogenannte „illegale“ Agenten unter falscher Identität in westlichen Ländern zu führen, praktizierte die GRU über die gesamte Zeit des Kalten Krieges. 
Schon zu Sowjetzeiten zählten militärische Kommandoaktionen zur Aufgabe der GRU und ihrer Speznas. Diese Aufgabe hat die GRU auch heute nicht eingebüßt. Während der Tschetschenienkriege übernahm die GRU „Spezialaufgaben“, in Dubai soll Speznas 2009 den Anführer tschetschenischer Rebellen Sulim Jamadajewin in einer Kommandoaktion getötet haben. 
Auch die Bilder der Krim-Annexion sind immer noch einprägsam: „Grüne Männchen“ ohne Abzeichen, die später als GRU-Truppen identifiziert wurden, bereiteten damals den Weg für die Angliederung. Ein ähnliches Schicksal hatte die GRU offenbar dem kleinen Montenegro zugedacht: 2016 sollten pro-serbische Teile der Armee unter Anleitung von GRU-Offizieren just in der Wahlnacht einen Putsch in dem Land auf dem Westbalkan unternehmen.6 Als einzige der in jüngster Zeit bekannt gewordenen Kommandounternehmen der GRU scheiterte dieser Versuch allerdings kläglich.

Cyberangriffe

Eine gänzlich neue Aufgabe, die die GRU in den letzten Jahren ebenfalls ausführt, sind geheimdienstliche Cyberangriffe wie jener in Den Haag. Geheimdienste und Regierungen von den USA bis nach Australien rechnen Hackergruppen wie ATP 28, Fancy Bear oder Pawn Storm der GRU zu. Das besondere an ihren bekannten Attacken war dabei, dass sie keineswegs nur militärische Ziele verfolgten, sondern Aufgaben ausführten, die eigentlich den zivilen russischen Diensten obliegen. So haben die Wahlkampfunterlagen der US-Demokraten, die ATP 28 im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2016 mittels eines versteckten Trojaners erbeuteten, mit Militäraufklärung ebenso wenig zu tun wie Aktionen von Fancy Bear. Diese Gruppe drang offenbar besonders gerne in westliche oder internationale Sportverbände ein. Aus Sicht der US-Geheimdienste waren die Angriffe im Bereich von Doping und Sport eine gezielte Vergeltungsaktion gegen die Doping-Vorwürfe und Sanktionen gegen russische Mannschaften. Dass der Inlandsgeheimdienst FSB in das russische Staatsdoping involviert war, war schon länger bekannt.7 Dass die GRU die propagandistischen Gegenmaßnahmen offenbar maßgeblich organisierte, war hingegen neu. 
Für die „neuen“ Aufgaben der GRU im Cyberbereich gibt es drei Interpretationen: Einmal steht das pure Potential, das heißt die GRU unternimmt Cyberangriffe im zivilen Bereich, weil sie es schlicht kann. Das enorme Reservoir an IT-Spezialisten in Russland und die Mittel, die den Spezialbereichen des Militärs zur Verfügung stehen, machen die GRU zu einer Weltspitze der Cyberspionage. 
Zweitens geht es um die Konkurrenz der Weltmächte: US-Militär und die Defense Intelligence Agency DIA sind auf diesem Gebiet genauso aktiv wie zum Beispiel auch die Cybereinheit 61398 des chinesischen Militärs. Präsenz durch aufsehenerregende Hacking-Operationen zu zeigen, ist da nur logisch. 
Drittens spielt auch der Druck eine Rolle, sich gegenüber FSB und SWR beweisen zu müssen. Dass beide ebenfalls Cyberangriffe durchführen, ist bekannt. Die Ausflüge der GRU in die zivile Cyberwelt können also auch als interne show of force und Fingerzeig im russischen Sicherheitsapparat gedeutet werden. Wie fluide hier Zuständigkeiten wechseln, ausgebaut oder gestrichen werden und wie wichtig die Gunst des innersten Machtzirkels ist, das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt.  

Korruption und Schlamperei

Doch auch in der geheimnisumwitterten GRU scheint so manches in Bewegung gekommen zu sein. Gerade die jüngsten Schlagzeilen passen nicht zum Image eines hochprofessionellen Geheimdienstes: Warum der Anschlag auf einen ausgetauschten Ex-Agenten? Warum die schlampige Ausführung? Wie kam die GRU auf die Idee, zwei Offiziere könnten erfolgreich einen Putsch in Montenegro betreuen? Und wie kommt ein Geheimdienst auf die Idee, über 300 PKW auf seine offizielle Adresse zu registrieren und damit möglicherweise eigene Agenten zu enttarnen?
Neben der professionellen GRU existiert anscheinend auch eine normale russische Behörde, in der Schlamperei, Realitätsverweigerung und Korruption zum Alltag gehören. Die vielen bürokratischen Details erfolgreicher geheimdienstlicher Arbeit gingen offenbar immer wieder bei der Operationsplanung ab. Dafür haben die jahrelang erfolgreichen Hackingangriffe und die getarnten Kommandoaktionen wohl ein Gefühl der Unverwundbarkeit wachsen lassen. Wer aber so oft durchkommt, der wird nachlässig. 
Gleichfalls hat der lasche Umgang westlicher Behörden mit den russischen Agenten offenbar zu immer dreisterem Vorgehen ermuntert: Obwohl westlichen Geheimdiensten offensichtlich schon bekannt war, dass die GRU-Agenten Serebrjakow und Morenez im Herbst 2016 den Computer eines Vertreters des kanadischen Antidopingzentrums CCES gehackt hatten8, sahen diese Agenten im April 2018 offenbar überhaupt kein Risiko und parkten fast schon demonstrativ direkt vor dem Zielobjekt in Den Haag.  
Darüber hinaus gibt es auch Korruptionsgerüchte um die GRU. Wo schmale Gehälter des öffentlichen Dienstes auf Milliarden Rubel für Aufträge ans Militär aufeinandertreffen, lockt das große Geld. Auch die GRU-Leitung soll in der Vergangenheit auf diese Art zu Reichtum gekommen sein.9 Auf die Arbeitsmoral des Dienstes wirkte sich das offenbar nur dahingehend positiv aus, dass in immer waghalsigeren Aktionen ein schneller Aufstieg gesucht wurde, um ebenfalls an die „Fleischtöpfe“ zu kommen.

Professioneller Geheimdienst?

Wie jede Bürokratie sind auch die russischen Geheimdienste und der gesamte Sicherheitsapparat in einem ständigen Fluss. Innenpolitische Faktoren, außenpolitische Dynamiken und bürokratische Entwicklungen beeinflussen sowohl die Aufgabengebiete als auch die Ausführung von Aktionen und Operationen. Manches davon, was die GRU in der jüngsten Vergangenheit zeigte und das seinen Weg in die Weltöffentlichkeit fand, fällt sicher nicht unter die Kategorie eines professionellen Geheimdienstes. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die GRU nicht nur eine große Bandbreite an Arbeitsaufgaben wahrnimmt, sondern dabei auch weiterhin große Möglichkeiten und Ressourcen hat. 
Als Akteur muss sie nach wie vor, vielleicht sogar mehr noch als früher, ernst genommen werden. Innenpolitische Faktoren und Konkurrenz unter Geheimdiensten haben die GRU offenbar motiviert, ihr Aufgabenfeld immer weiter auszudehnen. Dabei stiegen die Erfolge augenscheinlich einigen zu Kopf, Dreistigkeit und Übermut waren die Folge. Nach innen steht die GRU damit nun unter größerem Druck, nach außen könnte das jedoch zu noch extremeren Aktionen anspornen, um sich wieder zu beweisen. Das macht die GRU auch nach 100 Jahren ihres Bestehens – trotz Schlamperei und Korruption – mitnichten weniger gefährlich.


1.sh. ausführlich: bellingcat.com (2018): 305 Car Registrations May Point to Massive GRU Security Breach; vgl. theins.ru (2018):  Na adres voijskovoj časti GRU, svyazannoj s chakerami, zaregistrirovanny mašiny 305 sotrudnikov ­­­­
2.BfV-Themenreihe (2008): Spionage gegen Deutschland: Aktuelle Entwicklungen, S. 5f. 
3.Lunew, Stanislaw (1998): Through the Eyes of the Enemy: The Autobiography of Stanislav Lunev, Washington 
4.Galeotti, Mark (2016): Putin's Hydra: Inside Russia's intelligence Services, European Council on Foreign Relations 
5.Lota, Vladimir (2002): GRU i atomnaja bomba, Moskau 
6.Bajrovic, Reuf/Garcevic, Vesko/Kramer, Richard (2018): Russia’s Strategy of Destabilization in Montenegro, Foreign Policy Institute 
7.McLaren Independent Investigation Report - Part II (2016): Wada 
8.vgl. nzz.ch (2018): Die Jagd nach Putins Agenten: Wie ein Spionagefall in Lausanne zu einem Fiasko des russischen Geheimdiensts führte 
9.Galeotti, Mark (2016): Putin's Hydra: Inside Russia's intelligence Services, European Council on Foreign Relations 
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