„Wir werden niemanden aufhalten“, sagte Alexander Lukaschenko Anfang Juli bei einem Treffen seiner Regierung in Minsk. Damit meinte der langjährige Autokrat Flüchtlinge vorwiegend aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan, die versuchen, über Belarus in die EU zu gelangen. Tatsächlich sind seit Anfang des Jahres fast 4000 Flüchtlinge nach Litauen gelangt, täglich werden es mehr. Sie laufen durch die Wälder und Moorgebiete, die Belarus und Litauen auf einer Länge von 680 Kilometer voneinander trennen – es sind im Übrigen Fluchtwege, die zum Teil auch Belarussen nutzen, die aus politischen Gründen ins Nachbarland flüchten.
In den vergangenen Tagen demonstrierten mehrere hundert Litauer in Vilnius gegen einen Plan der EU-Kommission, die Migranten in einem Camp im Grenzort Dieveniškės unterzubringen. Auch im Grenzort Rudninkai protestierten Menschen gegen ein bereits errichtetes Zeltlager. Das kleine Litauen steht unter hohem politischen Druck. Das drei Millionen Einwohner-Land hatte bereits Anfang Juli den Notstand ausgerufen. Über 30 Soldaten der EU-Grenzbehörde Frontex wurden nach Litauen geschickt, um die dortigen Grenzbehörden zu unterstützen, auch bei der besseren Sicherung der Grenze zu Belarus. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis beschuldigte Lukaschenko, die Flüchtlinge als „hybride Waffen gegen die EU“ zu benutzen – sozusagen als Strafe für die Sanktionen, die die EU am 21. Juni gegen die belarussischen Machthaber beschloss. Auch Politiker der belarussischen Opposition wie beispielsweise Pawel Latuschko warfen Lukaschenko vor, die Migranten gezielt in Richtung EU zu schleusen. Die litauische Regierung gehört zu den schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos. Anfang Juli hatte Litauen der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich mit ihrem Team in Vilnius aufhält, einen offiziellen Status zuerkannt, worauf es zu einer diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam.
Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? Was sind ihre Beweggründe zu fliehen? Wer organisiert ihre Flucht vor Ort und in Belarus? Wie gelangen sie über die Grenzen? Das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich in einer aufwändigen Reportage und Recherche mit diesen Fragen.
Bagdad und Minsk verbindet ein recht belebter Luftweg. Bis vor Kurzem flog diese Strecke nur die Iraqi Airways – ein- bis zweimal pro Woche, je nach Saison; jetzt fliegt sie mittwochs und freitags. Doch seit dem 10. Mai hat sich die Zahl der Flüge zwischen der irakischen und der belarussischen Hauptstadt verdoppelt. Denn auch Fly Baghdad fliegt jetzt die Strecke – montags und donnerstags. [Inzwischen fliegt Iraqi Airways nach Informationen von Zerkalo.io (ehemals tut.by) vier Mal pro Woche von Bagdad nach Minsk, im August gibt es außerdem weitere Verbindungen von Sulaimaniyya, Basra und Erbil nach Minsk – dek].
Seit Frühling 2021 preisen irakische Reisebüros massenhaft Urlaub in Minsk an. Die Kosten solcher Pakete variieren zwischen 560 und 950 Dollar. Im Preis inbegriffen sind Flugtickets, Visum, Versicherung, Unterbringung im Hotel und mehrere geführte Touren.
Solche Pauschalreisen aus dem Irak nach Belarus sind in den letzten Monaten deutlich billiger geworden. Das erwähnte im Gespräch mit Reform.by auch Jelena K. – eine Belarussin, die im irakischen Kurdistan lebt und mit einem Einheimischen verheiratet ist.
Lange Zeit plante das Paar eine Reise in Jelenas Heimat, konnte sich diese aber nicht leisten. Laut Jelena hätte noch im letzten Jahr ein Ticket nach Belarus und zurück mit Umsteigen in Istanbul rund 850 Dollar gekostet. Eine Pauschalreise wäre auf etwa 1000 Dollar pro Person gekommen. Jetzt, sagt Jelena, kann man Reisen nach Belarus ab 500 Dollar pro Person finden.
Im August 2020 bot die irakische Reiseagentur Jood Land achttägige Touren nach Belarus an, von denen die billigste 949 Dollar kostete. Reform.by hat die Agentur kontaktiert und nach dem aktuellen Preis gefragt. Die Antwort: Eine achttägige Reise mit Unterbringung im Doppelzimmer kostet für eine Person 570 Dollar. In der Agentur betonte man, dass es jetzt viel mehr Iraker als früher gebe, die Belarus besuchen wollen.
Ich habe mein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen
Angesichts der Preise für Pauschalreisen ist es nur logisch, dass viele Iraker sich für Belarus interessieren. Das beweisen auch die Facebook-Kommentare zu Werbungen von Reisebüros. Wir haben einige Iraker kontaktiert, die in FB-Kommentaren nach den Kosten für Belarus-Reisen fragten.
Gleich der erste junge Mann aus Bagdad erklärt: Er habe eine Werbung gesehen, von den vier Angeboten habe ihm Belarus am besten gefallen, daher wolle er hinfahren – nur als Tourist, zur Erholung. In Belarus sei er noch nie gewesen, und er kenne auch niemanden, der schon mal dort war. Doch schon ein paar Minuten später fragt er: „Wissen Sie überhaupt, wie es im Irak zugeht? Kennen Sie sich vielleicht mit Migration in die EU aus? Wenn ich nach Belarus fahre und dort heiraten würde, könnte ich dann legal im Land bleiben?“
Wie uns der Iraker Amin (Name geändert) erzählt, wurde Alexander Lukaschenkos Verlautbarung, Belarus werde Flüchtlingen, die in die EU wollen, keine Steine mehr in den Weg legen, mehrere Tage hintereinander im irakischen Fernsehen gesendet. Und überhaupt würden die irakischen Medien Nachrichten zum Thema Migration viel Aufmerksamkeit schenken und jetzt oft über Belarus berichten. Daher würden viele Iraker, die permanent auf der Suche nach Möglichkeiten seien, das Land zu verlassen, diese Chance sofort nutzen.
Für Migranten sei Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen
Amin ist 25. Der junge Mann sagt, er habe sein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen, er nennt den Irak die Hölle auf Erden. Als er im Fernsehen von Belarus erfahren habe, hätten er und seine Freunde beschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Er sagt, für Migranten sei eine Reise nach Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen.
„Schlepper kassieren meistens ein paar tausend Dollar für eine Lkw-Fahrt in ein europäisches Land“, sagt Amin.
Er meint, nach Lukaschenkos Worten sei im Irak die Nachfrage nach Belarus-Reisen deutlich gestiegen. Er selbst und vier seiner Freunde haben im Reisebüro Al Qimma Travel and Tourism für 700 Dollar pro Person gebucht. Im Preis inkludiert sind PCR-Test, Visum, Unterkunft und mehrere Ausflüge. Ein Visum für zehn Tage bekam Amin gleich auf dem Nationalen Flughafen in Minsk ausgestellt.
Noch vor seiner Ankunft in Belarus erzählt uns Amin: Seine Freunde und er verfolgen Meldungen über Festnahmen illegal Reisender an der litauischen Grenze und markieren die jeweiligen Orte auf einer Karte. Den Grenzübertritt planen die jungen Männer in der Region Grodno – weil dieses Gebiet auf Satellitenkarten bewaldet aussehe. Außerdem suchen sie Informationen darüber, mit welchen Transportmitteln sie bis zur Grenze kommen und wo sie litauische SIM-Karten kaufen können. Amin und seine Freunde entscheiden sich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Lida zu fahren und von dort mit dem Taxi zur Grenze.
Mit dem Taxi bis zur Grenze
Zuerst hatte die Gruppe vor, etwa drei Tage in Minsk zu bleiben, aber als sie am 10. Juli ankommen, wollen sie lieber keine Zeit verlieren und am selben Tag noch bis zur Grenze fahren. Dann passiert etwas Kurioses, das illustriert, wie illegale Einwanderer in Belarus – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – absolut auf sich gestellt und ohne jegliche Organisation und Hilfe agieren. Die Jungs verlassen das Hotel und gehen zur nächsten Bushaltestelle, wo Amin dem Journalisten, mit dem er Kontakt hat, ein Foto des Fahrplans schickt und fragt: „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“
Im Endeffekt fahren sie mit dem Taxi. Wahrscheinlich sind sie über der Grenze, als unser Kontakt zu Amin abreißt. Soweit wir wissen, werden den Leuten in den Auffanglagern während der Quarantäne die Handys abgenommen und nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt.
Die Fluchtbewegung nach Litauen besteht nicht nur aus Irakern. Mansur (Name geändert) ist ein 23-jähriger Syrer, er hat in der Türkei einen Uni-Abschluss als Energieingenieur gemacht. Jetzt wird er zur Armee einberufen und hat beschlossen, das Land zu verlassen.
„Von Migration über Belarus habe ich in der Zeitung gelesen, in Syrien liest man aufmerksam alle Nachrichten zum Thema Migration. Ich habe von der Situation in Belarus und von Lukaschenkos Aussage über Einwanderer gehört, daher wollte ich die Chance nutzen“, erzählt der junge Mann.
Da Mansur in der Türkei studiert hat, hat er eine doppelte Staatsbürgerschaft: die syrische und die türkische. Türkische Staatsbürger haben das Recht, sich bis zu 30 Tage ohne Visum in Belarus aufzuhalten. Daher braucht Mansur kein Visum zu beantragen.
Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken
„Vom Flughafen fuhr ich mit dem Bus nach Minsk und ging zum Bahnhof, wo ich dem Schalterbeamten auf meinem Handy den Satz ‚Ich möchte ein Ticket Minsk–Grodno kaufen‘ auf Russisch zeigte. So fuhr ich nach Grodno. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass es in der Nähe der polnischen und der litauischen Grenze liegt, daher wollte ich sofort in diese Stadt. Hier wohne ich bis auf Weiteres in einem Hotel im Zentrum und tüftle mir eine Route aus. Ich überlege, wo ich am besten hingehe, sehe mir diesen Ort an“, Mansur zeigt uns einen Screenshot.
„Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken. Aber ich muss erst herausfinden, wie ich zur Grenze komme, wie das hier mit dem Taxi ist“, erzählt Mansur weiter.
Der junge Mann gibt zu, große Angst vor der belarussischen Miliz zu haben. Das letzte Mal haben wir am 7. Juli mit Mansur gesprochen, seitdem war er nicht mehr telefonisch erreichbar und nicht mehr online.
Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor
Wie wir von unseren Gesprächspartnern wissen, haben Migranten, die durch unser Land flüchten, generell große Angst vor Begegnungen mit der Miliz: Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor. Sollte es dennoch passieren, wollen sie sich als Studenten der Universität Grodno ausgeben. Ihrer Meinung nach klingt das glaubwürdig und kann sie vor Festnahmen bewahren.
Keiner der Migranten erzählt uns (obwohl sie recht gesprächig sind), dass sie in Belarus Anweisungen bekommen hätten, wo sie hinfahren und was sie dort sagen sollen, schon gar nicht von Grenzbeamten. Daraus schließen wir, dass sie vor allem untereinander ihre Erfahrungen weitergeben. Sie verkehren in unzähligen Social-Media-Gruppen und Telegram-Chats für Flüchtlinge – in der Regel geschlossenen, in die man schwer reinkommt, aber uns ist es gelungen.
Hast du es geschafft – dann hilf dem Nächsten
Samir, der eine solche Community gegründet hat, erzählt uns, dass solche Gruppen in erster Linie dazu da sind, Informationen über möglichst ungefährliche Transitrouten nach Europa zu teilen. Mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Leute dem Risiko aussetzen, in Booten das Meer zu überqueren oder sich in mit Menschen vollgestopften Lastwagen über den halben Kontinent karren zu lassen und dafür noch Unsummen hinzublättern.
Jetzt entstehen spezielle Gruppen, in denen es darum geht, wie man über Belarus nach Europa gelangt.
Tausende Dollar für Europa?
Samid (Name geändert) ist Kurde. Er will über Belarus nach Polen, um dann nach Deutschland weiterzureisen. Von ihm haben wir die Kontaktdaten eines kurdischen Schleppers bekommen, der die Leute von Litauen nach Deutschland bringt.
„Sie bringen die Leute von Litauen nach Deutschland, pro Person kostet das 85.000 US-Dollar. Außerdem haben sie noch jemanden an der Grenze, der den Weg erklärt, vielleicht ein Einwohner Litauens“, erzählt Samid.
Laut Samid sind in dem Preis ein Visum und andere Dokumente enthalten, die für die Einreise nach Belarus und den Transit zur Grenze nötig sind. An der Grenze werde den Leuten erklärt, wohin sie gehen müssen. Nach dem Grenzübertritt würden sie in Litauen von jemandem empfangen und nach Deutschland gebracht.
Samids Bericht ist die einzige uns vorliegende Quelle, die sich mit den Informationen überschneidet, die sich mittlerweile vielfach in den Medien finden: Dass viele Migranten bis zu 15.000 Dollar bezahlen würden, um über Belarus nach Litauen zu gelangen. In den Chats von irakischen Migranten haben wir diese Informationen nicht gefunden, und auch von unseren Interviewpartnern, die überwiegend aus dem Irak stammen, wurden sie nicht bestätigt.
Interessant ist, dass in den vergangenen Jahren illegal reisende Migranten (auch aus dem Irak) Belarus gemieden und sogar davor gewarnt haben, über dieses Land in die EU einzureisen, weil die Grenze zu streng bewacht werde.
Wir haben einen Post von 2017 gefunden, in dem Iraker darüber diskutieren, warum es gefährlich sei, die belarussische Grenze zu passieren. In den Kommentaren schrieb ein Syrer namens Hatim, Belarus sei als ein Staat bekannt, in dem jeder verhaftet würde, man solle diese Variante lieber nicht in Betracht ziehen.
Eine offene Grenze
Warum gilt der belarussische Korridor also jetzt als eine nahezu sichere Möglichkeit, in die EU zu gelangen? Das liegt nicht nur an den gesunkenen Preisen für Flüge und touristische Reisen. Aus den Berichten aller unserer Interviewpartner geht klar hervor, dass sich das Verhalten der Grenzbeamten grundlegend geändert hat. Das sagen nicht nur Migranten, sondern auch Belarussen. Diese Angaben wurden uns außerdem von zwei Grenzbeamten bestätigt, die bereit waren, anonym mit uns zu sprechen.
Ein anonymer Informant von Reform.by, der an einem Grenzkontrollpunkt arbeitet, erzählt von der gegenwärtigen Situation an der belarussisch-litauischen Grenze:
„Derzeit passieren ziemlich erstaunliche Dinge. Früher wurde man dafür belohnt, wenn man einen Zigarettenschmuggler erwischt hat, jetzt ist das nicht gern gesehen. Und was die Illegalen angeht, die Grenzbeamten verhaften zwar welche, doch neuerdings gibt es den Befehl von oben, dass die Beamten ihre Patrouillen nach einem festen Plan durchführen sollen, so dass gewisse Fenster entstehen, durch die die Illegalen hindurchkönnen. Es gibt keinen konkreten Befehl, aber wenn du zum Beispiel deinen Vorgesetzten sagst, die rechte Flanke der Grenzzone ist nicht abgedeckt, heißt es, das sei nicht weiter schlimm, und keiner unternimmt etwas.“
Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration geöffnet sind
„Früher hat ein Grenzbeamter einen Illegalen festgenommen und dafür 200 Rubel [knapp 70 Euro – dek] Prämie bekommen, aber wenn ein Grenzbeamter heute trotz allem noch jemanden festnimmt, bekommt er gar nichts mehr. Kollegen, die neulich Gruppen von je 14 und fünf Irakern festgenommen haben, haben gerade mal 20 Rubel bekommen.
Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration jetzt geöffnet sind. Sogar die festgenommenen Illegalen bekommen jetzt nur eine kleine Geldstrafe und werden wieder freigelassen. Früher wurde ein Protokoll erstellt, Anklage erhoben, sie wurden in spezielle Abschiebelager gebracht. Das Ergebnis ist ein starker Beamtenschwund, viele verlängern ihre Verträge nicht.“
Roman (Name geändert) ist Grenzbeamter an der belarussisch-litauischen Grenze in der Oblast Grodno. Auch er bestätigt die Informationen über den Beamtenschwund im Grenzdienst.
Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen
„Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen, sie nur festzunehmen, wenn sie extrem dreist werden, quasi direkt über den Grenzkontrollpunkt marschieren. Normalen Grenzbeamten gefällt das natürlich gar nicht, sie versuchen trotzdem, die Gesetzesbrecher festzunehmen. Dann gibt es einen Stempel, ein Protokoll, eine Geldstrafe und die Illegalen werden mit ihren Sachen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Wobei sie oft nur einen Rucksack dabeihaben oder gar keine Sachen, keine Ahnung, wo sie die lassen.
Übrigens werden statt Grenzbeamten derzeit OSAM (Spezialeinheiten der Grenztruppen) auf Grenzpatrouille geschickt – schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen.“
Belarussische Grenzschützer bei der Arbeit / Symbolbild © gpk.gov.by
Auch Belarussen bemerken an der Grenze Gruppen von Migranten. Anfang Juli posten viele Anwohner der Grenzregion in Telegram-Kanälen, dass sie immer wieder Busse zur Grenze und wieder zurückfahren sehen und dass die Beamten keine Passkontrollen bei den Nichteinheimischen mehr durchführen.
Wir sprechen außerdem mit einem Belarussen, der Ende Juli ins Ausland geflohen ist, um einer politisch motivierten Gefängnisstrafe zu entgehen. Zunächst hat er knapp eine Woche in der Nähe von Lida gewohnt und auf den richtigen Moment gewartet. Er sagt, er hätte von Einheimischen gehört, dass sie oft Kleinbusse mit zugezogenen Vorhängen sehen – ihrer Meinung nach werden darin Migranten transportiert. Unser Interviewpartner hat auch selbst einen solchen Bus gesehen.
Schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen
Unmittelbar hatte er nur beim Grenzübertritt mit Migranten zu tun. Er berichtet, er und seine Begleiter hätten kurz vor der Grenze, unweit der Stelle, an der sie das Land verlassen wollten, ein militärisches Zeltlager mit Grenzbeamten gesehen. „Als würden sie auf jemanden warten, oder sich abseits halten, um nicht zu stören“, sagte er. Deswegen entschieden er und seine Begleiter sich, nicht an dieser Stelle, sondern direkt, wo sie waren, über die Grenze zu gehen. Sie mussten also durch den Sumpf fliehen, überquerten die Grenze und trafen dort auf litauische Grenzbeamte. Eine Viertelstunde später kam auf demselben Weg eine Gruppe von Migranten: knapp zwölf arabisch aussehende Menschen. Sie erklärten den Grenzbeamten, sie wären Studenten der Universität Grodno, wurden verhaftet und in ein Lager gebracht.
Außerdem wissen wir von einem Mann, der Anfang Juli nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte aus Belarus geflohen ist. Er berichtet, ein befreundeter Grenzbeamter hätte ihm zu einem Grenzübertritt in der Oblast Grodno geraten, denn „dort achtet gerade keiner auf die Grenze“. Tatsächlich konnte unser Interviewpartner die Grenze bei Lida problemlos überqueren. Er sagt auch, er habe an dem Grenzabschnitt noch vier arabisch aussehende „Kollegen“ gesehen, die auf der belarussischen Seite ebenfalls nicht aufgehalten worden seien.
Migranten als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten
Alena Tschechowitsch ist Juristin bei Human Constanta, einer öffentlichen Beratungsstelle für Migranten und staatenlose Menschen. Sie kommentiert für Reform.by die Situation aus Sicht des Migrationsrechts. Tschechowitsch ist der Meinung, dass Migranten, die die politische Situation in Belarus nutzen wollen, in einer sehr gefährlichen Lage sind:
„Nach polnischem und litauischem Recht können die Migranten, die in diesen Ländern Asylanträge stellen, nicht abgeschoben werden, bevor über diese Anträge entschieden wurde. Diese Gesetze gelten für alle Asylsuchenden, unabhängig davon, ob sie legal oder illegal ins Land gekommen sind. Wenn die Migranten nicht nachweisen können, dass ihnen im Herkunftsland Gefahr droht, wird ihnen das Asyl verweigert, dann können Polen oder Litauen sie nach ihren jeweiligen internen Verfahren abschieben. In der gegenwärtigen Situation, also angesichts der hohen Zahl von Ankommenden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die litauischen und polnischen Behörden die Anträge auf Asyl und einen Flüchtlingsstatus unbegründet ablehnen.
Zudem hat das litauische Parlament die gestiegene Fluchtbewegung über die belarussische Grenze als hybride Kriegsführung bezeichnet. Das Parlament fordert, die Migranten aus Drittstaaten, die illegal über die litauische Grenze einreisen und keine Papiere haben – ausgenommen sind Frauen mit Kindern, behinderte Menschen und Kinder unter 16 – , als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Wenn die litauische Regierung diesem Gesetzesentwurf zustimmt, könnten sich hunderte Menschen in einer sehr gefährlichen Lage wiederfinden, ohne den ihnen zustehenden Schutz.“
Am 21. Juli wurde der Gesetzesentwurf vom litauischen Präsidenten unterzeichnet.