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Surrealismus à la Lukaschenko

Die Lage in Belarus spitzt sich stetig weiter zu: Mehr als 35.000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste im August 2020 festgenommen, rund 400 politische Gefangene sitzen derzeit in belarussischen Gefängnissen ein. Erst am Dienstag wurden sieben weitere Aktivisten der belarussischen Opposition zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Darunter auch Pawel Sewerinez, Co-Vorsitzender der oppositionellen und nichtregistrierten Christdemokratischen Partei, der für sieben Jahre ins Gefängnis muss.
Für internationales Aufsehen und harsche Kritik sorgte jedoch vor allem die erzwungene Flugzeuglandung einer Ryanair-Maschine in Minsk und die dabei erfolgte Festnahme des ehemaligen Nexta-Chefredakteurs Roman Protassewitsch. Die EU beschloss umgehend Sanktionen, unter anderem ein Landeverbot für belarussische Linien auf EU-Flughäfen. Am Mittwoch hat sich Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko nun erstmals zu den Vorwürfen geäußert. 
In seiner Rede sprach Lukaschenko von einem erneuten Kalten Krieg und warnte, Russland könne das nächste Land sein, gegen das der Westen vorgehe. So diskutieren Experten auch, an wen das Vorgehen Lukaschenkos gerichtet ist: Dient der Fall nur als abschreckendes Beispiel nach innen oder auch als Signal an Russland, dass er, Lukaschenko, Moskau loyalster Verbündeter gegenüber dem Westen sei? Damit würde womöglich auch dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Lukaschenko gewähren zu lassen. 
Gerade angesichts von früheren Spekulationen, Moskau könne Lukaschenko mittelfristig austauschen oder gar die Integration von Belarus weiter vorantreiben, sagte die Politologin Ekaterina Schulmann auf Echo Moskwy, Lukaschenko sei Erstaunliches gelungen: „Einerseits ist er der Henker seines Heimatlandes, andererseits der letzte Garant dessen Unabhängigkeit.“ Ein Treffen von Lukaschenko und Putin ist für den heutigen Freitag in Sotschi anberaumt.
Die Novaya Gazeta bringt Ausschnitte aus der Rede Lukaschenkos – aus der nur Auszüge an die Öffentlichkeit gelangten – und überprüft einzelne seiner Aussagen kritisch.

Источник Novaya Gazeta

Eine Besonderheit von Alexander Lukaschenko ist: Wenn er von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt. Sonst glaubt es keiner, auch nicht die, die in diesem Moment im Zuschauerraum sitzen. Doch er schert sich nicht um die Reaktionen des Publikums, die Meinung der Leute oder die Reputation des Landes. Lukaschenkos Phantasie prescht seinen Worten voraus und malt so bunte Bilder, dass jeder Surrealist vor Neid erblasst. 

Am Mittwoch betrat Lukaschenko den Ovalen Saal des Hauses der Regierung  anlässlich eines Treffens mit Abgeordneten, Mitgliedern der Verfassungskonvents und Vertretern von Regierungsorganen. Schon am Vorabend war klar, dass er nicht über die Aussaat und nicht einmal über den Slawjanski Basar, sondern über das am Sonntag gekaperte Flugzeug sprechen würde. Dass er lügen würde und selbst dran glauben. Und so ist es geschehen.

Wenn Lukaschenko von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt

Das Flugzeug, so heißt es, wurde über dem Atomkraftwerk Belarus umgeleitet, um eine große Katastrophe zu verhindern: „Im Flugraum befindet sich das Kernkraftwerk Belarus. Und in dessen Nähe kam es zur Umleitung des Flugzeugs. Was wäre gewesen, wenn es plötzlich … Reicht uns nicht ein Tschernobyl? Und wie hätten wohl in einer solchen Situation die USA reagiert, angesichts ihrer eigenen traurigen Erfahrung [am 11. September 2001]? Es liegt nicht nur, besser gesagt, es liegt überhaupt nicht an dem Düsenjäger, der absolut regelkonform losgeschickt worden ist. Fakt ist auch, worüber wir nicht reden: Dass auf meinen Befehl hin alle Schutzsysteme des Atomkraftwerks, einschließlich der Flugabwehr, alarmiert und umgehend in höchste Einsatzbereitschaft versetzt wurden.“
Nur ließ man das Flugzeug über Lida umkehren, das Atomkraftwerk befindet sich allerdings in der Nähe von Ostrowez. Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius.
Später sagte Lukaschenko, dass der Flugkapitän sich 15 Minuten lang mit „den Gastgebern“ und mit Mitarbeitern des Flughafens in Vilnius beraten habe. Offenbar hat das Flugzeug in diesen 15 Minuten einfach so in der Luft gestanden und sich nirgendwo hin bewegt – und wartete geduldig auf den Düsenjäger, von dem es dann höflich zum Ort der Landung begleitet wurde.

Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius

Natürlich war ein Terrorist an Bord. Natürlich kam die [Info über die] Bombendrohung aus der Schweiz. Natürlich ist das alles eine Hinterhältigkeit des Westens, der sich an Belarus für die Pandemie rächt. Dort bei denen im Westen haben Menschen am Lockdown gelitten, nun sind sie neidisch auf die Belarussen und hassen die eigenen Regierungen. Und das ist ein Motiv, sich an dem stabilen und wohlhabenden Staat zu rächen: „Offensichtlich ist die westliche Gesellschaft nicht zufrieden damit damit, wie sich der Ausgang aus der Pandemie vollzieht, wie sie vor Corona geschützt wurde, wie die Impfstoffe im Westen verteilt wurden und wie die Impfungen laufen. Kurz gesagt, wie die Menschen aus der Gefahr befreit und in Krankenhäusern behandelt werden. Deshalb ist es für den Westen so wichtig zu zeigen, dass es keine besseren Beispiele gibt – wo man sich um die Menschen, ihre Rechte und ihre Gesundheit besser kümmert als bei ihnen. Und deshalb ist es ihnen so wichtig, davon abzulenken, was in ihren Ländern vor sich geht. Unsere Haltung zu Pandemie – diese Erfahrung ist unbequem für sie. Schließlich müssen sie sich vor ihren Bürgern verantworten, für die Lockdowns und das Einsperren. Belarus, insbesondere wenn es wirtschaftlich voller Leben ist, schmeckt ihnen nicht. Also greifen sie an.“ 

Eiskalter statt Kalter Krieg

Der Angriff, so Lukaschenko, ist brutal. Der Krieg ist nicht mehr kalt, sondern eiskalt. Er könne wohl aber jederzeit zu einem „heißen“ und sogar zu einem Weltkrieg auswachsen: „Wir befinden uns nicht an vorderster Front eines neuen Kalten sondern eines eiskalten Krieges. Und nur ein Staat, der sich dem hybriden Druck nicht beugt, kann dem standhalten. Ich wende mich an die gesamte internationale Gemeinschaft: Belarus zuzusetzen – das macht keinen Sinn! Und bevor Sie irgendwelche überstürzten Schritte machen, denken Sie daran, dass Belarus das Zentrum von Europa ist. Und wenn hier etwas ausbricht, dann wird das ein weiterer Weltkrieg.“ Diesen Krieg werde Belarus laut Lukaschenko nicht gewinnen, sicher sei aber, dass es dem Feind einen „unzumutbaren Schaden“ zufügen werde.

Und genau diese Art von Schaden hat Lukaschenko derweil der einzigen Fluggesellschaft von Belarus zugefügt.
Während er vor den Funktionären sprach, verbrannte ein Belavia-Flugzeug, das auf dem Weg nach Barcelona war, über Kobrin kreisend seinen Treibstoff. Es durfte den polnischen Luftraum nicht passieren und kehrte später nach Minsk zurück. Flugverbindungen nach Großbritannien, Litauen, Tschechien, Finnland, Lettland, der Ukraine und Frankreich sind ausgesetzt. Zypern, Österreich, Polen, Spanien, Lettland, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Ungarn, die Ukraine, Litauen, Großbritannien und Frankreich wollen den belarussischen Luftraum nicht mehr nutzen. Und das ist offenbar erst der Anfang. 

Auf den Krieg bereitet sich Lukaschenko gemeinsam mit seinen engsten Gefährten vor: Premierminister Roman Golowtschenko sagte bei seiner Rede im Ovalen Saal, dass Belarus im Falle neuer Sanktionen als Gegenmaßnahmen ein Importembargo und Transitbeschränkungen einführen wird. Und KGB-Chef Iwan Tertel verkündete, dass die „Hysterie des Westens“ im Zusammenhang stehe mit den Aussagen von Roman Protassewitsch, der natürlich die Namen westlicher Protest-Sponsoren und Auftraggeber von Terroranschlägen preisgegeben habe. Nach diesen Erklärungen – zu Krieg, Embargo, Terroranschlägen und einem Flugzeug mit Sprengstoff über einem Atomkraftwerk – erscheint doch eigentlich nur noch ein Bunker oder ein sofortiger Rausschmiss der gesamten Regierung logisch.  

Doch Lukaschenko schmiedet ernsthaft Pläne. Nicht nur, dass er am 26. Mai mit einem „Weltkrieg“ drohte, ein Treffen mit Putin ankündigte, und Putin und Biden zu einem Treffen in Minsk anstelle von Genf einlud. Er sprach auch vom Verfassungsreferendum, das auf jeden Fall 2022 kommen wird. Lukaschenko glaubt, dass er eine Zukunft hat. Oder genau genommen: Er glaubt daran, sobald er beginnt, darüber zu sprechen.

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Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Dennoch sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern alles andere als harmonisch, was auch an ihren Machthabern liegt. Eine Gnose von Nadja Douglas.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er im Dezember 1999 den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen. Präsident Lukaschenko selbst ist heute mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners gegenüber Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht auf eine prägende historische Erfahrung als unabhängiger Staat zurückgreifen. Sie verfolgte auch keine Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil wurden in der ersten Zeit zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl daraus, persönlich keine Sympathien für Lukaschenko zu hegen und in Belarus keinen ebenbürtigen Partner zu sehen.

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien – Putin stellte ehedem fest, dass die belarusische Wirtschaft in etwa drei Prozent der russischen entsprechen würde.1 Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine kam Belarus ab 2014 wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich in vielerlei Hinsicht für das Land als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Wirtschaftsbeziehungen

Russland ist seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 45 Prozent der belarusischen Exporte (82 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte)2 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in letzten Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von den russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, was für Belarus erhebliche Auswirkungen haben wird. So hofft Belarus weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver.

Belarus ist als Transportland für russische Rohstoffe nach Europa zentral und die Transportrouten kürzer als jene durch die Ukraine. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit im Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Ausgang, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent. 

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern auch immer wieder als politisches Druckmittel Anwendung finden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich die Staatenunion vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus unternahm es Bestrebungen, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidshan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die im September 2021 erneut abgehalten werden soll. Zudem sind derzeit drei gemeinsame militärische Ausbildungszentren in Belarus und Russland geplant.3

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, brachte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders ein Treffen von Lukaschenko und Putin in Sotschi im Februar 2021 verdeutlichte, dass die Abhängigkeit Belarus‘ von Russland trotz aller Emanzipationsversuche sowohl in finanzieller Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die politischen Beziehungen eine neue Dimension erreicht hat. Damit hat der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen, zunichtegemacht. Auch entspricht diese Abhängigkeit nicht den Wünschen der Bevölkerung:

Im Rahmen einer vor kurzem realisierten ZOiS-Umfrage in Belarus4 gab eine Mehrheit an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Union bevorzugen würden (35 Prozent der Befragten). 23 Prozent wünschten sich lediglich eine Handelskooperation. Engere politische und militärische Beziehungen wurden nur noch von rund 12 Prozent der Befragten befürwortet und die Staatenunion von 7 Prozent (siehe Grafik). Dabei korrelierten Vertrauen in Tichanowskaja und die Beteiligung an Protesten mit der unverbindlichsten Beziehung einer Handelskooperation, während hohes Vertrauen in Lukaschenko mit einer Präferenz für eine engere politische Integration zusammengeht. 21 Prozent der Befragten blieben in dieser Frage unentschieden, was auch auf eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern hindeutet.


Die Daten stammen aus einer Umfrage des ZOiS vom Dezember 2020, bei der 2000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren befragt wurden.

Russland forciert in Folge der Wahlfälschung in Belarus und der anschließenden Proteste den Prozess einer Reform der belarusischen Verfassung. Dem Kreml geht es dabei um die „Wahrung der Verfassungskontinuität“5, was eine klare Anspielung darauf ist, dass man vor allem „Verhältnisse wie in der Ukraine“ verhindern möchte. Russland ist nach wie vor auf die Stabilität in Belarus angewiesen und hofft, dass Lukaschenko während einer Transitionsphase die Angelegenheiten im Land weiter zu steuern vermag. Das Land bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Bevölkerung ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland gegenüber nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. Bei den landesweiten Protesten wurde eine klare geopolitische Positionierung vermieden. Doch Moskau muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die organisierte belarusische Opposition, deren führende Köpfe sich größtenteils im Ausland aufhalten, sich – nach mehreren gescheiterten Versuchen der Kontaktaufnahme mit dem Kreml – explizit mit der Bitte um Unterstützung an den Westen gewandt hat. Auch innenpolitisch könnte die Situation in Belarus zu einem Problem in Russland selbst werden. Denn Lewada-Umfragen zufolge ist es zwar keine Mehrheit, aber auch ein nicht geringer Teil der Russen, welcher die Anliegen der Protestierenden in Belarus nachvollziehen kann – ein wesentlicher Unterschied zur Wahrnehmung des Euromaidans in der Ukraine 2013/14.6 Auch die innerrussische Protestbewegung, die seit Monaten gegen die Verhaftung des Gouverneurs der Region Chabarowsk demonstriert oder auch in zahlreichen Städten für die Freilassung Alexej Nawalnys auf die Straße geht, hat sich immer wieder solidarisch mit der Opposition in Belarus gezeigt.7


 

ANMERKUNG DER REDAKTION:


Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 



1.RFE/RL Poland (2002): Belarus and Ukraine Report, Vol. 4 (24) 
2.German Economic Team Belarus: Wirtschaftsausblick Ausgabe 13 
3.RBK: Šojgu dogovorilsja s Minskom sozdat' učebno-boevye centry dlja voennych 
4.Die ZOiS Umfrage wurde im Dezember 2020 unter 2.000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 durchgeführt. Die landesweite Umfrage wurde durch eine Finanzierung des Auswärtigen Amts ermöglicht. Der Text spiegelt die Meinung der Autorin wider. 
5.Socor, Vladimir (2020): Russia Poised to Arbitrate Regime Change in Belarus, in: Eurasia Daily Monitor, Jamestown Foundation, Vol. 17, Issue 124 
6.Levada-Center: Protests in Belarus 
7.RFE/RL (2021): Minsk, Moscow, And Beyond: Belarus Protests Reverberate On Russian Streets 
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