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Harte Landung

Um 14.15 Uhr Ortszeit landet am vergangenen Sonntag die Ryanair-Maschine FR 4978 am Nationalen Flughafen von Minsk. Eigentlich hätte der Flug, der in Athen gestartet war, um 13 Uhr die litauische Hauptstadt Vilnius erreichen sollen, das eigentliche Ziel der Reise. Was den Piloten letztlich veranlasst hat, mit über 100 Passagieren und sechs Crewmitgliedern an Bord in der belarussischen Hauptstadt zu landen, darüber gibt es noch kein klares Bild. Denn in dem Moment, als die Boeing 737 sich über der belarussischen Stadt Lida befand, war sie Vilnius eigentlich näher als Minsk. In der offiziellen Erklärung, die vom Pressedienst des Minsker Flughafens veröffentlicht wurde, heißt es, dass das Flugzeug ein Notsignal abgegeben und sich an den Minsker Flughafen gewandt habe mit der Bitte um Landung. Die Nachricht sei um 12.50 Uhr Minsker Zeit eingegangen, berichtet Tut.by in einer detaillierten Recherche. Dann wird die Faktenlage unklarer. Denn ursprünglich ist in den offiziellen Kanälen der belarussischen Machthaber von einer Bombendrohung die Rede. Am Sonntagabend heißt es von offiziellen belarussischen Stellen dazu, dass man diese aus Informationen der Hamas erhalten habe, was von der Hamas aber kurze Zeit später dementiert wird. Jedenfalls macht sich der Ryanair-Flug auf den Weg nach Minsk, mittlerweile ist ein Kampfjet der belarussischen Luftwaffe aufgestiegen, angeblich auf Befehl von Alexander Lukaschenko, der die Aktion persönlich geleitet haben soll. Die MiG 29 begleitet Flug FR 4978 nach Minsk. 

Nach der Landung müssen die Passagiere die Maschine verlassen, ihr Gepäck wird mehrmals von Sicherheitsbeamten durchsucht. Die mehrstündige Aktion findet neben dem Flugzeug statt, was für eine angebliche Bombendrohung zumindest ungewöhnlich erscheint. Schließlich werden zwei Passagiere festgenommen: Der Belarusse Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapeha, eine russische Staatsbürgerin. Protassewitsch war Chefredakteur des Telegram-Kanals Nexta, der seit dem Beginn der Proteste in Belarus nach dem 9. August 2020 zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Ereignisse in dem osteuropäischen Land avancierte. Der Kanal wurde von den Machthabern in Belarus als „extremistisch“ eingestuft. Der 26-jährige Protassewitsch, der bereits seit 2019 in Polen lebt, stand auf der Fahndungsliste der belarussischen Machthaber. Nach Bekanntwerden der Festnahmen macht in den sozialen Medien schnell eine Anschuldigung die Runde: Die Landung in Minsk sei eben wegen Protassewitsch erzwungen worden. Nexta ließ die Vermutung verlautbaren, Lukaschenko habe mit einem Verstoß gegen alle Gesetze ein Flugzeug „gekapert“. Das offizielle Minsk verteidigte sein Vorgehen, das nun „bewusst politisiert“ werde.

Das Vorgehen des Lukaschenko-Staates wurde noch am Sonntagabend von zahlreichen Regierungen und Organen der EU scharf kritisiert. Dem Autokraten wurde „Luftpiraterie“ vorgeworfen. Zahlreiche Fluggesellschaften haben angekündigt, den belarussischen Luftraum ab sofort umfliegen zu wollen. Bereits am Montag verkündete die EU neue Sanktionen, unter anderem soll der Luftraum über der EU für belarussische Maschinen gesperrt werden. Zudem wurde die unverzügliche Freilassung von Protassewitsch gefordert, dem nach belarussischen Gesetz bis zu 15 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Am Montagabend verbreiteten mehrere staatliche Kanäle in Belarus ein Video von Protassewitsch, in dem er – sichtlich unter Druck stehend und mit Verletzungen und blauen Flecken im Gesicht – seine vermeintliche Schuld eingestand.

Warum ausgerechnet Protassewitsch? Was bedeutet dieses beispiellose Ereignis für die belarussische Opposition und für die internationale Staatenwelt? Hat der russische Präsident Putin Lukaschenko den Rücken für diese Aktion freigehalten, war der Kreml letzten Endes womöglich sogar beteiligt? Auf diese und andere Fragen versucht der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für Naviny.by Antworten zu finden.

Источник BelaPAN/Naviny.by

Offiziell versucht Minsk alles so darzustellen, als sei Protassewitsch ganz zufällig gefasst worden. Eigentlich habe Belarus aber Europa vor einer Gefahr gerettet (und was, wenn nun tatsächlich eine Bombe an Bord gewesen wäre, hm?!), und nur deswegen habe es den ausländischen Linienflieger, der von Athen nach Vilnius flog, zur Landung gezwungen.

Ihren Reaktionen nach zu urteilen glauben Europa und Washington einer so unschuldigen Version nicht mal ansatzweise. Die dortigen Politiker gehen vielmehr davon aus, dass das Regime, um seinen Feind einzufangen, das Leben von EU-Bürgern und die Flugsicherheit gefährdet hat. Schwere Vorwürfe wurden laut. Die Entführung eines Flugzeugs auf Geheiß der Behörden bezeichnete Ryanair-Chef Michael O’Leary als „staatlich gesponsorte Piraterie“. Er deutete an, dass sich an Bord des Flugzeugs mehrere KGB-Agenten befunden hätten.

Den Kommentaren in den Medien und Sozialen Netzwerken nach zu urteilen vermuten auch viele unabhängige Experten und belarussische Bürger hinter dieser verrückten Geschichte eine gut durchdachte Aktion der belarussischen Geheimdienste. Umso mehr als die großen Bosse mit den Schulterklappen zuvor öffentlich gedroht hatten, die ihren Worten zufolge „blutrünstige“ Opposition wo auch immer zu ergreifen. Die Geschichte von der Festnahme Protassewitschs schlägt genau in diese Wir-haben-lange-Arme-Kerbe. Das breite Publikum nun von einer anderen Interpretation zu überzeugen, ist also eine – nun, sagen wir mal: sehr undankbare Aufgabe.

Warum ausgerechnet Protassewitsch?

Der Blogger und Journalist Protassewitsch ist 2019 nach Polen emigriert. Er hat der belarussischen Machtelite natürlich ordentlich in die Suppe gespuckt, als er im vergangenen Jahr bei Ausbruch der Massenproteste einen Telegram-Kanal redaktionell verantwortete [den Kanal Nexta – dek], den die Behörden schließlich als „extremistisch“ einstuften.

Die Welle der belarussischen Revolution hat das Regime ins Wanken gebracht und seine Führung eindeutig in Angst versetzt. Und einige Telegram-Kanäle schienen tatsächlich die Straßenproteste zu koordinieren und führten einen harten Infokampf gegen das Regime. Deswegen wurde gegen Protassewitsch auch ein Strafverfahren aufgrund von drei Paragraphen eingeleitet.

Aber jetzt sind die Proteste dem Erdboden gleichgemacht. Zu koordinieren gibt es da nichts mehr. Warum ist die Verhaftung Protassewitschs den Machthabern ausgerechnet jetzt so wichtig, dass sie sogar all die unangenehmen Konsequenzen aus dem Ausland in Kauf nehmen?

„Hier geht es nicht so sehr um rationale, als vielmehr um emotionale Aspekte. Zum Beispiel um den Wunsch, sich für die Schockmomente zu rächen, die die Machthaber im letzten Jahr durchgemacht haben“, so Waleri Karbalewitsch vom analytischen Zentrum Strategija in Minsk.

Außerdem sei den Machthabern wichtig, durch den Fang eines Feindes ihre Anhänger zu motivieren, „so nach dem Motto, schaut her, wie cool wir sind“, sagt der Analyst in einem Kommentar auf Naviny.by.

Die Verhaftung Protassewitschs passe gerade in propagandistischer Hinsicht gut ins Konzept: „Womöglich wird er etwas erzählen, und dann heißt es im Fernsehen: Schaut her, die westlichen Geheimdienste haben eine Farbrevolution in Belarus eingefädelt.“

In der Tat hat die belarussische Führung schon seit Beginn der Proteste die Verschwörungserzählung forciert, dass Saboteure im Westen diesen ganzen Brei angerührt hätten. Und wir haben schon gesehen, dass die hiesigen Silowiki imstande sind, die Zungen der Verhafteten zu lösen. Also ist nicht ausgeschlossen, dass man Protassewitsch etwas in den Mund legen wird – um Leute zu diskreditieren, die gegen das System von Alexander Lukaschenko kämpfen, und besonders diejenigen, die er „Flüchtige“ nennt.

Und natürlich wird mit dem Aufgreifen Protassewitschs das Ziel verfolgt „den Anführern der emigrierten Opposition einen Schreck einzujagen“, unterstreicht der Gesprächspartner von Naviny.by.

Es sei noch hinzugefügt, dass dieser Plot, der so manchen Blockbuster aus Hollywood in den Schatten stellt, sicherlich den gesamten Protest der belarussischen Gesellschaft beeindrucken wird. Als wollten die Machthaber zeigen: Wenn wir sogar die kriegen, die sich mit der Ausreise in Sicherheit wähnten, dann können wir euch, liebe Täubchen, sowieso jederzeit in die Mangel nehmen.

Über die Folgen dieser Geschichte, die bereits heftigen Widerhall in der Welt gefunden hat, hat man sich in den belarussischen Machtstrukturen nicht allzu viele Gedanken gemacht, besser gesagt „man erwartet nicht, dass es besonders weitreichende Folgen geben wird“, so Karbalewitsch.

Lukaschenkos Krieg mit dem Westen spielt Moskau in die Hände

Moskaus Reaktion auf diesen Skandal ist interessant: Die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat in ihrer typischen Manier versucht, dem Westen die Leviten zu lesen. Dieser, so Maria Sacharowa, solle sich doch mal erinnern an die „Zwangslandung des Flugzeugs des Präsidenten von Bolivien in Österreich auf Ersuchen der Vereinigten Staaten; und an die Ukraine, wo ein belarussisches Flugzeug mit einem Antimaidan-Aktivisten elf Minuten nach dem Start zur Landung gezwungen wurde“.

Doch so viel Whataboutism hat sich als tölpelhaft erwiesen: Denn damit gibt man indirekt zu, dass Minsk, als es das irische Flugzeug zur Landung zwang, eine Sonderoperation durchgeführt hat.
Insgesamt hat Moskau allerdings zurückhaltend reagiert. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte den Ryanair-Vorfall nicht weiter: die internationalen Luftfahrtbehörden sollten die Situation bewerten, sagte er nur. Der russische Außenminister Sergej Lawrow plädierte dafür, „die Situation nicht im Eifer des Gefechts und nicht übereilt zu bewerten, sondern auf Grundlage aller verfügbaren Informationen“.

Mit anderen Worten: Die russische Führung scheint nicht bereit zu sein, vorbehaltlos für ihren Verbündeten einzustehen. Warum nicht?

Der Minsker Analyst Andrej Fjodorow schließt in seinem Kommentar für Naviny.by nicht aus, dass die belarussischen Behörden geplant hatten, Moskau in den Skandal mit der Zwangslandung und der Festnahme von Protassewitsch hineinzuziehen: „Wenn Moskau [in dieser Geschichte] Schulter an Schulter mit Minsk kämpfen würde, hätte es keine Handhabe, [die belarussische Regierung] bei Verfassungsreformen, Machttransfer und so weiter unter Druck zu setzen.“ So sieht der Analyst eine mögliche Logik der belarussischen Seite.

Moskau würde nur ungern in eine Angelegenheit hineingezogen, in der die Minsker Argumente nicht sehr überzeugend klingen. Der Kreml will seine Vorteile in den Verhandlungen mit Lukaschenko nicht verlieren, sagt der Gesprächspartner von Naviny.by.

Man muss jedoch anmerken, dass einige Kommentatoren meinen, dass bei der Verhaftung von Protassewitsch auch russische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. 

So oder so, der Skandal mit dem Ryanair-Flugzeug und die Inhaftierung des ausgewanderten Oppositionellen ist für Moskau von Vorteil, glaubt Karbalewitsch: „Lukaschenko ist isoliert; neue Konfrontation mit dem Westen; die Brücken werden abgebrochen.“

Minsk setzt noch auf Verhandlungen, doch vorläufig wächst sich der Konflikt weiter aus

Im Prinzip sieht es wie ein politische Gesetzmäßigkeit aus: Je schlechter Lukaschenkos Beziehungen mit dem Westen sind, desto abhängiger ist er vom Kreml. Die Geschichte mit Protassewitschs Gefangennahme schwächt also potenziell Lukaschenkos Position in Richtung Osten.

Das zieht allerdings auch die Europäische Union in Betracht, wenn sie Sanktionen gegen das belarussische Regime ausarbeitet. In Brüssel befürchtet man traditionell, dass übermäßiger Druck auf Belarus das Land immer stärker an Russland bindet.

Die zweite Sorge des Westens gilt den möglichen Gegensanktionen: Das Regime könnte die Opposition, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die unabhängigen Medien im Land endgültig zerstören. Im April hat der belarussische Außenminister Wladimir Makei ein solches Szenario ganz offen umrissen: Falls die Sanktionen verschärft würden, „wird es diese Zivilgesellschaft nicht mehr geben, um die sich unsere europäischen Partner so sehr sorgen“.

Die belarussischen Behörden rechnen offensichtlich damit, dass der Westen mit seinem „verfaulten Humanismus“ kalte Füße bekommt und keine härtere Gangart einlegen wird.

Andere Kommentatoren meinen, dass die belarussische Führung, die die europäischen Politiker für Schwächlinge hält, mit dem Ryanair-Flugzeug dem kollektiven Westen auf den Zahn fühlt: Wird er auch diese Pille schlucken?

Darüber hinaus könnte Protassewitsch, den belarussische Menschenrechtler bereits als politischen Gefangenen anerkannt haben, hinter Gittern (zusammen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten) zu einem wertvollen Faustpfand werden in den voraussichtlichen Verhandlungen des Regimes mit dem Westen, in denen es um einen Ausweg aus der Isolation und das Auftauen der Beziehungen gehen wird. Darin liegt ein weiteres Motiv der Regierung, die Kosten für die sensationelle Landung des irischen Flugzeugs in Minsk in Kauf zu nehmen.

Werden solche Berechnungen aber aufgehen? Wie ein Schneeball sammelt diese ganze Geschichte bis jetzt üble Konsequenzen an. Vor dem Hintergrund des Skandals mit dem Flugzeug entflammte ein diplomatischer Konflikt mit Lettland. Minsk gab bekannt, dass es nicht nur seinen Botschafter, sondern die gesamte Botschaft wegen des Vorfalls mit der belarussischen Staatsflagge in Riga abberuft. Lettland reagierte symmetrisch.

Der Knoten des Konflikts mit dem Westen zieht sich immer fester zu. Und in Belarus wird alles noch düsterer.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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