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„Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste“

Am heutigen Dienstag, 21. Juni 2022, ist der 118. Tag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Den 100. Tag des Kriegs am Freitag, dem 3. Juni, hatten zahlreiche Medien genutzt, um in Analysen, Hintergründen, Interviews die hundert Tage zu reflektieren, die Europa schon jetzt grundlegend verändert haben.

Für das ukrainische Online-Medium zbruc.eu hat Juri Andruchowytsch einen Text dazu verfasst. Andruchowytsch, der aus Iwano-Frankiwsk in der Westukraine kommt, dem historischen Galizien, ist eine der weltweit bekanntesten literarischen ukrainischen Stimmen. Seine Gedichte, Essays und Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und international ausgezeichnet, auch in Deutschland, etwa mit der Goethe Medaille (2016) oder dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2006). 

Andruchowytschs Text ist allerdings nicht am 100. Tag, sondern am 107. Tag des Krieges erschienen. Also nach dem runden Datum, aber noch bevor sich Olaf Scholz zusammen mit weiteren europäischen Staats- und Regierungschefs Ende vergangener Woche für einen baldigen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ausgesprochen hat. Vermutlich hätte es Andruchowytschs sehr grundlegenden Text nicht geändert – von dem er selbst schreibt: „Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen.“ dekoder hat ihn aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.

 

Источник Zbruč

© zbruc.eu

Zum 100. Kriegstag hat es bei mir [mit einem Text] nicht geklappt, aber am 100. haben auch ohne mich alle über den 100. gesprochen. Genauer gesagt, nicht nur über den 100., sondern über alle 100 Tage, die dieser miteinschließt.

Und das ist nicht verwunderlich, im Gegenteil: 100 Tage sind vermutlich die erste bedeutende politische Zeiteinheit. Die wohl, wie unschwer zu erraten, mit Napoleons 100 Tagen begonnene Methode, 100 Tage nach Beginn jedes beliebigen Prozesses ein Fazit zu ziehen, gefiel und bürgerte sich ein. Mittlerweile ist es nicht nur eine Methode, sondern eine ganze Methodik, um nicht zu sagen eine Methodologie: 100 Tage neue Regierung, 100 Tage missglückte Reform, 100 Tage Diktatur, 100 Tage Pandemie, Protest, Regen, Überschwemmung etc.
Ich denke auch an die Hundert Tage, Genosse Soldat. Hier werden jedoch die Tage bis zur Entlassung aus der Armee heruntergezählt, es geht um eine Verminderung, um eine Reduktion, eine Regression, eine Reversion. Also um die Annäherung an die gierig herbeigesehnte, wunderbare Null, mit der die neue Freiheit beginnt. 

Heute aber sind wir in der gegenteiligen Situation: Vermehrung, Progression und Aversion. Vor einer Woche war der 100., heute ist der 107. Tag des Krieges, den man häufig großangelegt nennt. In meinen Augen ist er aber noch nicht vollumfänglich. Zur Vollumfänglichkeit fehlt ihm nicht viel: die Generalmobilmachung zum Beispiel, oder ein Atomschlag. Das wissen alle und alle denken daran.

Auch ich denke daran, und ein paar Gedanken habe ich hier versammelt, eigentlich ist es ein ungeordnetes Wirrwarr an Gedanken. Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen. Wenn es denn noch jemanden geben wird, der es lesen und dem man es vorlesen kann. Dennoch sammle ich.

Punkt für Punkt also. Was beobachten wir?

1) Die Regierung – die zentrale, in Kyjiw – ist nicht geflohen, nicht ausgereist, hat sich nicht in Luft aufgelöst (oder wie sie sich selbst rühmt: „Der Präsident ist hier, der Ministerpräsident ist hier.“). Das ist schließlich normal, so muss es sein. Aber die Propaganda modelliert daraus einen unvergleichlichen Heroismus, der in meinen Augen allmählich auf die Nerven geht. Sie sind nicht geflohen, tolle Kerle. Trotzdem sind nicht sie die Helden.

2) In der westlichen Auslegung der ukrainischen Gegenwehr hat sich eine wesentliche Entwicklung vollzogen (und vollzieht sich auch weiterhin): Sie galt als unmöglich, vergeblich, zum Scheitern verdammt, unerwartet, verzweifelt, verlustreich, hoffnungslos, mutig, heroisch, effektiv, gekonnt, erfolgreich. Jetzt hat die Spirale anscheinend dialektisch eine neue Windung erreicht: sie ist gefährlich und sie muss begrenzt werden. „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, aber auch russland [sic – dek] darf diesen Krieg nicht verlieren.“ Diese absurde These wird offenbar gerade zum westlichen und insbesondere europäischen Mainstream.

3) Ich weiß nicht, welcher Schlaumeier die in letzter Zeit oft wiederholte These formuliert hat, dass „jeder Krieg mit Verhandlungen endet“. Nein, nicht jeder. Es gibt auch Fälle von bedingungsloser Kapitulation. Das in unseren Breiten bekannteste Beispiel dafür ist Berlin, 8. Mai 1945.

4) Einer der amerikanischen Geheimdienste hat sich für seine ungenauen Vorkriegsprognosen bereits entschuldigt – ein unerwarteter Faktor wurde nicht berücksichtigt: der Kampfeswille der Ukrainer. Doch die schwärzesten Schwäne kommen noch. 

5) Immer deutlicher wird, dass das Zeichen Z für Zombies steht. Im Krieg gegen die Ukraine spielen Leichen eine führende Rolle: kobson, shirinowski, motorola, putin.

6) Alles reimt sich mit allem. Wir haben Volonteure, sie Marodeure. Bei uns wird vertraut, bei ihnen geklaut.

7) Sowohl bei uns als auch bei ihnen sterben Menschen. Aber unsere für Freiheit und Würde, und ihre für putins Hirngespinste. Hier reimt sich nichts miteinander, denn bei uns rettet man Hunde, und bei ihnen isst man sie.

8) Der Wirbel im Internet um das „Canceln“ der GRK (der Großen Russischen Kultur) ist im Grunde nichts anderes als ein gezieltes Ablenkungsmanöver. Während die GRK  boykottiert wird, wird die ukrainische Kultur vernichtet. Ein Boykott ist eine Form gewaltloser Ablehnung. Vernichtung ist ein Gewaltakt. Lauthals über das Erste klagen, und das Zweite „nicht zu bemerken“ – das ist ein Element der russischen Kriegsführung. Die Säuberung von Bibliotheken im okkupierten Gebiet wird merkwürdigerweise nicht so lebhaft besprochen wie das „Verbot“ von Tolstoi und Bulgakow.

9) 2014 war es shirinowski, jetzt sind es lawrow, lukaschenko, patruschew und unzählige andere, die immer aufdringlicher auf die mögliche „Annexion der Westukraine durch Polen“ hinweisen. Die Mitglieder von putins Politbüro sind von einer Manie des Zerteilens befallen. Transkarpatien werde auf Bitten Orbans nicht angegriffen. Es gibt plötzlich so viele Orwell, dass ganz Russland auf einen Kommentar zu seinem Roman zusammengeschrumpft ist.

10) Während die Opinionmaker weltweit bedrückt über Millionen von „refugees from Ukraine“ berichten, erwähnen sie lieber nicht, dass ein Drittel dieser Millionen bereits zurückgekehrt ist. Das ist unbequem, es passt nicht in ihre kollektive „Syrer-Schublade“: Lässt man ihn einmal herein, wird man ihn nie wieder los. Und die hier gehen freiwillig zurück, obwohl sie es schon reingeschafft hatten. Sind sie anders?

11) Wir sind anders. Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste. Heute ist der 107. Tag, an dem sie – wie sich gezeigt hat – anders ist. Man sollte lernen ihr zuzuhören, damit man mit den eigenen Friedensbemühungen weniger Schaden anrichtet. Man sollte sie bei ihrer schwierigen Aufgabe internationaler Teufelsaustreibung nicht stören.

12) Das Böse wird bestraft werden. Gott ist kein Naivling.

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Sergej Lawrow

Auf kaum einen russischen Politiker wird so unterschiedlich reagiert wie auf den Außenminister Sergej Lawrow. Die ehemalige Sprecherin des US State Department Jennifer Psaki überschritt geradezu eine rote Linie des diplomatischen guten Tons, als sie in harscher Manier im April 2014 Lawrows Vorwurf kommentierte, die USA würden Handlungen der ukrainischen Regierung steuern – dies sei, sagte sie, lächerlich.

Wie ist dieser Affront zusammenzubringen mit den Elogen, die sonst auch von westlicher Seite oft auf Lawrow gesungen werden?

Der britische Historiker Mark Galeotti etwa schrieb in der US-Zeitschrift Foreign Policy, Lawrow sei „einer der weltweit härtesten, klügsten und erfahrensten Außenminister“, eine „enorme Ressource des Kreml“ – die leider einfach nicht genügend eingesetzt werde.1 Auch der deutsche Historiker Michael Stürmer brach für ihn eine Lanze2, und sogar unter den russischen Regimekritikern finden sich einige, die etwas für Lawrow übrig haben. Es scheint, Lawrow ist eine durchaus widersprüchliche Figur.

Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

Für den Studenten des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) – der Kaderschmiede der sowjetischen und später russischen Diplomatie – war die diplomatische Karriere vorgezeichnet. Sie führte den 22-jährigen Lawrow (geb. 1950), der seitdem durchgehend im diplomatischen Dienst tätig ist, erst in die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka, vier Jahre später in die Abteilung für internationale Wirtschaftsorganisationen beim Außenministerium und von 1981 bis 1988 zur sowjetischen Vertretung bei der UNO. Nach einem Intermezzo im Außenministerium der  UdSSR beziehungsweise Russlands kam er 1994 zurück nach New York, wo er ein Jahrzehnt lang als UN-Botschafter agierte. Seit 2004 ist Lawrow Außenminister. Neben den UNO-Sprachen Englisch und Französisch spricht er Singhalesisch und Dhivehi.3

Ein distinguierter „Mister Njet“

Mit seiner geschliffenen Ausdrucksweise und seinen tadellosen maßgeschneiderten Anzügen umweht den hochgewachsenen Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans. Ihm wird ein kluger – zuweilen herber – Humor nachgesagt. Er habe, heißt es außerdem, Sinn für guten Whisky, sei mit seiner Rafting-Leidenschaft risikofreudig und im Umgang mit Damen betont charmant. Sein Pokerface und der Spitzname „Mister Njet“ („Mister Nein“) tun das Übrige für den Nimbus eines Mannes, der sich stets tatkräftig und perfekt informiert gibt und in Verhandlungen äußerst durchsetzungsstark ist.  

Gewandte Syrien-Diplomatie

Ein Beispiel seiner diplomatischen Rafinesse präsentierte der erfahrene Politiker im September 2013 im Rahmen des Syrienkonflikts. Geschickt zog er aus einem – möglicherweise recht unbedachten – rhetorischen Argument seines amerikanischen Amtskollegen John Kerry Nutzen und schuf politische Fakten. Kerry hatte bei einer Pressekonferenz gesagt, die syrische Führung könne nur dann einem bevorstehenden Militärschlag entgehen, wenn sie alle Chemiewaffen an die internationale Staatengemeinschaft übergebe – davon ausgehend, dass ein solches Szenario sowieso gänzlich außerhalb des Möglichen liege. Lawrow machte aus Kerrys Worten jedoch umgehend bare Münze: „Wir greifen den Vorschlag von Kerry auf. Wenn sich damit ein Militärschlag abwenden lässt, wollen wir helfen, dass Damaskus die Chemiewaffen abgibt“4, ließ er in einer eilig einberufenen Pressekonferenz verlauten. Und in der Tat begann kurz darauf eine von Russland überwachte Aktion zur Vernichtung syrischer Chemiewaffen. Nach einiger Zeit wurde jedoch klar, dass sie nur zu einer teilweisen chemischen Entwaffnung Syriens führte. Zugleich wurde so der Grundstein für Russlands militärisches Engagement in Syrien gelegt. Mit diesem Coup ließ Lawrow den US-Außenminister wie einen Schuljungen dastehen.

Münchner Sicherheitskonferenz: fast ein Eklat

Es bleibt verborgen, weshalb Kerry seinen russischen Partner schon wenige Tage nach dem Vorfall „my friend Sergey“ nannte5 – die diplomatische Welt hat ihre eigenen Codes. Sicherlich gehört jedoch eines nicht dazu: dass man über einen Diplomaten öffentlich lacht. Diesem Skandal wurde Lawrow bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausgesetzt. Es war zunächst wie üblich bei solchen Veranstaltungen: Der Außenminister stimmte ein US-kritisches Lamento über die Hegemonie-Bestrebung und den Revolutionsexport an, ganz im Einklang mit dem Whataboutismus der sowjetischen Diplomatenschmiede. Als er aber darauf kam, die Angliederung der Krim als UN-Charta-konform zu erklären und darauf verwies, dass im ähnlichen Fall der deutschen Wiedervereinigung nicht einmal ein Referendum stattgefunden habe, brachen viele Diplomaten in offenes Lachen aus. Ein unerhörter Vorgang in der diplomatischen Welt, die sich meistens hinter der Fassade der Höflichkeit verbirgt.

Souveräne Verkörperung der politischen Unberechenbarkeit

In dieser Situation trafen gleich mehrere Unberechenbarkeiten aufeinander: Die des Publikums, das seine diplomatische contenance verlor, und die der russischen Außenpolitik selbst, von der es oft heißt, sie schlage – vor allem seit der Angliederung der Krim – immer wieder gezielt taktische Volten.6 Ihr Gesicht Sergej Lawrow verkörpert dies: Mal gibt er sich weltmännisch, mal – wie bei einer Pressekonferenz im August 2015, bei der er leise Unflätiges ins Mikro fluchte – hemdsärmelig, mal konziliant und dann – wie im Fall Lisa – aufwieglerisch. Lawrows souveräner Umgang mit diesen Wandlungen macht vermutlich auch sein Faszinosum aus.


1.Foreignpolicy.com: Free Sergey Lavrov!
2.Die Welt: Die Sphinx in der eiskalten Luft des Kreml
3.Singhalesich ist eine der Amtssprachen auf Sri Lanka. Dhivehi ist Amtssprache auf den Malediven, mit denen die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka Kontakte unterhielt.
4.zitiert nach: Tagesanzeiger: Der Manipulator
5.State.gov: Remarks With Russian Foreign Minister Sergey Lavrov
6.Stiftung Wissenschaft und Politik: Denkbare Überraschungen. Elf Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte

 

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Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.

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Wladimir Medinski leitete von 2012 bis Januar 2020 das Kulturministerium der Russischen Föderation. Zu den zentralen Anliegen seiner Kulturpolitik zählten die Förderung des russischen Patriotismus sowie der Einsatz gegen vorgeblich antirussische Tendenzen in der Kultur.

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