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Debattenschau № 87: Ist Russland faschistisch?

„We Should Say It. Russia Is Fascist“, schreibt Timothy Snyder in der New York Times vom 19. Mai 2022. Die Stimme des US-amerikanischen Historikers und Yale-Professors gilt weltweit als gewichtig und so sorgt seine These für kontroverse Diskussionen, vor allem auch unter russischen Intellektuellen. 

Dabei ist die Frage, ob der Putinismus faschistisch ist, alles andere als neu: Zahlreiche Wissenschaftler wiesen schon in den 2000er Jahren darauf hin, welchen Einfluss russische Rechtsextreme wie etwa Alexander Dugin auf den russischen Präsidenten nehmen. Für viele Beobachter gehörten auch Vergleiche zwischen Russland unter Putin und der Weimarer Republik oder dem „Versailles-Komplex“ der Deutschen nach 1918 (Gerd Koenen) zu gängigen analytischen Mitteln.
Wegen seiner chauvinistischen und revanchistischen Rhetorik wurde Wladimir Putin schon in den 2000er Jahren mit Hitler verglichen, im Internet etablierte sich der Begriff Putler – auch wenn damals wohl kaum einer eine russische Invasion in die Ukraine für möglich hielt.

Sind solche Vergleiche überhaupt zulässig und falls ja – auch nützlich? Ergeben sie in wissenschaftlicher Sicht einen Sinn? Können sie gar den öffentlichen Diskurs bereichern? Verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt? dekoder bringt russische Stimmen aus der Debatte.

 

Quelle dekoder

Golossow/Facebook: Wissenschaft vs. Journalismus

Der russische Politikwissenschaftler Grigori Golossow hält nicht viel von Snyders Thesen. Auf Facebook argumentiert er, dass sie unwissenschaftlich seien:

Deutsch
Original
Der Begriff des Faschismus lässt sich beschreiben, indem man seine allgemeinen Merkmale herausgreift und sie anderen Regimen zuschreibt: meistens dem deutschen Nationalsozialismus, manchmal den Regimen in Spanien und Portugal noch nach 1945, seltener einzelnen lateinamerikanischen Diktaturen. Je weiter man den Kreis dieser Regime fasst, desto verwaschener sind die allgemeinen Merkmale und desto unbrauchbarer ist der Begriff. Viel zweckdienlicher für eine Beschreibung des russischen Regimes finde ich den Begriff der personalisierten Diktatur. Damit wird einerseits die theoretische Verbindung zwischen dem russischen und etwa dem Mussolini-Regime betont, andererseits ermöglicht er es, weiterzugehen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die ja recht offensichtlich sind, zu diskutieren. Das ist der wissenschaftliche Weg. Der publizistische Weg dagegen besteht darin, das Phänomen zuerst einmal als Faschismus zu identifizieren und dann eine mehr oder weniger (normalerweise weniger) stringente Definition des Faschismus zu formulieren, die das rechtfertigt. Darauf basieren dann eine emotionale Wertung und entsprechende praktische Schlüsse. Das Ergebnis ist dann eine spannende und unterhaltsame Lektüre, wie man sie eben gern in der Zeitung liest.
Сформулировать понятие о фашизме можно, выделив его общие характеристики и приписав эти характеристики каким-то другим режимам: обычно германскому национал-социалистическому, иногда - испанскому и португальскому режимам, пережившим 1945 г., реже - некоторым латиноамериканским диктатурам. Чем шире круг таких режимов, тем более размытыми становятся общие характеристики, и тем менее полезно понятие. Действительно полезным общим понятием для описания российского режима я нахожу следующее: персоналистская диктатура. Выделив таким образом теоретическую связь между российским режимом и, скажем, тем же режимом Муссолини, можно пойти дальше и обсуждать как их общие черты, так и различия, которые довольно очевидны. Это научный путь. Публицистический путь - в том, чтобы исходно идентифицировать феномен как фашизм, затем более или менее (обычно менее) явно сформулировать такое определение фашизма, которое эту идентификацию оправдывало бы, и на этой основе стороить эмоциональные оценки и практические выводы. Получается интересное, увлекательное чтение, как и положено в газете.

erschienen am 25.05.2022, Original

Judin/Re:Russia: Nicht einfach ein „autoritäres Regime“

Im Gegensatz zu Golossow zog der russische Soziologe Grigori Judin bereits kurz nach dem 24. Februar Vergleiche zwischen Russland und Hitlerdeutschland: „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“, so Judin in einem Interview Anfang März 2022. Auf dem neu gegründeten unabhängigen Portal Re:Russia stützt er in einem Debattenbeitrag nochmals seine Argumentation.

Deutsch
Original
Der Vorteil, das russische Regime als faschistisch zu charakterisieren, besteht darin, dass dadurch die richtigen Erwartungen erzeugt werden. Das ist kein „autoritäres Regime“, wie wir es aus politikwissenschaftlichen Büchern kennen, es wird sich nicht mit so und so hoher Wahrscheinlichkeit an der Macht halten, verändern oder „demokratisieren“. Das ist eine faschistische Bewegung, die von imperialistischen Impulsen angetrieben wird und den Staat auf den totalen Krieg vorbereitet. Es wird nicht Halt machen, bis es ganz Europa unterworfen oder eine absolute Niederlage erlitten hat.
Главная аналитическая выгода от характеристики российского режима как фашистского состоит в том, что это позволяет сформировать правильные ожидания. Это не «авторитарный режим» из политологических книжек, он не будет «с вероятностью Х%» сохраняться, изменяться или «демократизироваться». Это фашистское движение, движимое империалистическими импульсами и настроившее государство на тотальную войну. Оно не остановится до тех пор, пока не подчинит себе всю Европу либо не потерпит абсолютное поражение.

erschienen am 02.06.2022, Original

Etkind/Facebook: Feine Unterschiede

Ja, aber ... – so in etwa kommentiert der russische Historiker Alexander Etkind Snyders These.

Deutsch
Original
Besonders große Zweifel habe ich nicht, dass Timothy Snyder mit seiner Behauptung, Russland sei ein faschistischer Staat, recht hat. Aber es gibt auch Unterschiede:

Nazideutschland betrieb Revisionismus, Russland betreibt Revanchismus (bisher stellt es keinen Anspruch auf anderes Territorium als jenes, das ihm seiner Meinung nach früher gehört hat). 

Deutschland brauchte natürliche Ressourcen, Russland weiß gar nicht, wohin mit seinen Bodenschätzen. 

Deutschland begann mit einem Genozid an der eigenen Bevölkerung, Russland mordet das Volk eines anderen Staates (na gut, wahrscheinlich zählt die russische Regierung mit ihrem revanchistischen Weltbild die Ukraine zum eigenen Territorium).

Deutschland hatte mächtige Verbündete, die es nachahmte und auf die es zählte. Das heutige Russland hat seinen Faschismus allein erfunden. [...]

In Deutschland und auch früher schon in Italien förderte der Faschismus (genauso wie der Stalinismus) soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Der Putinismus hat diese Wege längst abgeschnitten und sieht das nicht als Problem.

Der Faschismus erschien in den ersten Jahren seines Erfolgs (vor Pearl Harbor und dem Hitler-Stalin-Pakt) so manchem als progressive Kraft. Der Putinismus ist mittlerweile schon allen verhasst. 

So sieht also unser Faschismus aus.

особых сомнений в правоте Timothy Snyder, что Россия стала фашистским государством, у меня нет. но есть и различия. 

нацистская Германия была ревизионистской силой, Россия реваншистская сила (она пока не претендует на другие территории кроме тех что считает что ей раньше принадлежали). 

Германия нуждалась в природных ресурсах, России некуда деть свои ресурсы. 

Германия начала с геноцида собственного населения, Россия занимается геноцидом в другом государстве (ну ок, может ее правители в реваншистском духе считает Украину своей территорией). 

Германия имела могущественных союзников, им подражала и на них рассчитывала. Нынешняя Россия сама изобрела свой фашизм.

Германия рассчитывала на века военного и политического господства. У нынешней России месяцы.

И в Германии, и еще раньше в Италии фашизм открыл пути вертикальной мобильности (как это сделал и сталинизм). Путинизм их давно закрыл, и проблемы в этом не видит.

Фашизм в первые года своего успеха (до Пирл Харбора, до Молотова Риббентропа) кому то казался прогрессивной силой. Путинизм стал ненавистен всем.

вот такой у нас фашизм

erschienen am 29.05.2022, Original

Kurilla/Re:Russia: Höllischer Brei

Zahlreiche Analysten haben in vergangenen Jahren den Putinismus als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. Das Fehlen einer stringenten Ideologie ist vor diesem Hintergrund auch für den russischen Historiker Ivan Kurilla ein Grund, nicht vom faschistischen Charakter des Systems Putin zu sprechen.

Deutsch
Original
Die wichtigsten Unterschiede des heutigen Autoritarismus liegen meiner Meinung nach im hohen Entwicklungsstand der Informationsgesellschaft und in der Existenz von Kernwaffen (sowie im Wissen um die katastrophalen Auswirkungen ihrer Anwendung). Während im „klassischen“ Faschismus Informationen nur über einen, vom Regime kontrollierten Kanal verbreitet wurden, ist der heutige Autoritarismus im Internetzeitalter vielstimmig, und der Staat sät Zynismus und Misstrauen gegen jedes Weltbild.
Die militärische Aggression der Mitte des 20. Jahrhunderts fußte auf dem Vertrauen der Führer auf ihre militärisch-ökonomische Überlegenheit über die vereinten gegnerischen Kräfte. Heute wird die „Unbesiegbarkeit“ vor allem durch den Besitz von Kernwaffen sichergestellt. Diese Garantie senkte entgegen aller Erwartung die Hemmschwelle, einen Krieg zu beginnen.

Schlussendlich sehen wir, dass der Krieg nicht unter dem Banner einer neuen Ideologie begonnen hat, sondern unter Verwendung einer Sprache aus der Mitte des letzten Jahrhunderts als ideologischer Eklektizismus. Versuche, mit dem Buchstaben Z oder einer weißen Armbinde neue Symbole einzuführen, fanden keine massenhafte Unterstützung, weswegen wir eine ungehemmte, spontane Rückkehr zur sowjetischen Symbolik beobachten – rote Fahnen und Lenin-Denkmäler. Die moderne russische Symbolik ist jedoch mit keiner „großen Idee“ verbunden, in deren Namen man gegen die Nachbarn in den Krieg ziehen könnte.

Главными отличиями нынешнего варианта авторитаризма являются, по моему мнению, развитое информационное общество и наличие ядерного оружия (и осознание катастрофичности его применения). Если в «классическом» фашизме информация передавалась единым потоком, который контролировался режимом, то в сегодняшнем авторитаризме «времен интернета» поддерживается многоголосица, а государством насаждается цинизм — неверие ни в одну картину мира. Если военная агрессия середины XX века опиралась на уверенность лидеров в собственном военно-экономическом превосходстве над объединенными силами противников, то теперь основной гарантией «непобедимости» является обладание ядерным оружием. Эта гарантия неожиданным образом снизила порог начала войны.

Наконец, мы видим, что война началась не под флагом новой идеологии, а с использованием языка середины прошлого века в ситуации идейной эклектики. Попытки предложить новую символику в виде буквы Z или белой нарукавной повязки не нашли массовой поддержки, в результате чего мы наблюдаем стихийное возвращение советской символики — красные флаги и памятники Ленину. Но современная российская символика не связана с «большой идеей», и за нее нельзя идти воевать против соседей.

erschienen am 02.06.2022, Original

Laruelle/Re:Russia: Utopie?

Die französische Politikwissenschaftlerin Marlene Laruelle fragt auf Re:Russia, inwiefern das russische System tatsächlich als faschistisch gelten kann, wenn man – gemäß des britischen Historikers und Faschismusforschers Roger Griffin – Faschismus als eine Ideologie definiert, die eine nationale Wiedergeburt (Palingenese) durch Krieg propagiert und verherrlicht.

Deutsch
Original
Gegen die Verwendung des Begriffs Faschismus im heutigen Russland spricht vor allem, dass jegliche gesellschaftliche Mobilisierung fehlt, die das Projekt einer „nationalen Wiedergeburt durch Krieg“ unterstützen würde. Das russische Regime verschleiert den Krieg vielmehr und droht sogar jenen, die die „militärische Spezialoperation“ als Krieg bezeichnen, mit fünfzehn Jahren Freiheitsentzug. Weder wird der Krieg öffentlich verherrlicht, noch werden Narrative entwickelt, bei denen Gewalt als Mittel zur nationalen Wiedergeburt gepriesen wird. Eine großangelegte Mobilisierung von Männern und Wehrpflichtigen soll vermieden werden.
Главным элементом, который делает сегодняшнюю Россию не подходящей под определение «фашистской», является для меня полное отсутствие общественной мобилизации в поддержку проекта возрождения нации через войну. Российский режим скрывает войну и даже грозит пятнадцатью годами тюремного заключения тем, кто называет «специальную военную операцию» войной. Он никоим образом не превозносит войну публично и не развивает нарративы прославления насилия как способа возрождения нации.

erschienen am 02.06.2022, Original

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Großer Vaterländischer Krieg

Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

„Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 war der gerechte Befreiungskrieg des sowjetischen Volkes für die Freiheit und Unabhängigkeit der sozialistischen Heimat gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten, der wichtigste und entscheidende Teil des Zweiten Weltkriegs 1939–1945.“ So definierte im Jahr 1985 eine einschlägige Moskauer Enzyklopädie.1 Diese in der Sowjetunion und einigen Nachfolgestaaten übliche Bezeichnung entspricht chronologisch und geographisch in etwa den deutschen Begriffen Krieg an der Ostfront oder Russlandfeldzug. Selbst für sich allein genommen war dieser Abschnitt des Zweiten Weltkriegs einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte.

Ein Sieg unter vielen

Der Begriff ist an die Bezeichung für Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 angelehnt, der in Russland als Vaterländischer Krieg bekannt ist. Gemeint ist ein Verteidigungskrieg auf eigenem Boden, auch wenn dieser in eine Gegenoffensive außerhalb der Staatsgrenzen übergeht. Bereits der Erste Weltkrieg wurde manchmal als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet.

Nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die Parallelen zum Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu 1812, schnell aufgegriffen. Bereits am nächsten Tag druckte die „Prawda“ einen Artikel des Parteiideologen Jemeljan Jaroslawskij mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg“. Auch Stalin griff die Bezeichnung in seiner ersten öffentlichen Kriegsansprache am 3. Juli 1941 auf.

Obwohl der internationale Charakter aller drei Kriege stets betont wurde, markierte der Begriff des Vaterländischen Krieges eine Wende von einer sozialistischen Interpretation hin zu einer Besinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Militärische Ruhmestaten aus dem Mittelalter und der Zarenzeit wurden in der Propaganda ebenso betont wie die führende Rolle des russischen Volkes. Dennoch dauerte es Monate, bis der Ausdruck Vaterländischer Krieg zum Standardbegriff wurde – und erst gegen Ende des Kriegs war das zusätzliche Attribut Großer nicht mehr wegzudenken.

Die Chronologie des Kriegs und seine Bedeutung im Verhältnis zu anderen militärischen und politischen Ereignissen waren auch nach 1945 nicht sofort in Stein gemeißelt. Der 3. September 1945 als Tag des Sieges über Japan stand noch 1947 im staatlichen Festkalender und in Denkmalsentwürfen aus der Bevölkerung gleichberechtigt neben dem 9. Mai.2 Als vaterländische Kriege konnten der Bürgerkrieg von 1917–1921, die sowjetisch-japanische Schlacht am Chasansee von 1938 und sogar der sowjetisch-finnische Krieg von 1939/40 gelten.3

Bis zur Mitte der 1960er Jahre galt der Sieg von 1945 als eine Errungenschaft des Sozialismus unter vielen. Seine Bedeutung für das historische und politische Selbstverständnis des Landes stieg jedoch kontinuierlich, nicht zuletzt auf Druck aus der Armee, den neuen Veteranenverbänden und von Verantwortlichen aus den Westgebieten der UdSSR, wo die zentrale Rolle des Kriegs bereits etabliert war.

Siegeskult und Geschichtsklitterung

Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 bemühte sich die neue Staatsspitze, den bereits bestehenden Kult des Großen Vaterländischen Kriegs (GVK, russ. WОW, Welikaja Otetschestwennaja Woina) zu vereinheitlichen und im ganzen Land zu etablieren. Die rückwärtsgewandte Sicht auf den Krieg als das – neben der Oktoberrevolution – wichtigste Ereignis in Russlands Geschichte überschattete zunehmend die zukunftsorientierten Versprechungen des Sozialismus. Die 1418 Tage vom 22. Juni 1941 bis zum 9. Mai 1945 wurden zum endgültigen chronologischen Rahmen; die geheimen Teile der deutsch-sowjetischen Abkommen von 1939 und die Besetzung von Teilen Osteuropas durch die Sowjetunion 1939/40 blieben aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart.

Fundament des historischen Selbstverständnisses

Nach einer Phase kontroverser Diskussionen um Interpretationen und Chronologie des Krieges während der Perestroika stieg die Bedeutung des Kults um den GVK seit Mitte der 1990er Jahre wieder kontinuierlich. Durch den Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds blieb der Stolz auf den Sieg von 1945 als einziger historischer Affekt übrig, der nationalen Zusammenhalt versprach. Mit Unterstützung aus der Staatsführung, oft jedoch auf Initiative der Enkelgeneration, wurde er in den 2000ern endgültig zum Fundament des historischen Selbstverständnisses in Russland und Belarus.

In den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem ferneren Ausland sind es vor allem russischsprachige Einwohner, für deren Geschichts- und Selbstverständnis der GVK ein wichtiger Bezugspunkt ist. Inzwischen werden mehr kulturelle Artefakte (Filme, Bücher, Denkmäler usw.) zu 1941–1945 produziert als zu spätsowjetischen Zeiten. In Russland ist der Tag des Sieges am 9. Mai der mit Abstand wichtigste Nationalfeiertag.

Ereignisse der jüngsten Geschichte werden zunehmend als Neuauflage des GVK gesehen, so – durch beide Seiten – der seit 2014 andauernde Ukrainekrieg. Gerade in der Ukraine hat der Konflikt jedoch auch zu Neuinterpretationen geführt. Neben dem weiterhin bestehenden Kult um den Großen Vaterländischen Krieg werden die Ereignisse ab 1941 dort, wie schon zuvor im Baltikum, zunehmend als Teil des Zweiten Weltkriegs von 1939–1945 gesehen und das eigene Land als Opfer zweier Diktaturen dargestellt.


1.Sovenciklopedija (1985): Velikaja Otečestvennaja vojna, 1941-1945, Moskau, S. 7
2.zu einem solchen Projekt siehe: Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 41-49
3.Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 27-32
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Tag des Sieges

Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

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Park des Sieges

Der Park des Sieges ist eine Gedenkstätte im Westen Moskaus. Auf dem weiträumigen Gelände befinden sich zahlreiche Statuen und Denkmäler, ein Museum sowie weitere Sehenswürdigkeiten, die an den Großen Vaterländischen Krieg erinnern. Die Parkalage hat sich nicht nur zu einem zentralen Gedächtnisort für die Feierlichkeiten am 9. Mai entwickelt, sondern ist auch als Touristenattraktion und Erholungspark bei den Moskauern sehr beliebt.

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Poklonnaja-Hügel

Der Poklonnaja-Hügel ist eine der höchsten natürlichen Erhebungen in Moskau. Der Ort besitzt seit dem Mittelalter eine wichtige historische Bedeutung. Heute befindet sich hier mit dem Park des Sieges ein zentraler Gedenkort für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges.

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Genrich Jagoda

Der Name Genrich Jagoda ist untrennbar mit den stalinistischen Repressionen, dem Aufbau des Straflagersystems Gulag, der Organisation der ersten sowjetischen Schauprozesse und dem sowjetischen Innenministerium NKWD verbunden, das er von 1934 bis 1936 leitete.

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Krim

Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Die Wahlbeteiligung und die rund 90-prozentige Zustimmung für Putin auf der Krim stellt der Kreml als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland dar. Gwendolyn Sasse über die mythenumwobene Region, das Narrativ der „russischen Krim“ und die Selbstwahrnehmung der Krim-Bewohner nach der Angliederung an Russland. 

 

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