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Bystro #33: Überlebenskunst und Krisenkampf – Wie stabil ist die Wirtschaft in Belarus? 

Auf die Proteste des Jahres 2020 folgte eine schwere politische Krise in Belarus, die bis heute anhält. Das politische System um Machthaber Alexander Lukaschenko hat sich zusehends radikalisiert – ein Prozess, der weiter andauert. Die EU und andere Länder der demokratischen Staatenwelt haben den Eskalationskurs mit bisher fünf Sanktionspaketen bestraft. Erstmals wurden auch Wirtschaftssanktionen verhängt, so unter anderem gegen Belaruskali, einen der weltweit größten Hersteller von Kalidüngern.

Lässt sich aktuell schon etwas über die Effektivität dieser Sanktionen sagen? Befindet sich die belarussische Wirtschaft, der man schon häufiger den baldigen Kollaps vorausgesagt hat, in einer Krise? Welche Rolle spielt Russland für die wirtschaftliche Entwicklung in Belarus? In einem Bystro mit neun Fragen und Antworten widmet sich der Wirtschaftsexperte Robert Kirchner den ökonomischen Rahmenbedingungen in Belarus.

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1. Seit 20 Jahren heißt es immer mal wieder, die belarussische Wirtschaft stünde kurz vor dem Kollaps. Wie sieht es aktuell mit der Wirtschaftslage aus?

Ich glaube, jeder Belarus-Beobachter kennt diese Einschätzungen, die ich jedoch frei nach Mark Twain für „stark übertrieben“ halte. Lassen wir die Daten sprechen: Belarus ist im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gewachsen, was im internationalen Vergleich eher mager ist, da sich viele Länder nach der Corona-Krise 2020 im Erholungsmodus befanden. Allerdings ist Belarus insofern ein Sonderfall, da 2020 kaum Corona-bedingte Einschränkungen implementiert wurden und das Land dadurch weniger stark wirtschaftlich getroffen wurde. Was nun den Ausblick für dieses Jahr angeht, ist die Lage wesentlich unsicherer. Auch aufgrund der westlichen Handels- und Finanzsanktionen ist eine Verlangsamung des Wachstums in diesem Jahr auf etwa 0,5 Prozent wahrscheinlich, ein Durchschnittswert der Prognosen der wichtigsten Institute.
Wenn wir über die aktuelle Lage hinausgehen und uns mal die mittelfristigen Trends anschauen, dann fällt auf, dass Belarus nur noch sehr langsam wächst. Wurden vor der Finanzkrise 2009 teilweise jährliche BIP-Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent erzielt, so hat sich das Bild in den letzten zehn Jahren komplett gedreht, als das Wachstum maximal drei Prozent erreichte. Der negative langfristige Trend ist also sehr ausgeprägt. 

2. Die Inflation lag 2021 bei fast zehn Prozent, die Renten sind leicht gefallen und Lebensmittelpreise gestiegen. Aus Sicht der Menschen ist das schon ein bemerkbares Absinken des Lebensstandards, oder?

Ich denke, dass die hohe Inflation, die aktuell sogar über zehn Prozent liegt, gegenwärtig das wichtigste Problem für die meisten Menschen in Belarus darstellt. Die hohe Inflation ist allerdings nicht nur auf Belarus beschränkt; auch viele andere Länder verzeichnen aktuell eine hohe Inflationsrate. Im Falle von Belarus muss aber darauf verwiesen werden, dass dies trotz der Anwendung von administrativen Maßnahmen der Preiskontrolle bei verschiedenen Gütern geschieht, die tatsächliche Inflation damit wahrscheinlich sogar noch höher liegt. Auch das Wachstum der Realeinkommen und der Löhne hat sich in der vergangenen Zeit deutlich abgeschwächt – in der Summe also eine große wirtschaftliche und soziale Herausforderung für die Bevölkerung. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation kann der Staat hier keine großen Mittel aufwenden, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden.

3. Im vergangenen Jahr haben die EU und die USA erstmals Wirtschaftssanktionen beschlossen. Kann man jetzt schon sagen, ob diese überhaupt einen Effekt auf die belarussische Wirtschaft haben? 

Hier muss man die Lage sehr differenziert betrachten. Auf den ersten Blick haben sich die Exporte in die EU 2021 sehr dynamisch entwickelt – sie sind in US-Dollar um 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen; der Anteil der EU an den gesamten Exporten ist auf 24 Prozent gestiegen. Allerdings war 2020 durch Corona geprägt, und der hohe Anstieg ist vor allem ein Preiseffekt (beispielsweise aufgrund von höheren Energie- und anderen Rohstoffpreisen), die exportierten Mengen haben sich weit weniger stark entwickelt.
Aufgrund der Konstruktion der Wirtschaftssanktionen – es gibt ja Ausnahmen für laufende Verträge und für bestimmte Produkte – ist die Abwesenheit spürbarer Folgen in 2021 jedoch nicht weiter überraschend. Ich gehe davon aus, dass sich die negative Auswirkung der Sanktionen vor allem in 2022 bemerkbar machen wird. Hier wird es aber sicher weitere Nachjustierungen und Anpassungen geben, wie etwa die Unterbindung des Düngemitteltransits durch Litauen Ende Januar 2022 zeigt. Die Unsicherheit bleibt damit hoch, was natürlich die Wirtschaft belastet.   

4. Wo ist die belarussische Wirtschaft eigentlich am verwundbarsten? Oder anders: Wo liegen die strukturellen Hauptprobleme für die Wirtschaft in Belarus? 

Viele große Unternehmen, so etwa in der Industrie, wurden nie privatisiert und sind weiter im staatlichen Besitz. Damit ist Belarus in gewisser Weise ein Sonderfall unter den osteuropäischen Transformationsländern. Denn so fehlt häufig aber auch der Zugang zu Kapital und Know-How, welches beispielsweise von ausländischen Investoren bereitgestellt werden kann. Dies zeigt sich dann in einer niedrigeren Produktivität. Auch der Bankensektor ist durch staatliche Banken dominiert. Das hat zur Folge, dass Kredite häufig nicht nach marktwirtschaftlichen Überlegungen vergeben, sondern staatlich in die gewünschten Bereiche gelenkt werden. Insgesamt ist der Reformbedarf im strukturellen Bereich damit unverändert hoch; es gab in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte bei der Entwicklung des Privatsektors, wie etwa im IT-Sektor, was kleinen und mittleren Unternehmen zu Gute gekommen ist Aber die weitere Entwicklung ist nun sehr unsicher.

5. Gerade der IT-Bereich hat über Jahre einen enormen wirtschaftlichen Beitrag geleistet. Allerdings war auch die IT-Branche von Repressionen betroffen, viele Unternehmen haben das Land verlassen. Wie ist der aktuelle Stand?

Hier besteht weiterhin ein Widerspruch zwischen den offiziellen Wirtschaftsstatistiken und der aktuellen Stimmung beziehungsweise der Wahrnehmung der Lage der Branche. Ich hatte ja bereits auf das BIP-Wachstum im letzten Jahr hingewiesen – der wichtigste Treiber von der Angebotsseite war der IKT-Sektor, der um 9,2 Prozent expandiert ist! In 2021 trug der Sektor damit insgesamt 7,4 Prozent zum BIP bei, nach 7,3 Prozent in 2020 und 6,3 Prozent in 2019. Hier sieht man sehr gut die dynamische Entwicklung dieses primär privaten Sektors, auch wenn sich das starke Wachstum der Vergangenheit etwas abgekühlt hat. Wie sich das weiterentwickeln wird, ist schwer zu prognostizieren. Natürlich sind solche Tätigkeiten sehr mobil und prinzipiell leicht verlegbar. Auch beim steuerlichen und regulatorischen Rahmen ziehen andere Länder nach; die Ukraine hat gerade ihr Diia City-Projekt gestartet. Es bleibt also sehr unsicher, wie sich der Sektor unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen weiter entwickeln wird.  

6. Die russische Abhängigkeit ist Fluch und Segen für die Machthaber. Lässt sich die Aussage treffen, dass die belarussische Wirtschaft ohne Russland vor dem Kollaps stünde? 

Ich würde nicht den Begriff Kollaps verwenden. Aber die permanente und vielfältige ökonomische und finanzielle Unterstützung durch Russland mit Hilfe von zinsgünstigen und langfristigen Krediten, durch den vergünstigten Bezug von Energieträgern wie Öl und Gas ist sicherlich ein zentraler Faktor für Wirtschaft und Politik in Belarus. Ohne diese Unterstützung würde das aktuelle Wirtschaftsmodell sicher ganz anders aussehen, auch wenn es spekulativ bleibt, in welche Richtung es sich entwickeln würde.

7. China hat in den vergangenen 15 Jahren immens in Belarus investiert. Welche Rolle spielt die Volksrepublik für die belarussische Wirtschaft?

Der wirtschaftliche Einfluss Chinas ist in der Tat langfristig gewachsen. Allerdings sollte hervorgehoben werden, dass für China insbesondere Belarus‘ Lage an der EU-Außengrenze von Interesse ist, und diese Transitfunktion eine wichtige Rolle spielt. So gehen etwa 80 Prozent des China-EU Transits durch Belarus. Investitionsprojekte außerhalb dieser sogenannten Belt and Road Initiative gibt es kaum, da auch die finanziellen Konditionen nicht besonders vorteilhaft waren. Wegen der aktuellen Spannungen beziehungsweise Sanktionen von Seiten der EU ist diese Funktion teilweise bedroht. In einem solchen Szenario der Unsicherheit würde ich erwarten, dass China zunächst abwartet und beobachtet, wie sich die Lage weiterentwickelt. Hierzu passt, dass wir in den letzten Jahren auch von keinen großen neuen Projekten mehr gehört haben, was sicherlich aber auch an der Pandemie lag. 

8. Auch die Ukraine hat sich den Sanktionen gegen Lukaschenko angeschlossen. Welche Folgen hat dies für die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder?

Sowohl für Belarus als auch für die Ukraine sind die bilateralen Handelsbeziehungen sehr wichtig, was vor dem Hintergrund der geographischen Lage und des gemeinsamen sowjetischen Erbes nicht überrascht. Für die Ukraine spielt Belarus insbesondere bei der Versorgung mit Ölprodukten eine strategisch wichtige Rolle. Daher hat sich die Ukraine auch nicht komplett den westlichen Sanktionen angeschlossen, sondern nur selektiv (wie etwa bei den Luftfahrtsanktionen). Der Warenaustausch zwischen beiden Ländern betrug 2021 sechs Milliarden US-Dollar, 2020 waren es aufgrund der Pandemie nur vier Milliarden US-Dollar.
Was nun die weitere Entwicklung der Russland-Ukraine-Krise angeht – im Falle einer militärischen Eskalation würden die wirtschaftlichen Effekte sicherlich sehr negativ sein. Neben den Auswirkungen auf die direkten Wirtschaftsbeziehungen müsste hier natürlich noch Russland einbezogen werden, welches für Belarus der Hauptpartner ist. Hier würden mögliche Sanktionen des Westens gegenüber Russland (beziehungsweise eventuell auch gegen Belarus) als Reaktion auf die Eskalation die Lage weiter verschärfen. 

9. Eine weitere Öffnung der Wirtschaft wird es in der aktuellen politischen Lage sicher nicht geben. Was muss Lukaschenko 2022 gelingen, damit die Wirtschaft stabil bleibt und die Unzufriedenheit der Menschen nicht weiter wächst? 

In der Tat ist das eine große Herausforderung, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Russland-Ukraine-Krise. Ich denke, der unmittelbare Fokus wird weiter auf der Bewahrung der makroökonomischen und finanziellen Stabilität liegen, so wie auch in den vergangenen beiden Jahren. Hierdurch sollen schockartige Krisenepisoden vermieden werden, wie beispielsweise eine massive Abwertung des belarussischen Rubels, ein weiterer Anstieg der Inflation oder Abzüge von Einlagen bei den Banken. Die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung durch Russland wird in einem solchen Szenario weiter eine zentrale Komponente bilden. Gleichzeitig ist klar, dass in einem solchen Kontext keine neuen Impulse für beschleunigtes Wachstum erfolgen werden. Wir werden es also mittelfristig mit einem sehr niedrigen Wachstum zu tun haben, was sich negativ auf die Schere zwischen der Einkommensentwicklung von Belarus und östlicher EU-Staaten wie Polen auswirken wird.  

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Robert Kirchner
Veröffentlicht am: 22. Februar 2022

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Der belarussische Sonderweg

Auch nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit hält die Republik Belarus überwiegend an planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung fest. Marktwirtschaftliche Elemente halten nur schrittweise Einzug, ein großer Teil der Arbeitnehmer ist in staatseigenen Betrieben angestellt und die autoritäre Regierung ist nach wie vor der größte Investor des Landes. Doch obwohl das System von Krediten abhängig ist und die Betriebe teilweise massiv veraltet und nicht konkurrenzfähig sind, ist die belarussische Wirtschaft eine zentrale Stütze von Präsident Alexander Lukaschenko – der ökonomische Sonderweg ermöglicht also den politischen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahmen die meisten osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren Wirtschaftsreformen, die sich mit der Abschaffung der staatlichen Preis- und Mengenplanung am marktwirtschaftlichen Modell orientierten.1 Die Folge waren zunächst starke Einbrüche in Produktion und Beschäftigung. Im Unterschied dazu wandte sich die in Belarus im Amt verbliebene sowjetische Partei- und Wirtschaftsnomenklatura gegen eine „Schocktherapie“ und wählte einen schrittweisen, graduellen Transformationsweg, wodurch Produktionskapazitäten, Lieferverbindungen und Arbeitsplätze möglichst bewahrt werden sollten. Diesen Sonderweg hatte seit 1990 Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch eingeschlagen, der Gorbatschows Perestroika-Politik ablehnte. Seinen Kurs setzte Alexander Lukaschenko fort, dem es 1996 gelungen war, die auf demokratische und marktwirtschaftliche Reformen dringenden Kräfte endgültig auszuschalten.2

Die großen Staatsbetriebe, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten auf sich vereinen, werden in Belarus bis heute von staatlichen Behörden kontrolliert und gelenkt.3 Sie haben Entlassungen zu vermeiden und die Löhne regelmäßig zu erhöhen. Das ihnen vorgegebene Geschäftsmodell setzt auf große Produktionsmengen. Vorprodukte müssen sie von ihnen zugewiesenen Lieferanten beziehen, bei denen es sich vorwiegend ebenfalls um Staatsbetriebe handelt. Dies gilt auch für die rund 1500 landwirtschaftlichen Großunternehmen, in denen Getreide angebaut und Viehzucht betrieben wird.4

Quellen5

Die wegen ihres nicht mehr zeitgemäßen Produktsortiments und des hohen Personalbestands überwiegend unrentablen Staatsbetriebe – Ausnahmen sind die Lieferanten von Erdölprodukten und Kalidünger – erhalten verbilligte Kredite von staatlichen und privaten Banken, für deren Kapitalausstattung wiederum der Staat sorgt. Doch nicht nur Betriebe, die sich vollständig in Staatsbesitz befinden, sondern auch halbstaatliche und rein private Unternehmen mussten bis 2007 staatlichen Stellen Bericht erstatten. Sie alle hatten staatliche Entwicklungspläne hinsichtlich Produktionsvolumen, Exporten und Lohnsteigerungen zu erfüllen.

2007: Teilweise Deregulierung der Wirtschaft

Erst als sich die Wirtschaftslage zunehmend verschlechterte, entschloss sich die Staatsführung 2007 zu einer schrittweisen Deregulierung von Teilen der Wirtschaft.6 Staatlich festgesetzte Preise wurden jetzt nur noch für Produkte aufrechterhalten, die der Staat als sozial wichtig einstufte, etwa Lebensmittel oder Medikamente. Die Registrierung neuer Unternehmen wurde vereinfacht, die Berichtspflicht für private und halbstaatliche Unternehmen abgeschafft. Die staatseigenen Großbetriebe der verarbeitenden Industrie erhalten jedoch weiter formelle staatliche Anweisungen. Auch werden bis heute Privatbetriebe – ausgenommen ist die vom Regime umworbene IT-Branche – mit Hilfe von administrativem Druck, oktroyierten Vereinbarungen und informellen Absprachen gelenkt.

Zur angespannten Wirtschaftssituation des Jahres 2007 hatte auch der russisch-belarussische Energiestreit beigetragen. Hatte Russland Belarus bis dahin Erdgas weit unter Weltmarktpreisen verkauft und das Land somit stark subventioniert, drängte Gazprom nun auf eine Verdreifachung des Gaspreises. Auch sollte ein Zoll auf Öleinfuhren nach Belarus erhoben werden. In den folgenden Verhandlungen wurde jedoch der Zwiespalt deutlich, in dem sich der Kreml gegenüber der belarussischen Führung befand: Einerseits wollte Russland seine Wirtschaftsbeziehungen zum „Nahen Ausland“ marktwirtschaftlich gestalten und somit deren Subventionierung abschaffen, andererseits wollte es die Hinwendung dieser Länder zum Westen aus militärischen und politischen Gründen nicht tolerieren. Lukaschenko verstand es damals wie auch später, diese Zwangslage für seinen Machterhalt auszunutzen. Der Gaspreis wurde lediglich verdoppelt, wodurch die Subventionen zwar reduziert, aber nicht beendet wurden, und auch in Bezug auf den Ölzoll konnte ein Kompromiss mit Moskau erzielt werden.

Ergebnisse des wirtschaftlichen Sonderwegs

Obwohl die politische Führung insbesondere bei der Privatisierung der Staatsbetriebe und bis Mitte der 2000er Jahre auch bei der Preisliberalisierung eine andere Wirtschaftspolitik betrieb als Russland, folgte die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung in Belarus in den vergangenen 30 Jahren weitgehend derjenigen seines östlichen Nachbarn. Zwischen 1991 und 1995 verzeichnete Belarus wie nahezu alle Staaten des postsowjetischen Raums einen starken Produktionseinbruch. Allerdings gelang in Belarus, früher als in Russland, zwischen 1996 und 2000 eine deutliche Erholung mit durchschnittlichen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts von sieben Prozent pro Jahr. Zwischen 2000 und 2008 erlebte Belarus dann – parallel zu Russland – ein stürmisches Wirtschaftswachstum und ab 2011 ebenfalls im Gleichschritt mit Russland nahezu eine Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

Als sich im Jahr 2007/2008 eine weltweite Finanzkrise abzuzeichnen begann, setzte die Regierung auf die Erhöhung der Investitionen in Maschinen und Gebäude. So wurde der Anteil der Investitionen zwischen 2007 und 2014 auf über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert. Doch diese Maßnahmen konnten den Rückgang der Wachstumsraten nicht verhindern. Bezahlt wurde das Manöver durch niedrig verzinste Kredite inländischer Banken sowie durch Kreditaufnahme im Ausland, was zu einer erheblichen Steigerung der Außenverschuldung führte. Die Kredite kamen vor allem aus Russland, der Eurasischen Wirtschaftsunion und China. Auch niedrige Preise für Energielieferungen aus Russland sowie der Verkauf der Gastransitleitungen an Russland fingen die Finanznöte des Landes auf; allein der Preisnachlass auf Öl- und Gasimporte aus Russland summierte sich zwischen 2001 und 2016 auf etwa 100 Milliarden US-Dollar.

Doch der Staatskapitalismus führte das Land in eine institutionelle Falle, weil er die überkommene Wirtschaftsstruktur konservierte. Die Orientierung an der Erfüllung zentraler Anweisungen und die Stärkung der Kontroll- und Strafverfolgungsbefugnisse der staatlichen Verwaltung schränkten die wirtschaftliche Flexibilität ein. Die Folge war eine Vergrößerung des Rückstands gegenüber Ländern mit funktionierenden Marktmechanismen, die sich schneller an die Herausforderungen und Realitäten der globalen Wirtschaft anpassen konnten.7



*Polen: 2018
**Je höher der Index, desto geringer ist die wahrgenommene Korruption
Quellen8

Sonderweg: Das Herrschaftssystem

In Belarus existiert wie in Russland und in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken ein neopatrimoniales politisches System, was bedeutet, dass Herrschaft durch eine Kombination von persönlicher Macht und bürokratischer Regelung ausgeübt wird.Der oberste Patron – hier Lukaschenko – steht an der Spitze einer Pyramide von Netzwerken, die von untergeordneten Patronen kontrolliert werden.10 Die Machtelite schöpft ökonomische Renten vorzugsweise aus dem Rohstoff- und Energiegeschäft ab. Das patrimoniale Herrschaftsmodell in Belarus beruht aber anders als jenes in Russland nicht auf einem Arrangement des obersten Patrons mit Oligarchen, noch wie jenes in Zentralasien auf informellen Abkommen zwischen der Staatsführung und regionalen Clanstrukturen. Lukaschenko bedient sich vielmehr einer Schicht hoher Funktionäre, die er in Behörden und Betrieben eingesetzt hat und nach Belieben austauscht.

Korruption wird in Belarus weniger geduldet als in anderen neopatrimonialen Herrschaftssystemen des postsowjetischen Raums. Häufige Antikorruptionsprozesse dienen der Kontrolle der Eliten. Wenn hochrangige Funktionäre entlassen werden, kann Lukaschenko sich als Kämpfer für den Volkswillen und gegen die „habgierige Elite“ profilieren. Jedoch werden die in Ungnade gefallenen Akteure später oft auf andere gutbezahlte Posten versetzt.11

Lukaschenko muss keine Rücksicht auf Interessengruppen nehmen und kann politische und wirtschaftliche Entscheidungen unter dem alleinigen Gesichtspunkt des Machterhalts treffen.12 Dank dieser Methode ist der im internationalen Vergleich extrem große Sektor der Staatsbetriebe neben dem Sicherheitsapparat sein wichtigstes Herrschaftsinstrument. Gerade in der Provinz kann über Staatsbetriebe besonders effektiv politische Kontrolle ausgeübt werden, da sie dort mitunter die einzigen Arbeitgeber sind. Auch aus diesem Grund sind keine tiefgreifenden Reformen der belarussischen Wirtschaft zu erwarten, solange Lukaschenko an der Macht ist.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen
Osteuropa, Heft 10-11, 2020, insbesondere mit den Beiträgen von Astrid Sahm, Petra Stykow, Fabian Burkhardt/Maryia Rohava, Valerij Karbalevič und Roland Götz.

1.Dieser Text beruht in Teilen auf Götz, Roland (2020): Staatskapitalismus à la Belarus: Sonderweg, Umweg oder Sackgasse, in: Osteuropa, 10-11, 2020, S. 35–60 
2.Timmermann, Heinz (1997): Belarus: eine Diktatur im Herzen Europas?, in: Berichte des BIOst, 10/1997, Köln, S. 17–21 
3.International Monetary Fund: IMF Country report 17/384, Washington D.C. 2017, S. 33 ff.. Unter Staatsbetrieben werden hier Betriebe verstanden, die entweder vollständig oder mehrheitlich in Staatseigentum stehen. Die amtliche belarussische Statistik zählt dagegen Beschäftigte in Betrieben, an denen Privatpersonen oder private Firmen Anteile halten, als Beschäftigte im privaten Sektor, und nennt daher nur einen Anteil der staatlich Beschäftigten von 39 %, siehe das Statistische Jahrbuch zu Arbeit und Beschäftigung in Belarus, Minsk 2020, S. 61. Ebenso verfährt die amtliche Statistik beim Ausweis der industriellen Produktion. Sie rechnet nur 13 % der staatlichen Industrie zu, nicht jedoch die Produktion in Industriebetrieben, die auch private Anteilseigner haben. Addiert man beide Werte, so erhält man einen staatlichen Anteil von 66 % an der Industrieproduktion, siehe das Statistische Jahrbuch der Republik Belarus, Minsk 2020, S. 240 
4.Takun, Anatoli (2018): Agricultural sector in Belarus 
5.Quelle: Wikipedia; für Zahlen für 2019 vgl. Zautra.by 
6.Lindner, Rainer (2007): Blockaden der „Freundschaft“: Der Russland-Belarus-Konflikt als Zeitenwende im postsowjetischen Raum, in: SWP-Aktuell 3/2007, Berlin 
7.Havrylyshyn, Oleh (2007): Fifteen Years of Transformation in the Post-Communist World: Rapid Reformers Outperformed Gradualists, Washington D.C. 
8.The World Bank: Indicators; Belstat: Vybrosy parnikovych gazovUmweltbundesamt; Transparency International: Corruption perceptions index 
9.Der Regimetyp des Neopatrimonialismus wurde, ausgehend von Max Webers Unterscheidung von patrimonialer und bürokratischer Herrschaft, 1973 von Shmuel Eisenstadt eingeführt und zunächst zur Charakterisierung lateinamerikanischer und afrikanischer Regime verwendet. Neopatrimoniale Strukturen im postsowjetischen Raum erläutert Hale, Henry (2015): Patronal Politics: Eurasian regime dynamics in comparitive perspective, New York, S. 95 ff. 
10.Leukavets, Alla (2016): Machtgruppen in der belarussischen Politik, in: Belarus-Analysen 29, 20.12.2016, S. 2–5 
11.ebd. 
12.Frear, Matthew (2018): Belarus under Lukashenka: Adaptive Authoritarianism, London/New York, insbesondere S. 49–62 
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